In immer beſchleunigterer Bewegung folgen einander nun die Ereigniſſe. Aber nur noch kriegeriſche Ereigniſſe. Alles Andere iſt aufgehoben. Rings um uns wird nichts Anderes mehr gedacht als „mort aux Prussiens“. Ein Sturm des wilden Haſſes ſammelt ſich an; noch iſt er nicht losgebrochen, aber man hört ihn rauſchen. In allen offiziellen Kundgebungen, in allem Gaſſenlärm, in allen öffentlichen Vorkehrungen — immer nur das eine Ziel: „mort aux Prussiens“. All’ dieſe Truppen, regelmäßige und unregelmäßige, dieſe Munitionen, dieſe nach den Befeſtigungen drängenden Arbeiter mit ihren Werkzeugen und Karren, dieſe Waffentransporte: alles was man ſieht und was man hört, das deutet in Formen und in Tönen, das blitzt und poltert, das funkelt und toſt „mort aux Prussiens!“ — Oder mit anderen Worten — dann klingt es freilich wie ein Ruf der Liebe und durchglüht auch weiche Herzen — „pour la patrie!“ — aber es iſt dennoch dasſelbe.
Ich fragte Friedrich:
„Du biſt doch preußiſcher Abſtammung — wie berühren Dich dieſe von allen Seiten laut werdenden feindlichen Geſinnungen?“
„Dieſelbe Frage haſt Du ſchon im Jahre 1866 an mich gerichtet — und damals antwortete ich Dir — wie auch heute — daß ich unter dieſen Haſſesäußerungen nicht als Landesangehöriger, ſondern als Menſch leide. Faſſe ich die Geſinnungen der Leute hier vom nationalen Standpunkt auf, ſo kann ich ihnen nur recht geben; ſie nennen es la haine sacrèe de l’ennemi — und dieſe Regung bildet einen wichtigen Beſtandteil des kriegeriſchen Patriotismus. In dieſem einen Gedanken gehen ſie nun auf: ihr Land von dem feindlichen Einfall wieder zu befreien. Daß ſie die Einfallenden durch ihre Kriegserklärung gerufen — das vergeſſen ſie. Sie haben es ja auch nicht ſelber gethan, ſondern ihre Regierung, welcher ſie aufs Wort geglaubt, daß ſie es thun mußte, und jetzt verlieren ſie keine Zeit mit Vorwürfen, mit Erwägungen, wer das Unglück heraufbeſchworen; es iſt nun einmal da und alle Kraft, alle Begeiſterung wird darauf verwendet, es wieder abzuwenden, oder mit ſorgloſem Opfermut vereint zu Grunde zu gehen. Glaube mir, es liegt viel edle Liebesfähigkeit in uns Menſchenkindern, ſchade nur, daß wir ſie in den alten Feindſchaftsgeleiſen vergeuden … Und drüben, die Gehaßten, die einfallenden, die „rothaarigen, öſtlichen Barbaren“ — was thun die? Sie ſind herausgefordert worden und ſie dringen in das Land derjenigen ein, welche das ihre zu überfallen drohten: „à Berlin, à Berlin!“ Erinnerſt Du Dich noch, wie dieſer Ruf die ganze Stadt durchſchallte, ſogar von den Dächern der Omnibusſe herab?“
„Nun marſchieren jene „nach Paris!“ Warum rechnen ihnen das die „à Berlin“-Rufer als Verbrechen an?“
„Weil es keine Logik und keine Gerechtigkeit geben kann in jenem Nationalgefühl, deſſen oberſter Grundſatz der iſt: Wir ſind wir — das heißt die erſten, die anderen ſind Barbaren. Und jener Vormarſch der Deutſchen von Sieg zu Sieg flößt mir Bewunderung ein. Ich bin doch auch Soldat geweſen und weiß, was an dem Begriffe Sieg für ein Zauber haftet, welcher Stolz, welcher Jubel da hineingelegt wird. Iſt es doch das Ziel, der Lohn für alle gebrachten Opfer, für den Verzicht auf Ruhe und Glück, für das eingeſetzte Leben.“
„Warum bewundern aber die überwundenen Gegner, die ja doch auch Soldaten ſind und wiſſen, welcher Ruhm den Sieg begleitet, warum bewundern die ihre Überwinder nicht? Warum heißt es niemals in einem Schlachtbericht der verlierenden Partei: Der Feind hat einen glorreichen Sieg errungen!?“
„Weil — ich wiederhole es — der Kriegsgeiſt und der patriotiſche Egoismus die Verneinung aller Gerechtigkeit iſt.“
So kam es — ich ſehe es aus allen unſeren in den roten Heften eingetragenen Geſprächen aus jenen Tagen —, daß wir an gar nichts anderes dachten, denken konnten, als an den Verlauf des gegenwärtigen Völkerduells.
