Die bange Warteſtunde war doch auch vorübergegangen. Den Röchelnden hatten ſie fortgetragen. „Legt ihn dort auf die Bank,“ hörte ich den Regimentsarzt befehlen, „den da kann man nicht mehr ins Spital bringen — er iſt ſchon dreiviertel tot.“ Und doch — dieſe Worte mußte er noch verſtanden haben, der Dreiviertel-Tote, denn mit einer verzweiflungsvollen Gebärde hob er beide Arme zum Himmel.
Jetzt ſaß ich im Waggon mit den beiden Ärzten und vier barmherzigen Schweſtern. Es war erſtickend heiß und der Raum war mit einem Duft von Hoſpital und Sakriſtei — Karbol und Weihrauch — erfüllt. Mir war unſäglich übel. Ich lehnte mich in meine Ecke zurück und ſchloß die Augen.
Der Zug ſetzte ſich in Bewegung. Das iſt ſo der Augenblick, wo jeder Reiſende ſich das Ziel vergegenwärtigt, dem er entgegengetragen wird. Öfters ſchon war ich auf dieſer Strecke gefahren und da winkte mir die Ankunft in einem gäſtegefüllten Schloſſe, in einem fröhlichen Badeorte — auch meine Hochzeitsreiſe — ſeliges Andenken — hatte ich auf dieſem Weg gemacht, einem glänzenden und liebevollen Empfang in der Hauptſtadt „Preußens“ (wie hatte letzteres Wort doch ſeither einen anderen Klang bekommen!) entgegen. — — Und heute? Was war heute unſer Ziel? Ein Schlachtfeld und umliegende Lazarethe — die Stätten des Todes und der Leiden. Mir ſchauderte.
„Gnädige Frau“, ſagte einer der Ärzte — „ich glaube, Sie ſind ſelber krank … Sie ſehen ſo bleich und leidend aus.“
Ich blickte auf. Der Sprecher war eine ſympathiſche, jugendliche Erſcheinung. Vermutlich war dies die erſte praktiſche Thätigkeit des kaum promovierten Mediziners. Schön von ihm, daß er ſeine erſten Dienſte dieſem gefahr- und beſchwerdevollen Amte widmete! Ich fühlte mich dieſen Menſchen, die da neben mir im Waggon ſaßen, dankbar für die Linderung, welche ſie den Leidenden zu bringen im Begriffe ſtanden. Auch den opfermutigen, wirklich „barmherzigen“ Schweſtern zollte ich im Herzen Bewunderung und Dank. Doch was brachte jeder dieſer guten Menſchen mit? Ein Lot Hilfe für tauſend Zentner Not. Die tapferen Nonnen mußten wohl für alle Menſchen jene überwindungskräftige Liebe im Herzen tragen, wie ſie mich für meinen Mann erfüllte; ſo wie ich vorhin empfunden, daß, wenn der furchtbar entſtellte und ekelerregende Soldat, der vor meinen Füßen röchelte, mein Gatte geweſen, aller Widerwille entſchwunden wäre — ſo empfanden Jene wohl jedem Menſchenbruder gegenüber, und zwar durch die Kraft einer höheren Liebe — diejenige zu ihrem erwählten Bräutigam Chriſtus. Aber ach — auch davon brachten die Edeln nur ein Lot! Ein Lot Liebe dorthin, wo tauſend Centner Haß gewütet …
„Nein, Herr Doktor,“ antwortete ich auf die teilnehmende Anfrage des jungen Arztes, „ich bin nicht krank, nur ein wenig angegriffen.“
„Ihr Herr Gemahl, ſo ſagte mir Baron S., ſei bei Königgrätz verwundet worden und Sie reiſen dahin, ihn zu pflegen,“ miſchte ſich der Stabsarzt in das Geſpräch; „wiſſen Sie, in welcher der umgebenden Ortſchaften er liegt?“
Das wußte ich nicht. „Mein Ziel iſt Königinhof,“ antwortete ich; „dort erwartet mich mein befreundeter Arzt, Doktor Breſſer —“
„Den kenne ich … er war an meiner Seite, als wir vor drei Tagen das Schlachtfeld abſuchten.“
„Das Schlachtfeld abſuchten“ … wiederholte ich ſchaudernd — „erzählen Sie —“
