Und wieder nahte meine ſchwere Stunde.
Aber diesmal wie ſo anders, als zu jener Zeit, da Friedrich mich verlaſſen mußte — um des Auguſtenburgers willen. Diesmal war er an meiner Seite, auf des Gatten richtigem Poſten: durch ſeine Gegenwart, durch ſeinen Mitſchmerz der Gattin Leiden mildernd. Das Gefühl, ihn da zu haben, war mir ein ſo beruhigendes und glückliches, daß ich darüber das phyſiſche Ungemach beinah vergaß.
Ein Mädchen! Das war unſeres ſtillen Wunſches Erfüllung. Die Freuden, die man an einem Sohne hat, die würde uns ja der kleine Rudolf bieten; jetzt konnten wir dazu auch noch diejenigen Freuden erleben, welche ſo ein aufblühendes Töchterchen ſeinen Eltern verſchafft. Daß ſie ein Ausbund von Schönheit, von Anmut, von Holdſeligkeit ſein würde, unſere kleine Sylvia, daran zweifelten wir keinen Augenblick.
Wie wir beide nun über der Wiege dieſes Kindes ſelber kindiſch wurden, was für ſüße Albernheiten wir da ſprachen und trieben, das will ich gar nicht verſuchen zu erzählen. Andere als verliebte Eltern verſtänden es doch nicht, und alle ſolche ſind wohl ſelber grad’ ſo toll geweſen.
Wie das Glück doch ſelbſtiſch macht! Es folgte jetzt eine Zeit für uns, in der wir glücklich alles Andere — was nicht unſer häuslicher Himmel war — gar zu ſehr vergaßen. Die Schrecken der Cholerawoche nahmen in meinem Gedächtnis immer mehr die Geſtalt eines entſchwundenen böſen Traumes an, und auch Friedrichs Energie in Verfolgung ſeines Zieles ließ einigermaßen nach. Es war aber auch entmutigend: überall, wo man mit jenen Ideen anklopfte — Achſelzucken, mitleidiges Lächeln, wo nicht gar Zurechtweiſung. Die Welt will, wie es ſcheint — nicht nur betrogen, ſondern auch unglücklich gemacht werden. So wie man ihr Vorſchläge unterbreiten will, das Elend und den Jammer fortzuſchaffen, ſo heißt das „Utopie, kindiſcher Traum“, und ſie will nichts hören.
Dennoch ließ Friedrich ſein Ziel nicht gänzlich aus den Augen. Er vertiefte ſich immer mehr in das Studium des Völkerrechts, ſetzte ſich in brieflichen Verkehr mit Bluntſchli und anderen Gelehrten dieſes Zweiges. Gleichzeitig — und zwar mit mir in Gemeinſchaft — betrieb er auch fleißig andere, namentlich naturwiſſenſchaftliche Studien. Er plante, über den Gegenſtand „Krieg und Frieden“ ein größeres Werk zu ſchreiben. Doch ehe er ſich an die Ausführung machte, wollte er durch lange und eingehende Forſchungen ſich dazu rüſten und ſchulen. „Ich bin zwar ein alter k. k. Oberſt,“ ſagte er, „und die meiſten meiner Alters- und Ranggenoſſen würden es verſchmähen, ſich mit Lernen abzugeben … man hält ſich gewöhnlich für unbändig geſcheit, wenn man ein ältlicher Mann in Amt und Würden iſt — ich ſelber, vor einigen Jahren, hatte auch ſolchen Reſpekt vor meiner Perſon … Nachdem ſich mir aber plötzlich ein neuer Geſichtskreis aufgethan, nachdem ich einen Einblick in den modernen Geiſt gewann, da überkam mich das Bewußtſein meiner Unwiſſenheit … Nun ja, von alledem, was jetzt auf allen Gebieten an neuer Erkenntnis gewonnen worden, davon hat man ja in meiner Jugend gar nichts — oder vielmehr das Gegenteil gelernt. Da muß ich jetzt — trotz der Silberfäden an den Schläfen — wieder von vorne anfangen.“
