Das geht in den roten Heften noch ſeitenlang ſo fort. Was der Regimentsarzt von dem Gang einer Sanitätspatrouille über das Schlachtfeld erzählte, das enthält noch viele ähnliche und ärgere Dinge. So die Schilderung jener Augenblicke, da mitten in die Pflegearbeit Kugeln und Granaten fallen, neue Wunden reißend; oder wenn die Zufälligkeiten der Schlacht den Kampf und die Verbandplätze ſelber, knapp an die Ambulancen bringen und das ganze Sanitätsperſonal, ſammt den Ärzten und ſammt den Kranken, mitten in das Gewühl der ringenden oder fliehenden oder verfolgenden Truppen gerät; wenn ſcheue, ledige Roſſe des Weges geraſt kommen und die Tragbahre umſtürzen, auf welche man eben einen Schwerverwundeten gebettet, der jetzt zerſchmettert zu Boden geſchleudert wird … Oder dieſes — das grauenhafteſte Bild von allen —: Ein Gehöft, in welchem man hundert Verwundete untergebracht, verbunden und gelabt hat. — Die armen Teufel froh und dankbar, daß ihnen Rettung geworden — und eine Granate, die das Ganze in Brand ſchießt — Eine Minute und das Lazareth ſteht in Flammen — das Schreien, vielmehr das Geheul, welches aus dieſer Stätte der Verzweiflung gellt und welches in ſeinem wilden Weh alles übrige Getöſe übertönt, das wird wohl Jenen, die es hörten, ewig unvergeßlich bleiben … Weh mir! Auch mir, obgleich ich es nicht gehört, bleibt es unvergeßlich — denn während der Regimentsarzt erzählte, war mir wieder, als wäre mein Friedrich dabei, als hörte ich ſeinen Schrei aus dem brennenden Marterorte heraus …
„Ihnen wird übel, gnädige Frau,“ unterbrach ſich der Erzähler — „ich habe da Ihren Nerven wirklich zu viel zugemutet.“ —
Aber ich hatte noch nicht genug. Ich verſicherte, daß meine vorübergehende Schwäche nur die Folge der Hitze und einer ſchlechten Nacht ſei und wurde nicht müde, den Andern auszuforſchen. Es war mir immer noch, als hätte ich nicht genug gehört, als wären von dieſen geſchilderten Höllenkreiſen die letzten und hölliſchſten noch nicht geſchildert worden. Und wenn einmal der Durſt nach Gräßlichem erregt iſt, ſo ruht man nicht, bis er nicht mit dem Gräßlichſten gelöſcht worden. Und richtig: es gibt noch Schauerlicheres, als ein Schlachtfeld während — das iſt ein ſolches nach der Schlacht.
Kein Geſchützdonner, kein Fanfarengeſchmetter, keine Trommelwirbel mehr, nur leiſes ſchmerzliches Stöhnen und Sterberöcheln. Im zertretenen Erdboden rötlich ſchimmernde Pfützen, Blutlachen; — alle Feldfrucht zerſtört, nur hie und da ein unberührt gebliebenes, halmenbedecktes Ackerſtück; die ſonſt lachenden Dörfer in Trümmer und Schutt verwandelt. Die Bäume der Wälder verkohlt und geknickt; die Hecken von Kartätſchen zerriſſen … Und auf dieſer Wahlſtatt Tauſende und Tauſende von Toten und Sterbenden — hilflos Sterbenden! Keine Blüten noch Blumen ſind auf den Wegen und Wieſen zu ſehen, ſondern Säbel, Bajonette, Torniſter, Mäntel, umgeſtürzte Munitionswagen, in die Luft geflogene Pulverkarren, Geſchütze mit gebrochenen Laffetten … Neben den Kanonen, deren Schlünde von Rauch geſchwärzt ſind, iſt der Boden am blutigſten; dort liegen die meiſten und verſtümmelſten Toten und Halbtoten — von Kugeln buchſtäblich zerriſſen. Und die toten und halbtoten Pferde — ſolche, die auf den Füßen, welche ihnen geblieben ſind, ſich aufrichten, um wieder hinzuſinken, wieder ſich aufſtellen und wieder hinfallen, bis ſie die Köpfe heben, um ihren ſchmerzbeladenen Sterberuf hinauszuſchreien … Ein Hohlweg iſt mit in den Kot der Straße getretenen Körpern ganz angefüllt. Die Unglücklichen hatten ſich wohl hierher geflüchtet, um geborgen zu ſein — aber eine Batterie iſt über ſie hinweggefahren — von Pferdehufen und Rädern ſind ſie zermalmt … Viele darunter leben noch — eine breiige, blutige Maſſe, aber „leben noch“.
