Bertha von Suttner: Die Waffen nieder! // Eine Lebensgeſchichte 51. Viertes Buch. 1866. // 6. Abſchnitt Die Schlacht von Königgrätz war geſchlagen. Wieder eine Niederlage! Diesmal, wie es ſcheint, eine entſcheidende … Mein Vater berichtete uns dieſe Nachricht in einem Tone, als hätte er den Weltuntergang verkündet. Und kein Brief, keine Depeſche von Friedrich! War er verwundet — tot? — Konrad gab ſeiner Braut Nachricht: er war unverſehrt. Die Verluſtliſten waren noch nicht angekommen; es hieß nur, bei Königgrätz gab es vierzigtauſend Tote und Verwundete. Und die letzte Nachricht, die ich erhalten hatte, lautete: „Wir begeben uns heute nach Königgrätz.“ Am dritten Tage noch immer kein Zeichen. Ich weine und weine ſtundenlang. Eben weil mein Kummer noch nicht ganz hoffnungslos iſt, {kann} ich weinen; wenn ich wüßte, daß Alles vorbei iſt, ſo gäbe es für die Wucht meines Schmerzes keine Thränen mehr. Auch mein Vater iſt tiefgedrückt. Und Otto, mein Bruder, tobt vor Rachſucht. Es heißt, daß jetzt in Wien Freiwilligen-Korps errichtet werden — dieſen will er ſich anſchließen. Ferner heißt es, Benedek ſolle ſeiner Stelle entſetzt und ſtatt ſeiner der ſiegreiche Erzherzog Albrecht nach dem Norden berufen werden, dann gäbe es vielleicht doch noch ein Aufraffen, ein Zurückſchlagen des übermütigen Feindes, der jetzt uns ganz vernichten wolle, der im Vormarſch auf Wien begriffen ſei … Angſt, Wut, Schmerz erfüllt alle Gemüter; der Name „die Preußen“ drückt Alles aus, was es Haſſenswertes gibt. {Mein} einziger Gedanke iſt Friedrich — und keine, keine Nachricht! Nach einigen Tagen langte ein Brief Doktor Breſſers an. Er war in der Umgebung des Schlachtfeldes thätig, um zu helfen, was er helfen konnte. Die Not ſei grenzenlos, ſchrieb er, jeder Einbildungskraft ſpottend. Er hatte ſich einem ſächſiſchen Arzte, Doktor Brauer, angeſchloſſen, der von ſeiner Regierung ausgeſandt worden war, um nach dem Augenſchein über die Lage zu berichten. In zwei Tagen ſollte auch eine ſächſiſche Dame ankommen — Frau Simon, eine neue Miß Nightingale — welche ſeit Ausbruch des Krieges in Dresdener Hoſpitälern thätig geweſen, und welche ſich erboten hatte, die Reiſe nach den böhmiſchen Schlachtfeldern anzutreten, um in den umliegenden Hoſpitälern ihre Hilfe zu leiſten. Doktor Brauer und mit ihm Doktor Breſſer wollten ſich an dem beſtimmten Datum, ſieben Uhr abends, nach Königinhof, der letzten Station vor Königgrätz, bis wohin die Eiſenbahn noch verkehrte, begeben und die mutige Frau daſelbſt erwarten. Breſſer bat uns, womöglich eine Sendung von Verbandzeug und dergleichen nach jener Station zu ſchicken, damit er ſie dort in Empfang nehmen könne. Kaum hatte ich dieſen Brief geleſen, war mein Entſchluß gefaßt: — die Kiſte mit Verbandzeug würde ich ſelber bringen. In einem jener Spitäler, welche Frau Simon beſuchen wollte, lag möglicherweiſe Friedrich … Ich würde mich ihr anſchließen und den teuren Kranken finden, pflegen, retten … Die Idee erfaßte mich mit zwingender Gewalt, ſo zwingend, daß ich ſie für eine magnetiſche Fernwirkung des ſehnenden Wunſches auffaßte, mit dem der Geliebte nach mir rief. Ohne Jemandem aus meiner Familie meinen Vorſatz mitzuteilen — denn ich wäre nur auf allſeitigen Widerſpruch geſtoßen — machte ich mich ein paar Stunden nach Erhalt des Breſſerſchen Briefes auf den Weg. Ich hatte vorgegeben, daß ich die von dem Doktor verlangten Dinge in Wien ſelber beſorgen und expedieren wolle, und ſo konnte ich ohne Schwierigkeit von Grumitz fortkommen. Von Wien aus würde ich dann meinem Vater ſchreiben: „Bin nach dem Kriegsſchauplatze abgereiſt.