Den Winter nach Sylvias Geburt verbrachten wir in aller Stille in Wien. Im folgenden Frühjahr bereiſten wir Italien. Weltkennenlernen gehörte ja auch zu unſerm neuen Lebensprogramm. Frei und reich waren wir, nichts hinderte uns, es auszuführen. Kleine Kinder ſind zwar auf Reiſen ein wenig läſtig, aber wenn man genügendes Perſonal von Bonnen und Wärterinnen mitführen kann, ſo läßt es ſich ſchon machen. Ich hatte eine alte Dienerin zu mir genommen, welche einſt meine und meiner Schweſter Kindsfrau geweſen, dann einen Wirtſchaftsbeamten geheiratet hatte und jetzt verwitwet war. Dieſe „Frau Anna“ war meines vollſten Vertrauens würdig und in ihren Händen konnte ich meine kleine Sylvia mit voller Beruhigung zurücklaſſen, wenn wir — Friedrich und ich — auf mehrere Tage unſer Hauptquartier verließen, um Ausflüge zu machen. Ebenſogut war Rudolf bei Mr. Foſter, ſeinem Hofmeiſter aufgehoben. Doch geſchah es häufig, daß wir den achtjährigen kleinen Mann mit uns nahmen.
Schöne, ſchöne Zeiten! … Schade, daß ich damals die roten Hefte ſo ſtark vernachläſſigte. Gerade da hätte ich ſo viel des Schönen, Intereſſanten und Heitern eintragen können: aber ich habe es unterlaſſen, und ſo ſind mir die Einzelheiten jener Jahre meiſt aus dem Gedächtnis entſchwunden: nur in großen Zügen kann ich mir noch ein Bild davon zurückrufen.
In das „Friedensprotokoll“ fand ich Gelegenheit, eine erfreuliche Eintragung zu machen. Es war dies nämlich ein Zeitungsartikel, gezeichnet B. Desmoulins, worin der franzöſiſchen Regierung der Vorſchlag gemacht wird, ſich an die Spitze der europäiſchen Staaten zu ſtellen, indem ſie das Beiſpiel gäbe, abzurüſten.
„So wird ſich Frankreich das Bündnis und die aufrichtige Freundſchaft aller Staaten ſichern, welche dann aufhören würden, ſich vor Frankreich zu fürchten, deſſen Mithilfe ſie benötigten. So würde ſich die allgemeine Entwaffnung von ſelber einſtellen, das Prinzip der Eroberung wäre auf immer aufgegeben und die Konföderation der Staaten würde ganz natürlich einen oberſten Gerichtshof internationaler Gerechtigkeit bilden, welcher im ſtande ſein wird, auf dem Wege des Schiedsrichteramtes alle Streitigkeiten zu ſchlichten, welche der Krieg niemals zu entſcheiden vermocht. Indem es ſo handelte, würde Frankreich die einzige reelle und einzige dauerhafte Kraft — nämlich das Recht — auf ſeine Seite gebracht, und dem Menſchengeſchlecht auf ruhmreiche Weiſe eine neue Ära eröffnet haben.“ (Opinion Nationale 25. Juli 1868.)
Beachtung hat dieſer Artikel natürlich wieder nicht gefunden.
Im Winter 1868 bis 1869 kehrten wir nach Paris zurück und diesmal — auch von dieſer Seite wollten wir das Leben kennen lernen — ſtürzten wir uns in die „große Welt“.
