Ja — ſo war es. Erſt geſtern, ſpät am Abend, war Friedrich mit einem Verwundetentransporte von Böhmen nach Wien und von dort hierher gebracht worden. Er hatte eine Kugel in das Bein bekommen, eine Wunde, die ihn augenblicklich dienſtunfähig und pflegebedürftig machte, die jedoch gänzlich ungefährlich war.
Aber auch die Freude iſt ſchwer zu ertragen. Die mir von meinen Schweſtern ſo unvorbereitet zugeworfene Nachricht: „Friedrich iſt da“ wirkte ebenſo, wie die Schreckniſſe der vergangenen Tage: ſie raubte mir die Beſinnung.
Man mußte mich aus dem Wagen in das Schloß tragen und zu Bett bringen. Hier verbrachte ich — war es die Nachwirkung des Narkotikums, war es die Heftigkeit des Freudenſchlages? — mehrere Stunden in bald ſchlafender, bald delirierender Bewußtloſigkeit. Als ich zu mir kam und mich in meinem Bette ſah, da glaubte ich, daß ich aus einem ſchweren Traum erwachte und daß ich von Grumitz gar nicht fortgekommen war. Der Brief Breſſers, mein Entſchluß nach Böhmen abzureiſen, meine Erlebniſſe dortſelbſt — die Rückfahrt, die angekündigte Heimkehr Friedrichs: Alles nur geträumt …
Ich blickte auf. Am Fuße des Bettes ſtand meine Kammerjungfer.
„Iſt mein Bad bereit?“ fragte ich, „ich will aufſtehen.“
Jetzt ſtürzte aus einer Ecke des Zimmers Tante Marie hervor:
„Ach Martha, armer Schatz, biſt Du endlich wach und bei Sinnen — Gott ſei Dank! Ja, ja, ſteh auf — und ja, ja, nimm Dein Bad, das wird wohl thun … wenn man ſo von Straßen- und Eiſenbahnſtaub bedeckt iſt, wie Du —“
„Eiſenbahnſtaub — was meinſt Du denn?“
„Schnell, ſteh’ auf — Netti, richten Sie Alles vor. Friedrich vergeht ſchon vor Ungeduld, Dich zu ſehen.“
„Friedrich, mein Friedrich!!!“
Wie oft hatte ich in den letzten Tagen dieſen Namen ſo ſchmerzlich ausgerufen — aber jetzt war es ein Jubelruf — denn nunmehr hatte ich verſtanden; es war kein Traum; ich war fortgeweſen und heimgekehrt und ſollte den Gatten wiederſehen!
Eine Viertelſtunde ſpäter trat ich bei ihm ein. Allein. — Ich hatte mir ausgebeten, daß Niemand mit mir komme. Bei unſerem Wiederfinden ſollte kein Dritter anweſend ſein.
„Friedrich!“ — „Martha!“ Ich war auf das Ruhebett hingeſtürzt, auf dem er lag und ſchluchzte an ſeiner Bruſt.
Es war dies das zweite Mal im Leben, daß mir der geliebte Gatte aus den Gefahren des Krieges zurückgegeben ward.