Unſer Glück, unſer armes Glück — wir hatten es, aber wir durften es nicht genießen. Ja, alles beſaßen wir, was uns einen lieblichen Himmel auf Erden ſchaffen konnte: grenzenloſe Liebe, Reichtum, Rang, den herrlich ſich entwickelnden Knaben Rudolf, unſer Herzenspüppchen Sylvia, Unabhängigkeit, reges Intereſſe an der Welt des Geiſtes … aber das alles war wie hinter einen Vorhang geſtellt. Wie durften, wie konnten wir an unſeren Freuden uns laben, während um uns alles litt und zitterte, ſchrie und tobte? Das iſt, als wollte man es ſich recht gütlich thun an Bord eines ſturmgepeitſchten Schiffes.
„Ein theatraliſcher Menſch, dieſer Trochu,“ berichtete mir Friedrich eines Tages — es war am 25. Auguſt — „Was wurde heute für ein Effekt-Coup ausgeführt? Darauf verfällſt Du nimmer.“
„Die Frauen zum Militärdienſt einberufen?“ riet ich.
„Um Frauen handelt es ſich wohl, aber ſie ſind nicht einberufen — im Gegenteil.“
„Alſo die Marketenderinnen abgeſchafft — oder die barmherzigen Schweſtern?“
„Noch immer nicht erraten. Abſchaffung iſt zwar dabei — und Marketenderinnen, inſofern ſie den Becher der Luſt reichen, und barmherzig — in gewiſſem Sinn — ſind die Abgeſchafften auch; kurz — ohne weitere Charade: die Demimonde wird ausgewieſen.“
„Und das hat der Kriegsminiſter verfügt? Welcher Zuſammenhang?“ —
„Ich finde auch keinen, aber die Leute ſind über die Maßregel entzückt. Einmal ſind ſie immer froh, wenn etwas geſchieht: von jeder neuen Verordnung erwarten ſie eine Wendung, wie manche Kranke, die jedes angewandte Mittel als mögliches Heilmittel begrüßen. Wenn das Laſter aus der Stadt getrieben iſt — meinen die Frommen — wer weiß, ob dann der offenbar erzürnte Himmel nicht wieder ſeine Huld über die Bewohner ergießt? Und jetzt, da man ſich auf die ernſte, entbehrungsvolle Zeit der Belagerung vorbereitet, was ſollen da die tollen, verſchwenderiſchen Hetären? So erſcheint den meiſten — die Betroffenen ausgenommen — die Maßregel als eine würdevolle, moraliſche und nebſtbei noch eine patriotiſche, da eine große Anzahl dieſer Frauen Fremde ſind. Engländerinnen, Südländerinnen, ja ſogar Deutſche — vielleicht Spioninnen darunter! „Nein, nein, jetzt hat die Stadt nur Platz für ihre eigenen Kinder und nur für ihre tugendhaften Kinder!“
Am 28. Auguſt kam es noch ſchlimmer. Wieder eine Ausweiſung: binnen drei Tagen hatten alle Deutſche Paris zu verlaſſen.
