Bertha von Suttner: Die Waffen nieder! // Eine Lebensgeſchichte 58. Viertes Buch. 1866. // 13. Abſchnitt Was ich an dieſem ſelben Tage noch Alles ſehen und erfahren mußte! Nicht wieder erzählen, das wäre freilich das Einfachſte und Verlockendſte. Man ſchließt die Augen und wendet den Kopf ab wenn gar zu Grauenhaftes ſich ereignet — auch das Gedächtnis hat die Fähigkeit zu ſolchem Augenſchließen. Wenn doch nichts mehr zu helfen iſt — was läßt ſich an der ſtarren Vergangenheit ändern? — wozu ſich und die Anderen mit dem Wühlen in dem Entſetzlichen quälen? Wozu? Das werde ich ſpäter ſagen. So viel nur jetzt: {ich muß.} Mehr noch. Nicht nur mein eigenes Gedächtnis will ich anſtrengen — meine Auffaſſungskraft reichte an die Wucht der Geſchehniſſe gar nicht heran —; ich werde noch hinzufügen, was andere Zeugen jener Scenen — was Frau Simon, Doktor Brauer und der ſächſiſche Feldhoſpital-Kommandant, Doktor Naundorff, (man vergleiche des letztgenannten erſchütterndes Buch „Unter dem roten Kreuz“) berichtet haben. Wie in Horonewos, ſo hatte die Hölle noch in vielen anderen der umliegenden Ortſchaften ihre Filialen. So war es in Sweti, in Hradeck, in Problus. So in Pardubitz, wo, als es die erſten Preußen beſetzten, … über {tauſend} Schwerverwundete, Operierte und Amputierte umherlagen, teils ſterbend, teils ſchon geſtorben, Leichen zwiſchen Verſcheidenden und ſolchen, welche ihr Ende erſehnten. Viele nur in blutigen Hemden, daß man nicht einmal wiſſen konnte, welches Landes Kinder ſie waren. Alle die, welche noch Spuren des Lebens in ſich trugen, ſchreiend nach Waſſer und Brot, ſich krümmend unter den Schmerzen ihrer Wunden, und um den Tod gleichwie um eine Wohlthat flehend.“ „Roßnitz,“ ſo ſchreibt Doktor Brauer in ſeinen Briefen, „Roßnitz, dieſer Ort, deſſen Bild bis in meine Sterbeſtunde vor meinem Gedächtniſſe ſtehen wird, Roßnitz, wohin ich am 6. Tage nach der mörderiſchen Schlacht von den Johannitern geſchickt wurde und wo das größte Elend, welches ſich menſchliche Einbildungskraft vorzuſtellen vermag, noch an dieſem Tage herrſchte. Ich fand daſelbſt unſern R. mit 650 Verwundeten, welche in elenden Scheunen und Ställen, ohne Verpflegung, mitten unter Toten und Halbtoten, teilweiſe ſeit Tagen in ihrem eigenen Kote lagen. Hier war es, wo ich nach Errichtung des Grabhügels des gefallenen Oberſtlieutenants v. F. ſo von Schmerz überwältigt wurde, {daß ich eine Stunde lang die heißeſten Thränen vergoß} und mich trotz des Aufwandes meiner ganzen moraliſchen Kraft kaum zu faſſen vermochte. Obgleich ich als Arzt gewohnt bin, menſchliches Elend in allerlei Geſtalt zu erblicken und in der Ausübung meines Berufes es lernte den Jammer der gequälten menſchlichen Natur zu ertragen, ſo entquollen doch in der That hier meinen Augen unaufhaltſame Thränen. Hier in Roßnitz war es, wo ich am zweiten Tage, als ich erkannte, daß unſere Kräfte ſolchem Elend nicht gewachſen ſeien, den Mut verlor und zu verbinden aufhörte.“ — — — „… In welchem Zuſtand waren dieſe 600 Männer (diesmal ſpricht Doktor Naundorff). Es iſt unmöglich, dies mit Wahrheit zu ſchildern. An den noch immer offenen Wunden ſaugten Mücken, mit denen ſie bedeckt waren; im Fieber funkelnde Blicke irrten forſchend umher und ſuchten nach irgend einer Hilfe — nach Labung, nach Waſſer, nach Brot! Mantel, Hemd, Fleiſch und Blut bildeten bei den Meiſten eine widerliche Miſchung. {Würmer begannen ſich darin zu erzeugen und einzufreſſen.} Ein abſcheulicher Geruch erfüllte jeglichen Raum. Alle dieſe Soldaten lagen auf der nackten Erde, nur Wenige fanden etwas Stroh, auf welches ſie ihre elenden, verſtümmelten Körper betten konnten. Einige, welche nur lehmigen, durchgeweichten Boden unter ſich hatten, ſind in dem Schlamme desſelben halb verſunken; ſie vermögen nicht, ſich aus ihm emporzuarbeiten; Andere liegen in einer Pfütze gräulichen Schmutzes, den zu beſchreiben jede Feder ſich ſträuben muß.