„O, die Seligkeit, ihn wieder zu haben! Wie kam ich, gerade ich dazu, mitten aus der Schmerzensflut, in der ſo Viele untergegangen, an ein ſicheres, glückliches Ufer gelangt zu ſein? Wohl Denen, die in ſolcher Lage freudig den Blick zum Himmel heben und dem Lenker oben warmen Dank emporſenden; durch dieſen Dank, den ſie, weil er demütig geſprochen wird, auch für demütig halten, von dem ſie gar nicht ahnen, wie anmaßend und ſelbſtüberhebend er im Grunde iſt, fühlen ſie ſich entlaſtet; damit haben ſie für den ihnen verliehenen Vorzug, den ſie Huld und Gnade nennen, nach ihrer Meinung genügend quittiert. Ich war das nicht im ſtande. Wenn ich an die Elenden dachte, die ich an jenen Jammerſtätten geſehen, und an die beklagenswerten Mütter und Frauen dachte, deren Lieben von demſelben Schickſal, das mich begünſtigt hatte, in Qual und Tod geſtürzt worden — da konnte ich unmöglich ſo unbeſcheiden ſein, dieſe Begünſtigung als eine göttlich beabſichtigte anzunehmen, für die ich berechtigt wäre, zu danken. Mir fiel ein, wie neulich einmal Frau Walter, unſere Haushälterin, mit einem Beſen über einen Schrank fuhr, worauf eine Schar zuckerwitternder Ameiſen wimmelte — ſo fegte das Schickſal über die böhmiſchen Schlachtfelder weg; — die armen ſchwarzen Arbeiterinnen waren zumeiſt zerdrückt, getötet, verſtreut, nur Einige blieben unverſehrt. Wäre es wohl von Dieſen vernünftig und angemeſſen geweſen, wenn ſie der Frau Walter dafür innigen Dank emporgeſendet hätten? … Nein, ich konnte durch die Freude des Wiederſehens, ſo groß dieſe auch war das Weh aus meinem Herzen nicht vollſtändig bannen — ich konnte nicht und wollte nicht. Zu helfen war ich nicht im ſtande geweſen; verbinden, pflegen, warten — wie jene barmherzigen Schweſtern, wie die tapfere Frau Simon es gethan — dazu hatten meine Kräfte nicht gereicht. Aber die Barmherzigkeit, die aus Mitgefühl beſteht, die habe ich den armen Mitgeſchöpfen doch angedeihen laſſen und die durfte ich nicht, in egoiſtiſchem Vollvergnügen, ihnen wieder entziehen — ich durfte nicht vergeſſen.
Aber wenn auch nicht frohlocken und danken — lieben, den Wiedergefundenen hundertfach zärtlich in mein Herz ſchließen: das durfte ich wohl …
„O Friedrich, Friedrich!“ wiederholte ich unter Thränen und Liebkoſungen, „habe ich Dich wieder!“
„Und Du wollteſt mich ſuchen und pflegen? Wie heldenhaft und wie thöricht, Martha!“
„Thöricht, ja — das ſehe ich ein. Die rufende Stimme, die mich fortzog, war Einbildung, war Aberglaube, denn Du riefſt mich nicht. Aber heldenhaft? Nein. Wenn Du wüßteſt, wie feig ich mich dem Elend gegenüber erwies! Nur Dich — nur wenn Du dort gelegen — hätte ich pflegen können. Ich habe Entſetzliches geſehen, Friedrich, was ich nie vergeſſen werde. O unſere ſchöne Welt, wie kann man ſie nur ſo verderben, Friedrich? Eine Welt, in der zwei Weſen einander ſo lieben können, wie ich und Du — in der ſolches Feuerglück lodern kann, wie unſer Einsſein — wie mag die nur ſo thöricht ſein, die Flammen des tod- und jammerbringenden Haſſes zu ſchüren?“
„Ich habe auch etwas Entſetzliches geſehen, Martha — etwas, das ich nie vergeſſen kann. Denke Dir — auf mich losſtürzend, mit gehobener Klinge, — es war während eines Kavalleriegefechts bei Sadowa — auf mich losſtürzend — Gottfried von Teſſow.“
„Tante Korneliens Sohn?“
„Derſelbe. Er hat mich zur rechten Zeit erkannt und ſenkte die bereits hiebbereite Waffe —“
„Da hat er eigentlich gegen ſeine Pflicht gehandelt, wie? Einen Feind ſeines Königs und Vaterlandes verſchont — unter dem nichtigen Vorwand, daß derſelbe ein lieber Freund und Vetter ſei …“
„Das arme Bürſchchen! Kaum hatte er den Arm ſinken laſſen, ſo ſauſte ein Säbel über ſeinen Kopf … Es war mein Nebenmann, ein junger Offizier, der ſeinen Oberſtlieutenant ſchützen wollte und —“
Friedrich hielt inne und bedeckte ſein Geſicht mit beiden Händen.
„Getötet?“ fragte ich ſchaudernd.
Er nickte.
„Mama, Mama!“ kam es vom Nebenzimmer her und die Thür wurde aufgeriſſen. Es war meine Schweſter Lilli, den kleinen Rudolf an der Hand.
„Verzeih’, daß ich euer Wiederſehen-tête-à-tête ſtöre, aber Dieſer da verlangt gar zu ſtürmiſch nach ſeiner Mama.“
Ich eilte dem Kind entgegen und preßte es leidenſchaftlich an mein Herz. — Ach die arme, arme Tante Kornelie!