Das Gift, das tötliche, langwirkende, welches in dieſer Maßregel lag, davon hatten die Rezeptſchreiber wohl keine Ahnung: damit war der Deutſchenhaß geweckt. Wie lange dieſes Unglück noch über den Krieg hinaus furchtbare Früchte tragen ſollte — das weiß ich heute. Von da ab waren Frankreich und Deutſchland — dieſe zwei großen, blühenden, herrlichen Länder nicht mehr zwei Nationen, deren Heere einen ritterlichen Zweikampf ausfochten: in das ganze Volk drang der Haß für das ganze gegneriſche Volk. Die Feindſchaft ward zu einer Inſtitution erhoben, die ſich nicht auf die Dauer des Krieges beſchränkt, ſondern als „Erbfeindſchaft“ ihren Beſtand unter kommenden Geſchlechtern ſichert.
Ausgewieſen — binnen drei Tagen die Stadt verlaſſen müſſen —: ich hatte Gelegenheit zu ſehen, wie hart, wie unmenſchlich hart dieſer Befehl manche brave, harmloſe Familie traf. Unter den Geſchäftsleuten, welche uns zu der Ausſtattung unſeres Heims Waren lieferten, befanden ſich mehrere Deutſche: ein Wagenfabrikant, ein Tapezierer und ein Kunſttiſchler. Seit zehn bis zwanzig Jahren in Paris niedergelaſſen, wo ſie einen häuslichen Herd gegründet, wo ſie ſich durch Heirat mit Pariſern verſchwägert hatten, wo ſie alle ihre geſchäftlichen Verbindungen beſaßen — und jetzt mußten ſie fort, binnen drei Tagen fort, ihr Haus verſchließen; alles verlaſſen, was ihnen lieb und gewohnt war; ihr Vermögen, ihre Kundſchaft, ihren Erwerb einbüßen — — Beſtürzt kamen die armen Wichte zu uns gerannt und teilten uns das Unglück mit, das ſie betroffen; auch die Arbeit, die ſie eben für uns zu liefern im Begriffe waren, mußte eingeſtellt, die Werkſtätte geſchloſſen werden. Händeringend und mit Thränen in den Augen klagten ſie uns ihr Leid: „Ich habe einen kranken alten Vater,“ ſagte der Eine, „und meine Frau ſieht täglich ihrer Niederkunft entgegen und in drei Tagen müſſen wir fort? — „Ich habe keinen Sou im Hauſe,“ jammerte der Andere, „alle meine Kunden, die mir Geld ſchulden, werden nicht ſo ſchnell ihre Verpflichtungen einhalten, und ich ſelbſt kann nun meine Arbeiter, welche Franzoſen ſind, nicht auszahlen — noch acht Tage und ich hätte eine große Beſtellung erledigt, die mich zum wohlhabenden Mann gemacht hätte — und jetzt muß ich alles im Stiche laſſen …“
Und warum, warum war Alles das über die Armen hereingebrochen? Weil ſie einer Nation angehörten, deren Heer erfolgreich ſeine Pflicht that, oder weil — um in die Urſachenkette weiter zurückzugreifen — weil ein Hohenzollern vielleicht in Zukunft einen angetragenen ſpaniſchen Thron anzunehmen ſich einfallen laſſen könnte … Nein, auch dieſes „weil“ iſt nicht bei der letzten Urſache angelangt, dasſelbe deckt nur den Vorwand, nicht die Urſache zu jenem Kriege. —
Sedan! „Kaiſer Napoleon hat ſeinen Degen übergeben.“
Die Nachricht überwältigte uns. Da war denn richtig eine große, geſchichtliche Kataſtrophe eingetreten. Die franzöſiſche Armee geſchlagen — ihr Führer ſchwach und matt, ſo war die Partie denn aus — von Deutſchland glänzend gewonnen. „Aus, aus!“ jubelte ich; „gäbe es ſchon Leute, die das Recht hätten, ſich Weltbürger zu nennen, die könnten heute ihre Fenſter beleuchten; gäbe es ſchon Tempel der Humanität, aus dieſem Anlaß müßten Tedeums geſungen werden — die Schlächterei iſt aus!“
