Bertha von Suttner: Die Waffen nieder! // Eine Lebensgeſchichte 56. Viertes Buch. 1866. // 11. Abſchnitt Als mich Doktor Breſſer zu Frau Simon geführt und mich derſelben als Krankenpflegerin vorſtellte, nickte ſie mit dem Kopfe, wandte ſich aber ſogleich wieder ab, um einen Befehl zu erteilen. Ihre Züge konnte ich in dem zweifelhaften Lichte nicht erkennen. Fünf Minuten ſpäter waren wir auf der Fahrt nach Horonewos. Ein Leiterwagen, der eben von dort Verwundete gebracht, diente uns als Fahrgelegenheit. Wir ſaßen auf dem Stroh, das vielleicht noch blutig war von der vorigen Fracht. Der Soldat, welcher neben dem Kutſcher ſaß, hielt eine Laterne, welche unſtäten Schein auf unſere Straße warf. „Böſer Traum — böſer Traum“: immer mehr und mehr hatte ich den Eindruck, einen ſolchen durchzumachen. Das Einzige, was mich an die Wirklichkeit meiner Lage mahnte und was mir zugleich eine Beruhigung war, war Doktor Breſſers Nähe. Ich hatte meine Hand in die ſeine gelegt und ſein anderer Arm unterſtützte mich: „Lehnen Sie ſich an mich, Baronin Martha — armes Kind“, ſagte er ſanft. Ich lehnte mich an, ſo gut ich konnte, aber doch: welche Folterlage! Wenn man ſein ganzes Leben lang gewohnt war, auf ſchwellenden Sitzen, ſprungfederigen Wagen und weichen Betten zu ruhen, wie ſchwer fällt es da — zumal nach einer ermüdenden Tagereiſe, in einem ſchüttelnden Leiterwagen zu ſitzen, deſſen harter Brettergrund nur mit einer Lage blutfeuchten Strohs gepolſtert iſt. Und ich war doch unverletzt — wie muß erſt denen zu Mute ſein, die mit zerſchmetterten Gliedern, mit hervorſtehenden Knochenſplittern auf ſolchem Fuhrwerk über Stock und Stein gejagt werden? Bleiſchwer fielen mir die Lider zu. Ein wehthuendes Schläfrigkeitsgefühl peinigte mich. Bei der Unbequemlichkeit meiner Lage — alle Glieder ſchmerzten mich — bei der Erregtheit meiner Nerven war ja Schlaf unmöglich; deſto grauſamer wirkte das nicht zu bannende Schlafbedürfnis. Gedanken und Bilder, ſo verworren wie Fieberträume, wirbelten in meinem Hirn. Alle die Schauerſcenen, welche der Regimentsarzt erzählt hatte, wiederholten ſich vor meinem Geiſt, teils mit den Worten des Erzählers ſelbſt, teils als die Geſichts- und die Gehörsvorſtellungen, welche dieſe Worte hervorgerufen hatten: ich ſah die ſchaufelnden Totengräber, ſah die Hyänen einherſchleichen, hörte die verzweifelten Opfer des in Brand geſchoſſenen Lazareths ſchreien; und dazwiſchen fielen, als würden ſie laut und in des Regimentsarztes Stimme geſprochen, Worte wie: Aaskrähen, Marketenderbude, Sanitätspatrouille. Das hinderte mich aber nicht daneben auch noch das Geſpräch zu vernehmen, welches meine Wagengefährten halblaut miteinander führten: … „Ein Teil der geſchlagenen Armee flüchtete nach Königgrätz“, erzählte Doktor Breſſer. „Die Feſtung aber war verſchloſſen und von den Wällen wurde auf die Flüchtigen geſchoſſen — namentlich auf die Sachſen, die man in der Dämmerung für Preußen hielt. Hunderte ſtürzten ſich in die Wallgräben und ertranken … An der Elbe ſtockte die Flucht und die Verwirrung erreichte den höchſten Grad. Die Brücken waren von Pferden und Kanonen ſo vollgeſtopft, daß das Fußvolk keinen Platz mehr fand … Tauſende ſtürzten ſich in die Elbe — auch Verwundete“ … „Es ſoll entſetzlich ſein in Horonewos“, ſagte Frau Simon. „Alles von ſeinen Bewohnern verlaſſen — Dorf und Schloß. Sämtliche innere Räume zerſtört und doch mit hilfloſen Verwundeten angefüllt … Wie wohl wird den Unglücklichen die Labung thun, die wir ihnen bringen! Aber es wird zu wenig — zu wenig ſein!