Am folgenden Tag ward die Verlobung gefeiert.
Mein Vater leiſtete keinen Widerſtand. Ich hätte geglaubt, daß ſein Preußenhaß es ihm unmöglich machen würde, einen der feindlichen Krieger und Sieger in ſeine Familie aufzunehmen; aber ſei es, daß er die individuelle von der nationalen Frage gänzlich trennte — (ein gebräuchliches Vorgehen: „Ich haſſe Jene als Nation, nicht als Individuen“ hört man häufig beteuern, obſchon es keinen Sinn hat, ebenſowenig Sinn, als wollte Einer ſagen: „Ich haſſe den Wein als Getränk, aber jeden Tropfen verſchlucke ich gern“ — doch vernünftig braucht ja eine landläufige Phraſe nicht zu ſein — im Gegenteil) ſei es, daß der Ehrgeiz die Oberhand gewann und eine Verbindung mit dem fürſtlichen Hauſe Reuß ihm ſchmeichelte; ſei es endlich, daß die ſo romantiſch geäußerte, plötzliche Liebe der jungen Leute ihn rührte: kurz, er ſprach ein ziemlich bereitwilliges Ja. Weniger einverſtanden war Tante Marie. „Unmöglich!“ war ihr erſter Ausruf. „Der Prinz iſt ja lutheriſcher Konfeſſion.“ Aber ſchließlich tröſtete ſie ſich mit der Ausſicht, daß Roſa ihren Gatten wahrſcheinlich bekehren werde. Im Herzen Ottos grollte es am tiefſten. „Wie, wollt ihr,“ ſprach er, „wenn wieder Krieg ausbricht, daß ich meinen Schwager aus dem Land verjage?“ Aber auch ihm wurde die famoſe Theorie von dem Unterſchiede zwiſchen Nation und Individuum erläutert und — zu meinem Staunen, denn ich habe ſie nie begriffen — er begriff ſie.
Wie ſchnell und leicht man doch unter freudigen Umſtänden das durchgemachte Elend vergißt! Zwei Liebespaare — oder, ich kann es kühnlich ſagen, drei, denn Friedrich und ich, die Vermählten, ſchwärmten nicht viel weniger füreinander, als die Verlobten — alſo ſo viele Liebespaare in der kleinen Geſellſchaft, das ergab doch eine glücksgehobene Stimmung. Schloß Grumitz war in den folgenden paar Tagen eine Stätte der Heiterkeit und Lebensluſt. Allmählich fühlte auch ich die Schreckensbilder der vergangenen Wochen aus meinem Gedächtnis entweichen. Nicht ohne Gewiſſensbiß wurde ich gewahr, wie mein vor kurzer Zeit noch ſo brennender Mitſchmerz in manchen Augenblicken ganz entſchwand. — Von der Außenwelt klang wohl noch immer Trauriges herüber: die Klagen der Leute, die in dem Kriege Hab und Gut oder teuere Häupter verloren; Nachrichten von drohenden Finanzkataſtrophen, von ausbrechenden Seuchen: die Cholera, hieß es, habe ſich unter den preußiſchen Mannſchaften gezeigt — ſogar in unſerem Dorfe wurde ein Fall ſignaliſiert — freilich ein zweifelhafter: „Es wird die Ruhr ſein — die tritt ja jeden Sommer auf“, tröſtete man ſich. Nur immer verjagen — die trüben Gedanken und die böſen Befürchtungen: „Es iſt nichts“ — „es iſt vorbei“ — „es wird nichts kommen“ — das iſt ſo leicht gedacht. Man braucht nur eine heftig ſchüttelnde Kopfbewegung zu machen und die unliebſamen Vorſtellungen ſind verſcheucht …
„Hörſt Du, Martha,“ ſagte mir eines Tages die glückliche Braut, „dieſer Krieg war freilich etwas Schauderhaftes, aber ich muß ihn doch noch ſegnen. Wäre ich ohne ihn ſo maßlos glücklich geworden, wie ich es jetzt bin? Hätte ich Heinrich jemals kennen gelernt? Und er — hätte er jemals eine ſo liebende Braut gefunden?“
„Nun gut, liebe Roſa, ich will gern dieſe Auffaſſung mit Dir teilen: — es mögen eure zwei beglückten Herzen gegen die vielen tauſende gebrochenen in die Wagſchale fallen …“
„Nicht nur um Einzelſchickſale handelt es ſich, Martha. Auch im Großen und Ganzen bringt der Krieg — für Jene, die ſiegen — einen großen Gewinn, alſo einem ganzen Volke. Man muß Heinrich darüber reden hören. Er ſagt, Preußen ſtehe jetzt groß da — in dem Heere herrſche allgemeiner Jubel und begeiſterte Dankbarkeit und Liebe zu den Feldherren, die es zum Siege geführt … dadurch ward der deutſchen Geſittung, dem Handel, oder ſagte er dem deutſchen Wohlſtand — ich weiß nicht mehr genau … die hiſtoriſche Miſſion … kurz, man muß ihn reden hören.“
„Warum ſpricht Dein Bräutigam nicht lieber von eurer Liebe, ſtatt von politiſchen und militäriſchen Dingen?“
„O wir ſprechen von Allem — und Alles, was er ſagt, klingt mir wie Muſik … Ich fühle es ihm ſo gut nach, daß er ſtolz und ſelig iſt, dieſen Krieg für König und Vaterland mitgefochten —“
„Und ſich dabei als Beute ein ſo verliebtes Bräutchen geholt zu haben,“ ergänzte ich.