„Frohlocke nicht zu früh, mein Schatz,“ mahnte Friedrich. „Dieſer Krieg hat ſchon lange nicht mehr den Charakter einer auf dem Brette der Schlachtfelder gekämpften Partie — die ganze Nation kämpft mit. Für eine vernichtete Armee werden zehn neue aus dem Boden geſtampft.“
„Wäre denn das gerecht? Es ſind doch nur deutſche Soldaten ins Land gedrungen, nicht das deutſche Volk — alſo kann man ihnen nur wieder franzöſiſche Soldaten gegenüberſtellen.“
„Daß Du immer wieder an Gerechtigkeit und Vernunft appellierſt — Du Unvernünftige — einem Raſenden gegenüber. Frankreich raſt vor Schmerz und Zorn, und vom Standpunkt der Vaterlandsliebe iſt ſein Schmerz heilig, ſein Zorn gerechtfertigt. Was ſie nun auch verzweifeltes thun — perſönliche Ichſucht iſt nicht dabei, ſondern höchſter Opfermut. Wenn nur die Zeit ſchon da wäre, wo die Tugendkraft, die dem Menſchenverbande innewohnt, von der Vernichtungsarbeit ab- und der Beglückungsarbeit zugewendet würde! Aber dieſer unſelige Krieg hat uns von dieſem Ziele wieder ein gutes Stück zurückgeſchleudert.“
„Nein, nein — ich hoffe, der Krieg iſt jetzt zu Ende.“
„Wenn auch (was ich übrigens bezweifle), es ſind die Saaten zu künftigen Kriegen geſtreut — und wäre es nur die Haſſesſaat, welche die Ausweiſung der Deutſchen enthält. So etwas wirkt weit über das lebende Geſchlecht hinaus.“
Der 4. September. Wieder ein Gewaltakt, ein Leidenſchaftſausbruch — und zugleich wieder ein Heilmittel zur Rettung des Vaterlandes: der Kaiſer wird abgeſetzt. Frankreich erklärt ſich als Republik. Was Napoleon Ⅲ. und ſeine Armee gethan: es gilt nicht. Fehltritte, Verrat, Feigheit — das Alles haben einige Perſonen — der Kaiſer und ſeine Generäle — verbrochen; das hat nicht Frankreich gethan, dafür iſt es nicht verantwortlich. Indem der Thron geſtürzt ward, hat man die Blätter, worauf Metz und Sedan verzeichnet ſtehen, einfach aus dem Buche von Frankreichs Geſchichte herausgeriſſen. Jetzt erſt wird das Land ſelber Krieg führen, wenn anders Deutſchland es wagt, die verruchte Invaſion fortzuſetzen …
„Wie aber, wenn Napoleon geſiegt hätte?“ fragte ich, als mir Friedrich obige Mitteilungen gemacht.
„Dann hätten ſie ſeinen Sieg und ſeinen Ruhm als des Landes Sieg und Ruhm aufgefaßt.“
„Iſt das gerecht?“
„Kannſt Du Dir dieſe Frage denn nicht abgewöhnen?“
Meine Hoffnung, daß die Kataſtrophe von Sedan den Feldzug zu ſeinem Ende gebracht, mußte ich bald ſchwinden ſehen. Alles um uns geberdete ſich kriegeriſcher als je. Die Luft war mit wildem Groll und heißer Rachgier geladen. Groll gegen den Feind und beinahe ebenſo gegen die geſtürzte Dynaſtie. Die Schmähreden, die Pamphlete, die jetzt auf Kaiſer und Kaiſerin und auf die unglücklichen Feldherren regneten, die Verdächtigungen und Verleumdungen, der Schimpf, der Spott —: es war ekelerregend. Damit glaubte die rohe Menge die ganze Niederlage vom Lande auf ein paar Menſchen abzuwälzen; und nun dieſe Menſchen zu Boden lagen, bewarf man ſie mit Kot und Steinen — und jetzt erſt würde das Land es zeigen, daß es unüberwindlich ſei.