“ „… In Masloved“ — ſo erzählte Frau Simon — „ein Ort von ungefähr fünfzig Nummern, lagen — acht Tage nach der Schlacht — 700 Verwundete. Nicht ſowohl ihr Jammergeſchrei als ihre troſtloſe Verlaſſenheit drang zum Himmel empor. In einer einzigen Scheune waren allein 60 dieſer Unglücklichen aufgeſchichtet. Eine jede ihrer Wunden war an ſich ſchon ſchwer, durch den hilfloſen Zuſtand, den Mangel an Pflege und Nahrung waren dieſelben hoffnungslos geworden; faſt Alle waren brandig. Zerſchoſſene Glieder bildeten nur noch faulende Fleiſchſtücke, Geſichter nur noch eine mit Schmutz bedeckte, zerronnene Blutmaſſe, in welcher eine unförmliche ſchwarze Öffnung den Mund vorſtellte, welchem gräßliche Töne entquollen. Die fortſchreitende Verweſung trennte ganze abgeſtorbene Teile von dieſen elenden Körpern. Lebendige liegen neben Toten gebettet, die in Fäulnis überzugehen beginnen und für welche die Würmer ſich rüſten. Dieſe ſechzig Menſchen, ſo wie der größte Teil der Übrigen, lagen ſeit einer Woche auf derſelben Stelle. Ihre Wunden waren entweder gar nicht, oder nur in unzureichender Weiſe verbunden worden; ſeit dem Tage der Schlacht lagen ſie, unfähig ſich von der Stelle zu bewegen, nur mangelhaft genährt, ohne hinreichendes Waſſer. Unter ſich ein durch Blut und Unrat verfaulendes Lager, ſo verbrachten ſie acht Tage! Lebendige Leichname, durch deren zuckende Glieder eine vergiftete Blutwelle nur noch träge ihren Umlauf vollendet. Sie hatten noch nicht ſterben können, und doch — wie durften ſie erwarten, je wieder lebendig zu werden? Was iſt dabei des Staunens werter“ — beſchloß Frau Simon dieſen Bericht — „die unendliche Lebenskraft der menſchlichen Natur, welche das erduldet und noch zu atmen vermag, oder der Mangel an zureichender Hilfe?“ Das Staunenswerteſte iſt — will mich bedünken — daß Menſchen einander in ſolche Lage {bringen}, — daß Menſchen, die ſo etwas geſehen, nicht kniend hinſinken und den leidenſchaftlichen Eid ſchwören, gegen den Krieg zu kriegen: daß ſie nicht — wenn ſie Fürſten ſind — das Schwert von ſich ſchleudern oder — wenn ſie keine Macht beſitzen — nicht fortan ihr ganzes Wirken, in Wort und Schrift, in Denken, Lehren und Handeln dem einen Ziele widmen: Die Waffen nieder! * * * Frau Simon — ſie nannten ſie „die Lazareth-Mutter“ — war eine Heldin. Wochenlang hatte ſie in jenen Gegenden geweilt und alle Drangſale und Gefahren ertragen. Hunderte ſind durch ſie gerettet worden. Tag und Nacht arbeitete, ſchaffte, befehligte ſie. Bald verrichtete ſie die demütigſten Dienſte an den Krankenlagern, bald kommandierte ſie Transporte oder requirierte Lebensmittel. Wenn ſie an einem Orte Hilfe geſchafft, ſo eilte ſie ohne Raſt an einen andern; ſie ließ aus Dresden eine reiche Sendung kommen und führte dieſelbe, trotz allen entgegenſtehenden Schwierigkeiten, nach den Punkten, welche der Hilfe bedurften; ſie übernahm die Vertretung der patriotiſchen Vereine auf böhmiſchem Boden und errang ſich da eine Stellung gleich derjenigen, welche Florence Nightingale in der Krim eingenommen. Und ich? Gebrochen, troſtlos, von Schmerz und Ekel überwältigt — nichts habe ich zu helfen vermocht. Schon in der Kirche — unſere erſte Etappe — fiel ich auf den Stufen jenes Marienaltars erſchöpft zuſammen und Doktor Breſſer hatte alle Mühe, mich wieder aufzurichten. Von dort ſchleppte ich mich an ſeiner Seite eine Strecke weiter und wir kamen in eine ſolche Scheune, welche ein Bild bot, wie es Frau Simon beſchrieben. In der Kirche wenigſtens war ein weiter Raum, wo die Unglücklichen {neben} einander lagen, hier aber waren ſie auf- und ineinander geſchichtet — haufen- und knäuelweiſe; in die Kirche waren doch Pflegende — vielleicht ein durchmarſchierendes Sanitätskorps — gekommen, welche zwar mangelhafte, aber doch einige Hilfe geboten hatten; hier aber waren lauter ganz ungefunden Gebliebene — eine krabbelnde, wimmernde Maſſe halbverfaulter Menſchenreſte … Erſtickender Ekel packte mich an der Kehle, bitterſter Jammer am Herzen — mir war als fühlte ich letzteres entzwei brechen — und ich ſtieß einen gellenden Schrei aus. Dieſer Schrei iſt das letzte, was mir von jener Scene in Erinnerung geblieben. 59. Viertes Buch. 1866. // 14. Abſchnitt