„Es iſt unerhört! … Niederlage auf Niederlage! Zuerſt das von Clam-Gallas verbarrikadierte Dorf Podol erſtürmt — bei Nacht, bei Mond- und Flammenſchein genommen — dann Gitſchin erobert … Das Zündnadelgewehr — das verdammte Zündnadelgewehr mähte die unſeren reihenweiſe nieder. Die beiden großen feindlichen Armeekorps — das vom Kronprinzen und das vom Prinzen Friedrich Karl befehligte — haben ſich vereinigt und dringen gegen Münchengrätz vor“ …
So klangen die Schreckensnachrichten, welche mein Vater ebenſo heftig jammernd vortrug, wie er jubelnd die Siegesnachrichten von Cuſtozza berichtet hatte. Aber noch ſchwankte ſeine Zuverſicht nicht:
„Sie ſollen nur kommen, Alle — Alle in unſer Böhmen und dort vernichtet werden, bis auf den letzten Mann … Einen Ausweg, einen Rückzug giebt es dann nicht mehr für ſie, wir ſchließen ſie ein, wir umzingeln ſie … Und das entrüſtete Landvolk ſelber wird ihnen den Garaus machen … Es iſt nicht gar ſo vorteilhaft, als man glauben mag, in Feindesland zu operieren, denn da hat man nicht nur das Heer, ſondern die ganze Bevölkerung gegen ſich … Aus den Häuſern von Trautenau goſſen die Leute aus den Fenſtern ſiedendes Waſſer und Öl auf die Menſchen —“
Ich ſtieß einen dumpfen Laut des Ekels aus.
„Was willſt Du?“ ſagte mein Vater achſelzuckend, „es iſt freilich grauenhaft — aber das iſt der Krieg.“
„Dann behaupte wenigſtens nie, daß der Krieg die Menſchen veredle! — Geſtehe, daß er ſie entmenſcht, vertigert, verteufelt: … Siedendes Öl! … Ach! …
„Gebotene Selbſtverteidigung und gerechte Rache, liebe Martha. Glaubſt Du etwa, ihre Zündnadelgeſchoſſe thun den unſeren wohl? … Wie das wehrloſe Schlachtvieh müſſen unſere Tapferen dieſer mörderiſchen Waffe unterliegen. Aber wir ſind zu zahlreich, zu diszipliniert, zu kampftüchtig, um nicht doch noch über die „Schneidergeſellen“ zu ſiegen. Zu Anfang ſind gleich ein paar Fehler begangen worden. Das gebe ich zu. Benedek hätte gleich die preußiſche Grenze überſchreiten ſollen … Es ſteigen mir Zweifel auf ob dieſe Feldherrnwahl eine ganz glückliche war … Hätte man lieber den Erzherzog Albrecht hinauf geſchickt und dem Benedek die Süd-Armee übergeben … Aber ich will nicht zu früh verzagen — bis jetzt haben ja eigentlich doch nur vorbereitende Gefechte ſtattgefunden, welche von den Preußen zu großen Siegen aufgebauſcht werden — die Entſcheidungsſchlachten kommen erſt. Jetzt konzentrieren wir uns bei Königgrätz; dort — über hunderttauſend Mann ſtark — erwarten wir den Feind … dort wird unſer nördliches Cuſtozza geſchlagen!“
Dort würde auch Friedrich mitkämpfen. Sein letztes, am ſelben Morgen angelangtes Briefchen trug die Nachricht: „Wir begeben uns nach Königgrätz.“
Ich hatte bisher regelmäßig Kunde erhalten. Obwohl er in ſeinem erſten Briefe mich darauf vorbereitet hatte, daß er nur wenig werde ſchreiben können, ſo hat Friedrich doch jede Gelegenheit benützt, ein paar Worte an mich zu richten. Mit Bleiſtift, zu Pferd, im Zelt — in flüchtiger, nur mir leſerlicher Schrift, ſo ſchrieb er die aus ſeinem Notizbüchelchen herausgeriſſenen, für mich beſtimmten Blätter voll. Manche hatte er Gelegenheit abzuſchicken, manche gelangten erſt ſpäter, erſt nach dem Feldzug in meine Hände.
Bis zur Stunde habe ich dieſe Andenken aufbewahrt. Das ſind keine ſorgfältig ſtiliſierten Kriegsberichte, wie ſie Zeitungskorreſpondenten ihren Redaktionen, oder Kriegsſchriftſteller ihren Verlegern bieten, keine mit Aufwand ſtrategiſcher Fachkenntniſſe entworfene Gefechtsskizzen, und keine mit rhetoriſchem Schwung ausgeführte Schlachtgemälde, in welchen der Erzähler immer bedacht iſt, ſeine eigene Unerſchrockenheit, Heldenhaftigkeit und patriotiſche Begeiſterung durchleuchten zu laſſen. Alles dies ſind Friedrichs Aufzeichnungen nicht, das weiß ich; was ſie aber ſind, das vermag ich nicht zu beſtimmen. Hier folgen einige:
Im Bivouak.