Und noch gibt es Hölliſcheres als Alles dies: es iſt das Erſcheinen des niederträchtigſten Abſchaums der kriegführenden Menſchheit — der Schlachtfeld-Hyäne. „Das ſchleicht herbei, das die Leichenbeute witternde Ungetüm, beugt ſich über Tote und noch Lebende herab und reißt ihnen die Kleider vom Leibe. Erbarmungslos. Die Stiefeln werden vom blutenden Bein, die Ringe von der verwundeten Hand gezogen — oder um den Ring zu haben, wird der Finger einfach abgeſchnitten; und wenn ſich das Opfer wehren will, dann wird es von der Hyäne gemordet oder — um nicht einſt wieder erkannt zu werden — ſticht ſie ihm die Augen aus …“
Ich ſchrie laut auf. Bei des Doktors letzten Worten hatte ich die ganze Scene wieder mitangeſehen, und die Augen, in welche die Hyäne ihr Meſſer gebohrt, das waren Friedrichs blaue, ſanfte, geliebte Augen …
„Verzeihen Sie mir, gnädige Frau, aber Sie haben es gewollt …“
„Ja, ja — ich will Alles hören. Was Sie da beſchrieben haben, war die Nacht, welche auf die Schlacht folgt — dieſe Scenen haben ſich bei Sternenſchein abgeſpielt —“
„Und bei Fackelſchein. Die vom Sieger zum Durchſuchen des Schlachtfeldes ausgeſchickten Patrouillen tragen Fackeln und Laternen. Und rote Laternen ragen an Signalſtangen empor, um die Orte zu bezeichnen, an welchen fliegende Hoſpitäler errichtet worden ſind.“
„Und der nächſte Morgen — wie zeigt der die Wahlſtatt?“
„Beinah noch fürchterlicher. Der Gegenſatz von dem helllächelnden Tagesgeſtirn zu der grauſigen Menſchenarbeit, die es beleuchtet, wirkt doppelt ſchmerzlich. Des Nachts hatte das ganze Schreckbild etwas geſpenſterhaft-phantaſtiſches, bei Tag iſt es einfach — troſtlos. Jetzt erſt ſieht man die Maſſenhaftigkeit der umherliegenden Leichen: auf den Straßen, zwiſchen den Feldern, in den Gräben, hinter Mauertrümmern; überall, überall Tote. Geplündert, mitunter nackt. Eben ſo die Verwundeten. Dieſe, welche trotz der nächtlichen Arbeit der Sanitätsmannſchaften noch immer in großer Zahl umherliegen, ſehen fahl und zerſtört aus, grün und gelb, mit ſtierem, ſtumpfſinnigem Blick; oder aber unter wütenden Schmerzen ſich krümmend, flehen ſie Jeden an, der in die Nähe kommt, daß er ſie töte. Schwärme von Aaskrähen laſſen ſich auf die Wipfel der Bäume nieder und verkünden mit lautem Gekrächz das lockende Feſtmahl … Hungrige Hunde aus den Dörfern kommen herbeigerannt und lecken das Blut der Wunden. Noch ſieht man einige Hyänen, welche noch immer haſtig weiter arbeiten … Und jetzt kommt das große Begraben —“
„Wer thut das? — Die Sanität?“
„Wie könnte die zu ſolcher Maſſenarbeit ausreichen? Die hat bei den Verwundeten vollauf zu thun.“
„Alſo kommandierte Truppen?“