Die Vorbereitungen zur Verſchanzung von Paris werden eifrig fortgeſetzt. Die Gebäude in dem Gefechtsbereich der Haupt-Enceinte werden geräumt oder gar eingeriſſen. Die Umgebung wird zur Einöde. Truppen von Menſchen ziehen von draußen mit ihrem Haushalt in die Stadt. O dieſen traurigen Züge von Wagen und Packpferden und beladenen Menſchen, die da die Trümmer ihrer aufgeſtörten Herde durch die Straßen wälzen! Das hatte ich ſchon einmal in Böhmen geſehen, wo das arme Landvolk vor dem ſiegenden Feinde floh, und nun mußte ich in der fröhlichen, glänzenden Weltſtadt das gleiche Jammerbild erſchauen — es waren dieſelben ängſtlichen, trüben Mienen, dieſelbe Mühſeligkeit und Haſt, dasſelbe Weh.
Endlich, Gottlob, wieder einmal eine gute Nachricht: Durch engliſche Vermittelung angeregt, wird in Ferrières eine Zuſammenkunft zwiſchen Jules Favre und Bismarck veranſtaltet. Da würde man doch zu einer Einigung, zu einem Friedensſchluß gelangen!
Im Gegenteil! Die Kluft wird jetzt erſt recht offenbar. Schon ſeit einiger Zeit wird von den deutſchen Zeitungen die Beſitznahme von Elſaß-Lothringen befürwortet. Man will das ehemals deutſche Land ſich wieder einverleiben. Das hiſtoriſche Argument für den Anſpruch auf dieſe Provinzen zeigt ſich nur teilweiſe haltbar, daneben wird das ſtrategiſche Argument vorgebracht: „als Bollwerk bei vorausſichtlichen, zukünftigen Kriegen unentbehrlich.“ Und bekanntlich ſind ja die ſtrategiſchen Gründe die hochwichtigſten, die unumſtößlichſten — daneben darf ſich ein ethiſcher Grund erſt in zweiter Linie geltend machen. — Andererſeits: die Kriegspartie war von Frankreich verloren worden; war es nicht billig, daß dem Gewinner ein Preis zufiel? Hätten im Falle ihres Erfolges die Franzoſen nicht die Rheinprovinzen ſich aneignen wollen? Wenn der Ausgang eines Krieges nicht für den einen oder den anderen Teil Gebietserweiterung zur Folge haben ſoll, wozu wird dann überhaupt Krieg geführt?
Unterdeſſen läßt das ſiegreiche Heer im Vormarſche ſich nicht abhalten: die Deutſchen ſind ſchon vor den Thoren von Paris. Die Abtretung Elſaß-Lothringens wird offiziell verlangt. Dagegen erhebt ſich der bekannte Ausſpruch: „Keinen Zoll unſeres Territoriums — keinen Stein unſerer Feſtungen“ — (pas un pouce — pas une pierre).