“ „Und zu wenig auch unſere ärztliche Hilfe“, verſetzte Doktor Breſſer. „Wir müßten unſerer Hundert ſein, um das Erforderliche thun zu können. Es fehlt an Inſtrumenten und Medikamenten — und hälfen uns auch dieſe? Die Überfüllung dieſer Ortſchaften iſt derart, daß der Ausbruch gefährlicher Epidemien droht. Die erſte Sorge iſt ſtets die, ſo viel Verwundete als möglich wegzubefördern, aber ihr Zuſtand iſt zumeiſt ein ſo jammervoller, daß kein Gewiſſen den Transport auf ſich nehmen kann … ſie fortſchaffen heißt, ſie töten; ſie dortlaſſen, heißt den Hoſpitalbrand herbeiführen — eine ſchwere Alternative! Was ich in dieſen Tagen — ſeit der Schlacht von Königgrätz, Schauriges und Trauriges geſehen, das überſteigt alle Begriffe. Sie müſſen ſich auf das Schlimmſte gefaßt machen, Frau Simon.“ „Ich habe langjährige Erfahrung und Mut. Je größer das Elend, deſto mehr ſteigt meine Willenskraft.“ „Ich weiß. Dieſer Ruf iſt Ihnen vorausgegangen. Ich hingegen, wenn ich ſo viel Elend ſehe, fühle allen Mut ſinken und es ſtockt mir das Herz. Hunderte — ja tauſende von Hilfsbedürftigen um Hilfe flehen hören und nicht helfen {können} — es iſt gräßlich! In all dieſen um das Schlachtfeld eiligſt errichteten Ambulancen fehlte es an Erquickungsmitteln; vor allem: kein Waſſer. Die meiſten vorhandenen Brunnen ſind von den Bewohnern unbrauchbar gemacht worden … weit und breit kein Stück Brot aufzutreiben … Alle Räume, die ein Dach tragen: Kirchen, Meierhöfe, Schlöſſer, Hütten, ſind mit Kranken gefüllt — alles, was einem Wagen gleicht, wird mit einer Ladung Verwundeter weggeführt … Die Straßen bedecken ſich nach allen Richtungen mit ſolchen Höllenkarren — denn wahrlich, was da an Leiden auf Rädern rollt, das iſt hölliſch. Da liegen ſie — Offiziere, Unteroffiziere und Soldaten — von Blut, Staub und Schmutz bis zur Unkenntlichkeit entſtellt, mit Wunden, für die es keine menſchenmögliche Hilfe gibt, Klagetöne, Schreie ausſtoßend, die nichts Menſchliches haben — und doch: die noch ſchreien können, ſind die Beklagenswerteſten nicht …“ „Da ſterben wohl Viele unterwegs?“ „Gewiß. Oder wenn ſie abgeladen worden — in irgend einem überfüllten Raum — enden ſie ſtill und unbemerkt auf dem erſten beſten Bündel Stroh, auf welches ſie ſich fallen ließen. Manche ſtill — manche aber auch in verzweifeltem Todeskampfe tobend und raſend, die haarſträubendſten Flüche ausſtoßend … Solche Flüche mußte wohl jener Herr Twinnig aus London gehört haben, welcher bei der Genfer Konferenz folgenden Vorſchlag machte: „Wenn der Zuſtand eines Verwundeten nicht die geringſte Hoffnung der Heilung übrig läßt, wäre es in dieſem Fall nicht angemeſſen, daß man ihm erſt den Troſt der Religion ſpende, ihm, ſo weit es die Umſtände geſtatten, einen Augenblick der Sammlung laſſe und dann ſeiner Agonie auf die wenigſt ſchmerzliche Weiſe ein Ende mache? Man verhinderte dadurch, daß er wenige Augenblicke ſpäter ſtirbt, das Fieber im Gehirn und vielleicht die Gottesläſterung auf der Zunge.“ „Wie unchriſtlich!“ rief Frau Simon. „Was? Das Gnadenſtoßgeben?“ „Nein — die Anſicht, daß eine inmitten der unerträglichſten Martern ausgeſtoßene Läſterung der Seele des Gemarterten gefährlich werden könne … So ungerecht iſt der Gott der Chriſten nicht und ſicher nimmt er jeden gefallenen Krieger in Gnaden auf“ … „Mohammeds Paradies wird auch jedem Türken zugeſichert, der einen Chriſten erſchlagen hat,“ entgegnete Breſſer. „Glauben Sie mir, geehrte Frau Simon, jene Gottheiten alle, welche als kriegslenkend dargeſtellt werden und deren Beiſtand und Segen die Prieſter und Befehlshaber den Kämpfern als Mordlohn verſprechen, die ſind alle für Läſterungen gleich taub wie für Bitten. Sehen Sie dort hinauf: jener Stern erſter Größe, mit rötlichem Lichte — man ſieht ihn nur alle zwei Jahre über unſeren Häuptern flimmern — oder vielmehr {leuchten}, er flimmert nicht — das iſt der