“ Wohl ſtiegen mir Zweifel auf meine Unfähigkeit und Unerfahrenheit, mein Abſcheu vor Wunden, Blut und Tod; aber dieſe Zweifel verjagte ich: was ich that, ich {mußte} es thun. Des Gatten Blick, flehend und gebietend, war auf mich gerichtet, von ſeinem Schmerzenslager ſtreckte er die Arme nach mir aus und: „Ich komme, ich komme.“ war das Einzige, was ich zu denken vermochte. Ich fand die Stadt Wien in unſäglicher Aufregung und Beſtürzung. Verſtörte Geſichter ringsumher. Mein Wagen kreuzte ſich mit mehreren Wagen, welche mit Verwundeten gefüllt waren. Immer ſpähete ich, ob nicht etwa Friedrich darunter ſei … Aber nein: ſein Sehnſuchtsruf, der an meinen Fibern zerrte, drang von weiter her — von Böhmen. Hätte man ihn zurücktransportiert, ſo wäre die Nachricht davon gleichzeitig zu uns gelangt. Ich ließ mich in einen Gaſthof führen. Von dort aus beſorgte ich meine Einkäufe, expedierte den für Grumitz beſtimmten Brief, warf mich in einen möglichſt einfachen, ſtrapazenfähigen Reiſeanzug und fuhr nach dem Nordbahnhof. Ich wollte den nächſtabgehenden Zug benutzen, um rechtzeitig an meine Beſtimmung zu gelangen. Es war wie eine fixe Idee, unter deren Herrſchaft ich meine Handlungen ausführte. Auf dem Bahnhof herrſchte reges — Leben — oder ſoll ich „reges Sterben“ ſagen? Die Halle, die Säle, der Perron; Alles voll Verwundeter, Viele davon in den letzten Zügen. Und ein maſſenhaftes Menſchengewirre: Krankenpfleger, Sanitätsſoldaten, barmherzige Schweſtern, Ärzte; Männer und Frauen aus allen Geſellſchaftsklaſſen, die da kamen, um nachzuſehen, ob der letzte Transport nicht einen von den Ihren gebracht; oder auch, um unter die Verwundeten Geſchenke, Wein, Cigarren u._ſ._w. zu verteilen. Das Beamten- und das Dienſtperſonal überall bemüht, das vordringende Publikum zurückzudrängen. Auch mich wollte man wieder fortſchicken: „Was wollen Sie? … Platz da! … Das Überreichen von Eß- und Trinkwaren iſt verboten … wenden Sie ſich an das Komitee … dort werden die Geſchenke in Empfang genommen“ … „Nein, nein“, ſagte ich, „ich will abreiſen. Wann fährt der nächſte Zug?“ Auf dieſe Frage konnte ich lange keine Auskunft erhalten. Die meiſten Abfahrtszüge ſeien eingeſtellt, erfuhr ich endlich, da die Linie für ankommende Züge, die eine Ladung Verwundeter nach der anderen brachte, offen bleiben mußte. Paſſagierzüge gingen heute überhaupt keine mehr ab. Nur einer mit nachgeſchickten Reſervetruppen, und ein anderer zur ausſchließlichen Benutzung des patriotiſchen Hilfsvereins, der mehrere Ärzte und barmherzige Schweſtern und eine Ladung nötigen Materials nach der Umgebung von Königgrätz abführen ſollte. „Und da könnte ich nicht mitfahren?“ „Unmöglich!“ Immer deutlicher und flehender vernahm ich Friedrichs Hilferuf — und nicht kommen können: es war zum verzweifeln! Da erblickte ich am Eingang der Halle Baron S., den Vize-Vorſteher des patriotiſchen Hilfsvereins, denſelben, den ich ſchon vom Kriegsjahre 59 her kannte. Ich eilte auf ihn zu: „Um Gotteswillen, Baron S., helfen Sie mir! Sie erkennen mich doch?