„Ja, ja, Herr Doktor, erzählen Sie!“ bat eine der Nonnen, „unſer Dienſt kann uns auch in die Lage bringen, bei ſolchem Suchen mitzuhelfen.“
Und der Regimentsarzt erzählte. Den Wortlaut ſeiner Schilderungen kann ich natürlich nicht mehr wiedergeben; auch ſprach er nicht in einem Fluſſe, ſondern mit häufigen Unterbrechungen, und gleichſam widerſtrebend, nur durch die hartnäckigen Fragen, mit welchen die wißbegierigen Nonnen und ich ihn beſtürmten, zum Sprechen gezwungen. Die abgeriſſenen Erzählungen riefen jedoch eine geſchloſſene Reihe von Bildern vor mein inneres Auge, die ſich dem Gedächtnis ſo lebhaft eingeprägt haben, daß ich dieſelben noch heute an mir vorüberziehen laſſen kann. Unter anderen Umſtänden hätte ich des Doktors Schilderungen nicht ſo deutlich erfaßt und behalten — man vergißt ja Gehörtes und Geleſenes ſo leicht — aber das Erzählte machte mir damals faſt den Eindruck von Miterlebtem. Ich war in einem Zuſtand hochgradiger Nervenanſpannung und Erregtheit; der fixe Gedanke an Friedrich, der ſich meiner bemächtigt hatte, bewirkte, daß ich bei jeder der geſchilderten Scenen mir Friedrich als beteiligte Perſon vorſtellte, und ſo ſind ſie mir wie ſelber durchgemachte ſchmerzliche Erfahrungen im Geiſte haften geblieben. In der Folge habe ich die von dem Regimentsarzt mitgeteilten Ereigniſſe in die roten Hefte eingetragen — ſo, als hätten ſie ſich vor meinen eigenen Augen abgeſpielt.
Die Ambulance iſt hinter einem ſchützenden Hügelrücken aufgerichtet worden. Drüben tobt die Schlacht. Der Boden zittert und es zittert die glühende Luft; Dampfwolken ſteigen auf, die Geſchütze brüllen … Jetzt heißt es, Patrouillen ausſchicken, welche ſich auf die Kampfplätze begeben, um die Schwerverwundeten aufzuleſen und hierherzubringen. Gibt es etwas heldenhafteres, als ſolchen Gang mitten in den ſummenden Kugelregen hinein, an allen Schrecken des Kampfes vorüber, allen Gefahren des Kampfes ausgeſetzt — ohne ſelber deſſen wildem Rauſche ſich hingeben zu dürfen? Rühmlich iſt dieſes Amt — nach Kriegsbegriffen — nicht. „Bei der Sanität“ — da dient doch kein feſcher, ſtrammer, ſchneidiger Junge — da verdreht doch Keiner die Köpfe der Mädchen. Und „Feldſcheer“ — wenn der auch heute nicht mehr ſo — ſondern „Regimentsarzt“ heißt, der kann ſich doch mit keinem Kavallerielieutenant meſſen?“ …
Der Sanitätskorporal kommandiert ſeine Leute nach einer Niederung, gegen welche eine Batterie ihr Feuer eröffnet hat. Sie gehen durch den grauen Schleier des Pulverdampfes, und Staub und Erde, da, wo eine Kugel zu ihren Füßen einſchlägt, wirbelt vor ihnen auf. Sie ſind nur wenige Schritte gegangen, ſo begegnen ſie ſchon Verwundeten — leichter Verwundeten, die ſich entweder einzeln oder paarweiſe, einander gegenſeitig unterſtützend, zur Ambulance ſchleppen. Einer fällt zuſammen. Es iſt aber nicht ſeine Wunde, die ihm die Kraft gebrochen — es iſt Erſchöpfung. „Wir haben zwei Tage nichts gegeſſen — machten einen forcierten Marſch von zwölf Stunden … kamen ins Bivouak … zwei Stunden darauf Alarm und die Schlacht“ …
Die Patrouille geht weiter. Dieſe Leute finden ſelber ihren Weg und können den zuſammengebrochenen Kameraden mitnehmen. Die Hilfe muß Anderen, noch Hilfsbedürftigeren aufgeſpart werden.