Es war ein etwas ermüdendes, aber für einige Zeit doch recht genußreiches Treiben. Wir hatten — um ein Zuhauſe zu haben — uns ein kleines möbliertes Hotel im Viertel der Champs Eliſées gemietet, wo wir unſeren zahlreichen Bekannten, bei denen wir täglich zu irgend welchen Feſten geladen waren, auch manchmal „revanche“ bieten konnten. Von unſerem Geſandten beim Tuilerienhofe eingeführt, waren wir für den ganzen Winter zu den Montagen der Kaiſerin vergeben; außerdem ſtanden uns die Häuſer ſämtlicher Botſchafter offen, ſo wie die Salons der Prinzeſſin Mathilde, der Herzogin von Mouchy, der Königin Iſabella von Spanien und ſo weiter. Auch viele litterariſche Größen lernten wir kennen — den größten freilich nicht, denn dieſer, ich meine Viktor Hugo, lebte in der Verbannung; doch ſind wir Renan, Dumas, Vater und Sohn, Octave Feuillet, George Sand, Arſène Houſſaye und einigen Anderen begegnet. Bei dem Letztgenannten haben wir auch einen Maskenball mitgemacht. Wenn der Verfaſſer der „Grandes dames“ in ſeinem prachtvollen kleinen Hotel der Avenue Friedland eines ſeiner venetianiſchen Feſte gab, ſo war es Gewohnheit, daß daſelbſt die wirklich großen Damen unter dem Schutze der Maske ſich in der Nähe die „kleinen Damen“ — bekannte Schauſpielerinnen u. dgl. — beſahen, welche hier ihre Diamanten und ihren Witz funkeln ließen.
Wir waren auch ſehr fleißige Theaterbeſucher. Mindeſtens dreimal wöchentlich verbrachten wir die Abende entweder in der italieniſchen Oper, wo Adelino Patti — eben mit dem Marquis de Caux verlobt — die Zuhörerſchaft entzückte, oder im Théâtre Francais, oder auch in einem der kleineren Boulevard-Theater, um Hortenſe Schneider als Großherzogin von Gerolſtein oder andere Operetten- und Vaudeville-Berühmtheiten zu ſehen.
Es iſt doch ſonderbar, wie, wenn man in dieſen Wirbel des Glanzes und der Unterhaltungen geſtürzt iſt, wie einem dieſe kleine „große Welt“ plötzlich ſo ſchrecklich wichtig vorkommt und die darin waltenden Geſetze von Eleganz und „chic“ (damals hieß es noch „chic“) eine Art ganz ernſthaft genommener Pflichten auferlegen. Im Theater einen geringeren Platz einnehmen, als eine Proſceniumsloge: in den Bois mit einem Wagen ſich zeigen, deſſen Geſpann nicht tadellos wäre; auf den Hofball gehen, ohne eine von Worth „unterſchriebene“ 2000 Franks-Toillette zu tragen; ſich zu Tiſche ſetzen (Madame la baronne est servie …) auch wenn man keine Gäſte hat, ohne ſich von dem würdevoll amtierenden maître d’hotel und einigen Lakaien die feinſten Gerichte und edelſten Weine auftragen zu laſſen: — das wären alles arge Verſtöße …
Wie leicht — wie leicht geſchieht es einem, wenn man von dem Räderwerk ſolcher Exiſtenz erfaßt worden, daß man alle ſeine Gedanken und Gefühle auf dieſes im Grunde gedanken- und gefühlloſe Treiben verwendet; daß man darüber vergißt, Anteil zu nehmen an dem Gang der wirklichen Welt da draußen — ich meine das Univerſum — und an dem Beſtande der eigenen Welt da drinnen — ich meine das häusliche Glück. Mir wäre es vielleicht ſo ergangen — aber davor ſchützte mich Friedrich. Er war nicht der Mann dazu, ſich von dem Strudel der Pariſer „haute vie“ hinreißen und verſchlingen zu laſſen. Er vergaß über der Welt, in der wir uns bewegten, weder das Univerſum, noch unſeren Herd. Ein paar Vormittagsſtunden blieben uns nach wie vor der Lektüre und der Familie geweiht, und ſo brachten wir das größte Kunſtſtück fertig, neben dem Vergnügen auch das Glück zu pflegen.