“ „Baronin Tilling, Tochter des General Grafen Althaus — gewiß habe ich die Ehre … Womit kann ich Ihnen dienen?“ „Sie expedieren einen Zug nach Böhmen … laſſen Sie mich mitfahren! Mein ſterbender Mann verlangt nach mir … Wenn Sie ein Herz haben — und Sie beweiſen ja durch Ihre Thätigkeit, wie ſchön und edel Ihr Herz iſt — ſo ſchlagen Sie mir meine Bitte nicht ab!“ Es gab noch allerlei Zweifel und Bedenken, aber ſchließlich wurde meinem Wunſche willfahrt. Baron S. rief einen der vom Hilfsverein entſendeten Ärzte herbei und empfahl mich, als Mitreiſende, ſeinem Schutz. Bis zur Abfahrt war noch eine Stunde. Ich wollte den Warteſaal aufſuchen, aber jeder verfügbare Raum war in ein Hoſpital verwandelt. Wo man hinblickte, überall kauernde, liegende, verbundene, bleiche Geſtalten. Ich mochte nicht hinſchauen. Das bischen Energie, das ich beſaß, das mußte ich mir auf meine Fahrt, und auf deren Ziel aufſparen. Von aller Kraft, allem Mitgefühl, aller Hilfsleiſtungsfähigkeit, die mir zu Gebote ſtand, durfte ich hier nichts ausgeben; das gehörte nur ihm — ihm, der mich rief. Es war indes kein Winkel zu finden, wo mir der Jammeranblick erſpart geblieben wäre. Ich hatte mich auf den Perron geflüchtet und dort mußte ich gerade das Ärgſte mit anſehen: die Ankunft eines langen Zuges, deſſen ſämtliche Waggons mit Verwundeten gefüllt waren, und die Abladung der Letzteren. Die leichter Bleſſierten ſtiegen ſelber aus und ſchleppten ſich vorwärts, die Meiſten mußten aber unterſtützt, oder gar getragen werden. Die verfügbaren Tragbahren waren gleich beſetzt und die überzähligen Patienten mußten bis zur Rückkunft der Träger einſtweilen auf den Boden gelagert werden. Vor meine Füße, auf dem Platze, wo ich auf einer Kiſte ſaß, legten ſie Einen hin, der unausgeſetzt ein gurgelndes Röcheln ausſtieß. Ich beugte mich herab, um ihm ein teilnehmendes Wort zu ſagen, aber entſetzt fuhr ich wieder zurück und verbarg mein Geſicht in beide Hände — der Eindruck war zu fürchterlich geweſen. Das war kein menſchliches Angeſicht mehr — der Unterkiefer weggeſchoſſen, ein Auge herausquellend … dazu ein erſtickender Qualm von Blut- und Unratgeruch … Ich hätte aufſpringen und fliehen mögen, doch ward mir totenübel und mein Kopf fiel an die hinter mir liegende Mauer zurück. „O ich feiges, kraftloſes Geſchöpf!“ — ſchalt ich mich — „was ſuche ich hier in dieſen Jammerſtätten, wo ich nichts — nichts helfen kann … wo ich ſolchem Ekel unterliege“ … Nur der Gedanke an Friedrich raffte mich wieder empor. Ja, für ihn, auch wenn er in ſolchem Zuſtande wäre, wie der Elende zu meinen Füßen, könnte ich Alles ertragen — ich würde ihn noch umfangen und küſſen, und aller Ekel, alles Grauen verſänke in das eine allbeſiegende Gefühl — in {Liebe} — „Friedrich — mein Friedrich, ich komme!“ wiederholte ich halblaut dieſen einen fixen Gedanken, der mich ſeit der Ankunft des Breſſerſchen Briefes erfaßt und nicht mehr losgelaſſen hatte. Eine furchtbare Idee durchflog mein Hirn: Wie wenn dieſer — Friedrich wäre? Ich ſammelte meine Kräfte und blickte noch einmal hin: Nein, er war es nicht. 52. Viertes Buch. 1866. // 7. Abſchnitt