Ja, ja — tauſend Leben — nur keinen Zoll Erde. Das iſt der Grundgedanke des patriotiſchen Geiſtes. „Man will uns demütigen,“ riefen die franzöſiſchen Patrioten, „eher wird ſich das erbitterte Paris unter ſeinen Trümmern begraben.“
Fort, fort!! entſcheiden wir jetzt. Wozu ohne Notwendigkeit in einer belagerten fremden Stadt verbleiben, wozu unter Leuten leben, die von keinen anderen als Haß- und Rachegedanken erfüllt ſind, die uns mit ſcheelen Blicken und oft mit geballten Fäuſten betrachten, wenn ſie uns deutſch reden hören? Freilich, ohne Schwierigkeiten konnten wir jetzt nicht mehr aus Paris, aus Frankreich hinaus; man hatte überall Gefechtsgebiete zu paſſieren, der Eiſenbahnverkehr war für Privatreiſende häufig verſchloſſen; unſeren Neubau im Stiche laſſen, war auch nicht angenehm, aber gleichviel: unſeres Bleibens war nicht mehr. — Eigentlich waren wir ſchon viel zu lange dageblieben; die Erregungen die ich in letzter Zeit durchgemacht, hatten mich ſo ſtark erſchüttert, daß meine Nerven darunter litten. Ich wurde häufig von Schüttelfroſt und ein paarmal auch von Weinkrämpfen befallen.
Schon waren unſere Koffer verpackt und Alles zur Abfahrt bereit, als ich wieder einen Anfall bekam, diesmal ſo heftig, daß ich ins Bett gebracht werden mußte. Der herbeigeholte Arzt erklärte, daß ein Nervenfieber oder gar eine Gehirnentzündung im Anzug ſei und man vorläufig nicht daran denken dürfe, mich den Strapazen einer Reiſe auszuſetzen. —
Ich lag lange, lange Wochen darnieder. Nur eine ſehr traumhafte Erinnerung iſt mir von dieſer ganzen Zeit geblieben. Und ſonderbar: eine ſüße Erinnerung. Ich war doch ſchwer krank und Trauriges und Schauriges trug in dem Orte meines Aufenthaltes — eine belagerte Stadt — unaufhörlich ſich zu, und dennoch, wenn ich daran zurückdenke: es war eine eigentümlich freudenvolle Zeit. Freuden, ja, ſo recht intenſive Freuden, wie Kinder ſie zu empfinden pflegen. Die Gehirnkrankheit, die ich durchgemacht, die faſt immerwährende Abweſenheit oder doch nur halbe Anweſenheit des Bewußtſeins machte, daß alles Denken und Urteilen, alles Erwägen und Überlegen aus meinem Kopf geſchwunden war und nur ein vager Daſeinsgenuß zurückblieb, wie ſolcher — wie geſagt — von Kindern, namentlich von zärtlich gewarteten Kindern, empfunden wird … An zärtlicher Wartung fehlte es mir nicht. Der Gatte, beſorgt und liebend, unermüdlich, war Tag und Nacht um mich. Auch die Kinder brachte er häufig an mein Lager. Was mein Rudolf mir alles vorerzählte! Ich verſtand es meiſt nicht, aber ſeine liebe Stimme erklang mir wie Muſik; und das Zwitſchern unſerer kleinen Sylvia, unſerer Herzenspuppe, wie ſüß beluſtigte mich erſt das. Da gab es hundert kleine Scherze und Einverſtändniſſe zwiſchen Friedrich und mir über das Gebahren unſerer Tochter … Worin dieſe Scherze beſtanden, das weiß ich auch nicht mehr; aber ich weiß, daß ich lachte und mich freute — ganz unbändig. Jeder der gewohnten Späße ſchien mir der Gipfel der Witzigkeit und je öfter wiederholt, deſto witziger und köſtlicher. Und mit welcher Wonne ich die gereichten Tränkchen ſchlürfte: da bekam ich täglich zur beſtimmten Stunde eine Limonade — ſo etwas göttertrunkähnliches habe ich während meines ganzen geſunden Lebens nicht gekoſtet — und allabendlich eine opiumhaltige Arznei, deren ſanfteinſchläfernde, in bewußten Schlummer wiegende Wirkung mich mit einem Gefühle ſeliger Ruhe durchrieſelte. Dabei wußte ich, daß der geliebte Mann an meiner Seite war, mich hütend und wahrend als ſeines Herzens teuerſter Schatz. Der Krieg, der draußen vor den Thoren wütete, von dem wußte ich beinahe nichts mehr; und wenn mir doch zuweilen eine Erinnerung davon aufblitzte, ſo betrachtete ich das Ding als etwas ſo fern liegendes, ſo mich durchaus nicht berührendes, als ſpielte es ſich in China oder auf einem anderen Planeten ab. Meine Welt war hier in dieſem Krankenzimmer — in dieſem Rekonvalescentenzimmer vielmehr, denn ich fühlte mich geneſen — dem Glück entgegen.