Auf dem Steingerölle eines Hügelabhanges liegt ein blutiger Knäuel. Es ſind ein Dutzend Soldaten. Der Sanitätsunteroffizier bleibt ſtehen und legt ein paar Verbände an. Aber mitgenommen werden dieſe Verwundeten nicht; erſt müſſen die geholt werden, die mitten auf dem Gefechtsfelde fielen — vielleicht kann man dieſe hier beim Rückgang aufleſen …
Und wieder geht die Patrouille weiter, dem Kampfplatz näher. In immer dichteren Scharen wanken Verwundete heran, ſich ſelber oder einander mühſam fortſchleppend. Das ſind ſolche, die doch noch gehen können. Unter ſie wird der Inhalt der Feldflaſchen verteilt, man legt ihnen eine Binde auf quellende Wunden und weiſt ihnen den Weg nach der Ambulance. Und wieder geht es weiter. An Toten vorüber — an Hügeln von Leichen … Vieler dieſer Toten zeigen die Spuren entſetzlichſter Agonie. Unnatürlich weit aufgeriſſene Augen — die Hände in die Erde gebohrt — die Haare des Bartes aufgerichtet — zuſammengepreßte Zähne unter krampfhaft geöffneten Lippen — die Beine ſtarr ausgeſtreckt, ſo liegen ſie da.
Jetzt durch einen Hohlweg. Hier liegen ſie aufgeſchichtet. Tote und Verwundete untereinander. Letztere begrüßen die Sanitätspatrouille wie rettende Engel und flehen und ſchreien um Hilfe. Mit gebrochenen Stimmen, weinend, wimmernd, rufen ſie nach Rettung, nach einem Schluck Waſſer … Aber ach — die Vorräte ſind faſt erſchöpft, und was können die wenigen Menſchen thun? Ein Jeder müßte hundert Arme haben, um da retten zu können … doch Jeder thut, was er kann. Da erſchallt der langgezogene Ton des Sanitätsrufes. Die Leute ſtutzen und halten in ihren Handreichungen inne. „Verlaßt uns nicht, verlaßt uns nicht!“ flehen die Unglücklichen; doch wieder und wieder ruft das Hornſignal, welches, von allem andern Getöſe unterſcheidbar, deutlich in die Weite dringt. Da kommt auch noch ein Adjutant herangeſprengt: „Mannſchaft von der Sanität?“ „Zu Befehl!“ erwidert der Korporal. „Mir nach.“
Offenbar ein verwundeter General … Da heißt es gehorchen und die Anderen verlaſſen … „Mut und Geduld, Kameraden, wir kommen wieder.“ Die es ſagen und die es hören, ſie wiſſen, daß das nicht wahr iſt.
Und wieder geht es weiter. Dem Adjutanten — der, voranſprengend, die Richtung weiſt — im Eilſchritt nach. Da gibt es unterwegs kein Aufhalten, ob auch von rechts und links die Weh- und Hilferufe ertönen, ob auch auf die Eilenden ſelber manche Kugel fällt und Einen oder den Anderen hinſtreckt — nur weiter, nur vorüber. Vorüber an unter dem Schmerz ihrer Wunden ſich krümmenden Menſchen, welche von über ſie hinjagenden Roſſen zertreten, oder von über ihre Glieder fahrenden Geſchützen zermalmt wurden und welche, die Rettungsmannſchaft erblickend, in ihrer Verſtümmelung ſich ein letztesmal emporbäumen: vorüber, vorüber!