Dem Vater gefiel ſein künftiger Schwiegerſohn ſehr gut — und wem hätte der prächtige junge Menſch nicht gefallen ſollen? Er erteilte ihm jedoch ſeine Sympathie und ſeinen Segen unter allerlei Verwahrungen und Vorbehalt:
„Sie ſind mir als Menſch und Soldat und als Prinz in jeder Hinſicht ſchätzenswert, lieber Reuß“ ſo ſagte er zu wiederholten Malen und in verſchiedenen Redewendungen, „aber als preußiſcher Offizier kann ich Sie natürlich nicht leiden und ich behalte mir — trotz aller Familienverbindung — das Recht vor, nichts ſo ſehr zu wünſchen, als einen kommenden Krieg, in welchem Öſterreich die jetzige Überrumpelung tüchtig heimzahlt. Die politiſche Frage iſt von der perſönlichen ganz zu trennen. Mein Sohn wird einſt — Gott walte — daß ich’s erlebe — gegen das Land Preußen zu Felde ziehen; ich ſelbſt, wenn ich nicht zu alt wäre und wenn mein Kaiſer mich dazu beriefe, übernähme gleich ein Kommando, um Wilhelm Ⅰ. und beſonders, um Ihren arroganten Bismarck zu bekriegen. Dies verſchlägt nicht, daß ich die militäriſchen Tugenden der preußiſchen Armee und die ſtrategiſche Kunſt ihrer Führer anerkenne und daß ich es ganz natürlich finden würde, wenn Sie im nächſten Feldzug, an der Spitze eines Bataillons, unſere Hauptſtadt erſtürmen wollten und das Haus anzünden ließen, in welchem Ihr Schwiegervater wohnt – kurz —“
„Kurz, die Konfuſion der Gefühle iſt eine heilloſe,“ unterbrach ich einmal eine ſolche Rhapſodie — „die Widerſprüche und Gegenſätze verſchlingen einander darin wie die Infuſorien in einem faulenden Waſſertropfen … So geht es immer, wenn widerſtreitende Begriffe zuſammengepfercht werden. Ein Ganzes haſſen und ſeine Teile lieben; — als Menſch ſo und als Landeſangehöriger ſo denken wollen — das geht nicht: entweder — oder. Da lobe ich mir den Botokudenhäuptling: der empfindet für die Anhänger eines anderen Stammes — von denen er nicht einmal weiß, daß ſie „Individuen“ ſind — weiter nichts, als den Wunſch, ſie zu ſkalpieren.“
„Aber Martha, mein Kind, ſolche wilde Gefühle paſſen doch nicht zu dem geſitteten und humaner gewordenen Stand unſerer Kultur.“
„Sage lieber, der Staub unſerer Kultur paßt nicht zu der aus alten Zeiten uns überkommenen Wildheit. So lange dieſe — das heißt ſo lange der Kriegsgeiſt nicht abgeſchüttelt iſt, läßt ſich unſere vielgeprieſene „Humanität“ nicht vernünftig vertreten. Denn Du wirſt doch Deine eben gehaltene Rede, in welcher Du dem Prinzen Heinrich verſicherſt, daß Du ihn als Schwiegerſohn lieben und als Preußen haſſen willſt, als Menſchen hochſchätzen und als Oberlieutenant verabſcheuen, daß Du ihm gern Deinen väterlichen Segen gibſt und zugleich ihm das Recht einräumſt, gelegentlich auf Dich zu ſchießen — verzeih’, lieber Vater, aber dieſe Rede wirſt Du doch nicht für vernünftig ausgeben?“
„Was ſagſt Du? Ich verſteh’ kein Wort …“
Die beliebte Schwerhörigkeit hatte ſich wieder rechtzeitig eingeſtellt.