Dem Glücke? Nein. Mit der Geneſung kam auch das Verſtändnis wieder und die Auffaſſung des gräßlichen, das uns umgab. Wir waren in einer belagerten, hungernden, frierenden, jammererfüllten Stadt. Der Krieg wütete noch fort.
Inzwiſchen war der Winter hereingebrochen, eiſigkalt. Jetzt erfuhr ich erſt, was während meiner langen Bewußtloſigkeit alles vorgefallen. Die Hauptſtadt des „Bruderlandes“, Straßburg, die „wunderſchöne“, die „echt deutſche“, die „kerndeutſche Stadt“ iſt beſchoſſen worden; ihre Bibliothek zerſtört, im Ganzen fielen 193 722 Schüſſe — vier oder fünf in der Minute.
Straßburg iſt genommen.
— Das Land gerät in wilde Verzweiflung — jene Verzweiflung, welche in Raſerei und Wahnſinn ausartet. Man ſchlägt im Noſtradamus nach, um darin Prophezeiungen der jetzigen Ereigniſſe zu finden, und neue Seher laſſen ſich mit Weisſagungen vernehmen. Ärger noch: Beſeſſene treten auf: es iſt wie ein Rückfall in mittelalterliche, höllenfeuer-durchzuckte Geiſtesnacht …
„Könnte ich zu den Beduinen!“ rief Guſtav Flaubert. „Könnte ich in das halbbewußte Traumland meiner Krankheit zurück!“ ſo klagte ich. Jetzt war ich wieder geſund und mußte all das erfahren und erfaſſen, was Grauenvolles um uns vorging. Da begannen wieder die Eintragungen in die roten Hefte und ich finde folgende Notizen vor:
1. Dezember. Trochu ſetzt ſich auf den Höhen von Champigny feſt.
2. Dezember. Hartnäckiges Gefecht um Brie und Champigny.
5. Dezember. Die Kälte wird immer ſtrenger. Ach, die zitternden, blutenden, armen Wichte, die draußen im Schnee gebettet — ſterben. Auch hier in der Stadt wird furchtbar an Kälte gelitten. Der Verdienſt iſt auf Null geſunken. Kein Feuerungsmaterial zu beſchaffen. Was gäbe Mancher drum, wenn er nur ein paar Stückchen Holz da hätte — und wäre es der gewiſſe Thron von Spanien …
21. Dezember. Ausfall aus Paris.
25. Dezember. Eine kleine Abteilung preußiſcher Kavallerie wird aus den Häuſern der Ortſchaften Troo und Sougé mit Flintenſchüſſen begrüßt (das iſt Patriotenpflicht). General Kraatz befiehlt die Züchtigung dieſer Ortſchaften (das iſt Kommandantenpflicht) und läßt brennen. „Anzünden“ lautet das Kommandowort, und die Leute — vermutlich ſanfte, gutmütige Burſche — gehorchen (das iſt Soldatenpflicht) und legen den Brand an. Die Flammen ſchlagen zum Himmel und die armen Heimſtätten ſtürzen krachend ein über Mann und Weib und Kind — über fliehende, weinende, brüllende und brennende Menſchen und Tiere.
O du fröhliche, o du ſelige, o du heilige Weihnachtszeit!