Für uns Öſterreicher hegte man in Paris viel Sympathie. Oft wurde in politiſchen Geſprächen auf eine „Revanche de Sadowa“ angeſpielt, ſo gewiß als müßte die uns vor zwei Jahren geſchehene Unbill wieder gut gemacht werden. Als ob ſich überhaupt derlei wieder gut machen ließe! Wenn Schläge nicht anders zu tilgen ſind, als wieder durch Schläge — dann kann das Ding ja niemals aufhören. Gerade meinem Mann und mir, weil dieſer beim Militär geweſen und den böhmiſchen Feldzug mitgemacht, gerade uns glaubten die Leute nichts Angenehmeres und Höflicheres ſagen zu können, als eine hoffnungsvolle Anſpielung auf die bevorſtehende Sadowa-Rache, welche bereits als ein geſchichtliches, das „europäiſche Gleichgewicht“ ſicherndes und durch politiſch-diplomatiſche Vorkehrungen geſichertes Ereignis behandelt wurde. Eine bei nächſter Gelegenheit den „Preußen“ zu gebende Schlappe war eine völkerpädagogiſche Notwendigkeit. Die Sache würde nicht tragiſch ausfallen … nur ſo etwas den Übermut gewiſſer Leute dämpfen. Vielleicht genügte zu dieſem Zwecke auch ſchon dieſe an der Wand hängende Peitſche: ſollte der Übermütige etwa kecke Anwandlungen bekommen, ſo war er ja gewarnt, daß ſie auf ihn herunterſauſen werde — die Revanche de Sadowa.
Wir lehnten natürlich ſolche Tröſtungen entſchieden ab. Altes Unglück wird durch neues Unglück nicht verwiſcht, ebenſowenig als altes Unrecht durch neues Unrecht getilgt werden kann. Wir verſicherten, daß wir keinen anderen Wunſch hegten, als den nunmehrigen Frieden nicht mehr gebrochen zu ſehen.
Dasſelbe war — ſo behauptete er wenigſtens — auch der Wunſch Napoleons Ⅲ. Wir verkehrten ſo viel mit Perſonen, welche dem Kaiſer ganz nahe ſtanden, daß wir genügend Gelegentheit hatten, deſſen politiſche Geſinnungen, wie er ſie in vertraulichen Ausſprüchen laut werden ließ, kennen zu lernen. Nicht nur, daß er den momentanen Frieden wünſchte, er hegte den Plan, den Mächten allgemeine Abrüſtung vorzuſchlagen. Aber um dieſes auszuführen, fühlte er ſich augenblicklich nicht ſicher genug im Innern des Landes. Eine große Unzufriedenheit kochte und gährte unter der Bevölkerung, und in der nächſten Nähe des Thrones gab es eine Partei, welche darzuſtellen bemüht war, daß dieſer Thron nicht anders zu feſtigen wäre, als durch einen auswärtigen glücklichen Krieg: ſo eine kleine Triumphpromenade am Rhein, und der Glanz und Beſtand der napoleoniſchen Dynaſtie wäre geſichert. „Il faut faire grand“ meinten dieſe Ratgeber. Daß der Krieg, welcher im vorigen Jahre über die Luxemburger Frage in Ausſicht ſtand, vereitelt worden, war jenen ſehr unlieb: die beiderſeitigen Rüſtungen waren ſchon ſo ſchön gediehen, und jetzt wäre das Ding überſtanden … Aber auf die Länge ſei ein Kampf zwiſchen Frankreich und Preußen doch unvermeidlich … Unaufhörlich ward in dieſer Richtung weitergehetzt. Doch nur ein ſchwaches Echo drang von ſolchen Dingen zu uns. Dergleichen iſt ja man gewöhnt, in den Zeitungen anſchlagen zu hören — ſo regelmäßig, wie die Brandung an der Küſte. Dabei braucht man noch nicht an den Sturm zu denken; man lauſcht ganz ruhig der Muſikkapelle, die am Strande ihre luſtigen Weiſen ſpielt — die Brandung gibt nur einen leiſen, unbeachteten Grundbaß dazu ab.