„Nein: herbeigeſchafftes oder auch freiwillig heranlaufendes Geſindel: Landſtreicher, Leute vom Troß, welche ſich bei den Marketenderbuden, bei den Bagagewagen aufhielten, und welche jetzt neben den Bewohnern der Armenhäuſer und der Hütten von den Militärgewalten herbeigetrieben werden, um Gräber zu graben — recht große, das heißt — weite Gräber, denn tief werden ſie nicht gemacht. Dazu wäre keine Zeit. Dahinein wirft man die toten Körper — kopfüber, kopfunter, wie es gerade kommt. Oder man macht es ſo: über einen aus Leichen gebildeten Haufen wirft man ein bis zwei Fuß hohe Erde hinauf; das ſieht dann auch aus wie ein Tumulus. Ein paar Tage darauf kommt ein Regen und ſpült die Hülle von den verweſenden Leichnamen weg — aber was liegt daran? Die flinken und luſtigen Totengräber denken nicht ſo weit. Luſtige und flotte Arbeiter ſind ſie, das muß man ihnen laſſen. Es werden da Lieder gepfiffen und allerlei zweideutige Witze gemacht — ja mitunter tanzt eine Hyänenrunde um das offene Grab. Ob in manchen Körpern, die da hinabgeſchleudert oder mit Erde verſchüttet werden, noch Leben ſich regt — darum kümmern ſie ſich auch nicht. Der Fall iſt unvermeidlich, denn Starrkrampf tritt bei Verwundungen häufig auf. Manch zufällig Errettete haben von der Gefahr des Lebendig-begraben-werdens, der ſie entronnen, erzählt. Aber wie Viele giebt es derer, die nichts erzählen konnten? Wenn man einmal ein paar Fuß Erde über dem Mund liegen hat, ſo muß man den Mund wohl halten.“ …
O mein Friedrich, mein Friedrich! ſtöhnte es in meiner Seele.
„Das iſt das Bild des nächſten Morgens,“ ſchloß der Regimentsarzt. „Soll ich noch weiter erzählen, was den nächſten Abend geſchieht? Da wird —“
„Das will ich Ihnen ſagen, Herr Doktor,“ unterbrach ich. „In eine von den beiden Hauptſtädten der beteiligten Reiche iſt die telegraphiſche Nachricht des glorreichen Sieges angelangt. Da wurde vormittags — während des Hyänentanzes um die Gruben — in den Kirchen „Nun danket Alle Gott“ geſungen und abends — da ſtellt die Mutter, oder das Weib eines lebendig Begrabenen ein paar brennende Kerzen auf den Fenſterſims, denn die Stadt wird beleuchtet.“
„Ja, gnädige Frau, dieſe Komödie wird zu Hauſe aufgeführt. Indeſſen, auf dem Schlachtfeld ſelber iſt mit dem zweiten Sonnenuntergang die Tragödie noch lange nicht abgeſpielt. Außer Denjenigen, welche in die Lazarethe und in die Gräber untergebracht worden, gibt es noch die Ungefundenen. Hinter dichtem Gebüſch, in hohen Ährenfeldern, oder zwiſchen Bautrümmern verborgen, ſind ſie den Blicken der Krankenträger und Totengräber entgangen. Für jene Unglücklichen beginnt nun das Martyrium einer mehrere Tage und mehrere Nächte langen Agonie: in der ſengenden Hitze des Mittags, in den ſchwarzen Schauern der Mitternacht, gebettet auf Steinen und Diſteln, im ſcharfen Verweſungsgeruch der naheliegenden Leichen und der eigenen faulenden Wunden, den feſtenden Geiern zur noch zuckenden Beute …“