Planet Mars — das dem Kriegsgott gewidmete Geſtirn; jenem Gott, der in der alten Zeit ſo gefürchtet und geehrt wurde, daß er weit mehr Tempel beſaß, als die Göttin der Liebe. Schon in der Schlacht bei Marathon, ſchon in dem engen Paß der Thermopylen hat jener Stern dem Kampf der Menſchen blutfarbig vorgeleuchtet und zu ihm ſtiegen die Flüche der Gefallenen auf; ihn beſchuldigten ſie ihres Unglücks, während er ahnungslos und friedlich — damals wie heute — die Sonne umkreiſte. Feindliche Geſtirne? … die gibt es nicht. Der Menſch hat keinen anderen Feind, als den Menſchen — der aber iſt grimmig genug. — Und auch keinen anderen Freund“, ſetzte Breſſer nach einer kleinen Pauſe hinzu. „Davon geben Sie ſelber ein Beiſpiel, hochherzige Frau, Sie ſind —“ „O Doktor!“ unterbrach Frau Simon. „Schauen Sie — dort, der Flammenſchein, am Horizont … ſicherlich ein brennendes Dorf!“ Ich öffnete die Augen und ſah den roten Schein. „Nein“, ſagte Doktor Breſſer — „es iſt der aufgehende Mond. Ich verſuchte, eine bequemere Stellung anzunehmen und ſetzte mich ein wenig auf. Fortan wollte ich vermeiden die Augen zu ſchließen: dieſer Zuſtand des Halbſchlafes mit dem Bewußtſein des Nichtſchlafens, worin die entſetzlichen Phantaſiebilder ihren wilden Reigen aufführten — das war gar ſo qualvoll … lieber an dem Geſpräche der beiden teilnehmen und mich von den eigenen Gedanken losreißen. Aber der Mann und die Frau waren verſtummt. Sie blickten nach der Stelle, wo nun wirklich das Nachtgeſtirn emporſtieg. Und nach einer Weile fielen meine Augen doch wieder zu. Diesmal {war} es der Schlaf. In der einen Sekunde, in der ich fühlte, daß ich einſchlief, daß die Welt um mich aufhörte zu beſtehen, empfand ich ſolche Wonne des Nichtſeins, daß mir ſelbſt der Bruder meines Beglückers — der Tod — ganz willkommen geweſen wäre. Ich weiß nicht, wie lange Zeit ich in dieſer negativ-ſeligen Exiſtenzentrückung zubrachte — aber plötzlich und gewaltſam wurde ich herausgeriſſen. Kein Lärm, keine Erſchütterung war es, was mich geweckt hatte, ſondern ein Qualm unerträglich verpeſteter Luft. „Was iſt das?!“ Gleichzeitig mit mir riefen auch die anderen dieſe Frage aus. Unſer Wagen bog um eine Ecke und am Wegrand ward uns die Antwort. Vom Monde hell beleuchtet, ragte da eine weiße Mauer empor, vermutlich eine Kirchhofmauer. Jedenfalls hatte ſie als Schutzwehr gedient — am Fuße derſelben, aufgeſchichtet, lagen zahlreiche Leichen … Der Verweſungsgeruch, der von dieſen toten Körpern aufſtieg, war es, der mich aus dem Schlaf geriſſen hatte. Als wir vorbeifuhren, hob ſich ein dichter Schwarm von Raben und Krähen kreiſchend von dem Leichenhaufen empor, flatterte eine Zeit lang — wie ſchwarzes Gewölk gegen den hellen Himmelhintergrund und ließ ſich dann wieder zum Schmauſe nieder … „Friedrich, mein Friedrich!!“ „Beruhigen Sie ſich, Baronin Martha“, tröſtete mich Breſſer; „Ihr Mann konnte nicht dabei geweſen ſein.“ Der kutſchierende Soldat hatte ſein Geſpann angetrieben, um ſchneller aus dem Bereiche des mephitiſchen Dunſtes hinwegzukommen; das Fuhrwerk raſſelte und ſtolperte dahin, als wären wir auf wilder Flucht. Ich glaubte, die Pferde gingen durch … zitternde Angſt erfaßte mich. Mit beiden Händen klammerte ich mich an Breſſers Arm; aber den Kopf mußte ich zurück wenden, um dorthin, nach jener Mauer zu ſchauen und — war es das täuſchende Licht des Mondes, waren es die Bewegungen der auf ihre Beute zurückgekehrten Vögel? — mir war es, als regte ſich dieſe ganze Schar von Toten, als ſtreckten uns dieſe Leichname die Arme nach, als rüſteten ſie ſich, uns zu verfolgen … Ich wollte ſchreien, aber die furchtgepreßte Kehle verſagte mir den Dienſt. 57. Viertes Buch. 1866. // 12. Abſchnitt