„Ohne Zelte … Es iſt ja eine ſo laue, herrliche Sommernacht — der Himmel, der große gleichgültige, voll flimmernder Sterne … Die Leute liegen auf dem Boden, erſchöpft von den langen, ermüdenden Märſchen. Nur für uns Stabsoffiziere wurden ein paar Zelte aufgeſchlagen. In dem meinen ſtehen drei Feldbetten. Die beiden Kameraden ſchlafen. Ich ſitze an dem Tiſch, worauf die geleerten Groggläſer und eine brennende Kerze ſtehen. Beim ſchwachen flackernden Schein der letzteren (es weht von dem offenen Eingang ein Luftzug herein) ſchreibe ich Dir, mein geliebtes Weib. Auf mein Lager habe ich den Puxl hingelegt … war der müd’, der arme Kerl! Ich bereue faſt, ihn mitgenommen zu haben; der iſt auch, was die unſeren immer von der preußiſchen Landwehr behaupten: „an die Strapazen und Entbehrungen eines Feldzugs nicht gewöhnt“. Jetzt ſchnauft er wohlig und ſüß — ich glaube er träumt, wahrſcheinlich von ſeinem Freund und Gönner Rudolf Grafen Dotzky. Und ich träum’ von Dir, Martha … Zwar bin ich wach; aber täuſchend, wie ein Traumbild, ſehe ich Deine liebe Geſtalt in jener halbdunklen Zeltecke, auf einem Feldſtuhl ſitzen … Welche Sehnſucht ergreift mich, dort hinzugehen und mein Haupt in Deinen Schooß zu legen. Ich thu’ es aber nicht, weil ich weiß, daß dann das Bild zerflattern würde …
Ich trat einen Augenblick hinaus. Die Sterne flimmern gleichgültiger als je. Auf dem Boden huſchen verſchiedene Schatten: es ſind Nachzügler. Viele, Viele, blieben unterwegs zurück; jetzt haben ſie ſich, vom Wachtfeuer angezogen, hierher geſchleppt. Aber nicht Alle — Manche liegen noch in einem entfernten Graben oder Kornfeld. Das war aber auch eine Hitze, während dieſes forcierten Marſches! Die Sonne brannte, als wollte ſie uns das Hirn zum Sieden bringen; dazu der ſchwere Torniſter, das ſchwerere Gewehr auf den wundgewetzten Schultern … und doch, es hat Keiner gemurrt. Aber hingefallen ſind ein paar, und konnten nicht wieder aufſtehen. Zwei oder drei erlagen dem Sonnenſtich und blieben gleich tot. Ihre Leichen wurden auf einen Ambulanzkarren geladen.
Die Juninacht, ſo mond- und ſterndurchleuchtet, ſo warm ſie auch iſt, iſt doch entzaubert. Man hört keine Nachtigallen und keine zirpenden Grillen; man atmet keine Roſen- und Jasmingerüche. Die ſüßen Laute werden durch die ſcharrenden und wiehernden Pferde, durch die Stimmen der Leute und das Geräuſch der Patrouillenſchritte unterdrückt; die ſüßen Gerüche durch Juchten-Sattelzeug- und ſonſtige Kaſernenausdünſtungen überduftet. Aber das iſt noch Alles nichts: noch hört man nicht feſtende Raben krächzen, noch riecht man nicht Pulver, Blut und Verweſung. Das Alles kommt erſt — ad majorem patriae gloriam. Merkwürdig, wie blind die Menſchen ſind! Anläßlich der einſt „zur größeren Ehre Gottes“ entflammten Scheiterhaufen brechen ſie in Verwünſchungen über blinden und grauſamen, ſinnloſen Fanatismus aus, und für die leichenbeſäeten Schlachtfelder der Gegenwart ſind ſie voll Bewunderung. Die Folterkammern des finſteren Mittelalters flößen ihnen Abſcheu ein — auf ihre Arſenale aber ſind ſie ſtolz … Das Licht brennt herab, die Geſtalt in jener Ecke hat ſich verflüchtigt — ich will mich auch zur Ruhe legen, neben unſeren guten Puxl.“
Auf einem Hügel oben, in einer Gruppe von Generälen und hohen Offizieren, mit einem Feldſtecher am Auge: das iſt die an äſthetiſchen Eindrücken ergiebigſte Situation in einem Kriege. Das wiſſen auch die Herren Schlachtenmaler und Zeitungsilluſtratoren: bewaffneten Auges rundſchauende Feldherren auf einer Anhöhe werden immer wieder gezeichnet — ebenſo oft, wie die an der Spitze ihrer Truppen auf einem möglichſt weißen, hochtrabenden Pferde voranſtürmenden Führer, welche, den Arm nach einem rauchenden Punkt des Hintergrundes ausgeſtreckt, den Kopf zu den Nachſprengenden umgewendet, offenbar rufen: „Mir nach, Kinder!“
Von der Hügelſtation herab ſieht man wahrlich ein Stück Kriegspoeſie. Das Bild iſt großartig und genügend entfernt, um wie ein richtiges Gemälde zu wirken, ohne die Schrecken- und Ekelhaftigkeiten der Wirklichkeit: kein fließendes Blut, kein Sterberöcheln — nichts als erhaben prächtige Linien- und Farbeneffekte. Dieſe auf der langgeſtreckten Straße ſich fortſchlängelnde Heerſäule, dieſer unabſehbare Zug von Fußvolkregimentern, von Kavallerieabteilungen und Batterien; dann der Munitionstrain, requirierte Bauernwagen, Packpferde und hinterher noch der Troß. Noch gewaltiger geſtaltet ſich das Bild, wenn auf der unter dem Hügel ausgebreiteten Landſchaft nicht nur die Fortbewegung eines, ſondern der Zuſammenſtoß zweier Heere zu ſehen iſt. Wie da die blitzenden Klingen, die flatternden Fahnen, die Uniformen aller Art, die ſich bäumenden Roſſe gleich wildempörten Fluten durcheinander wogen; darüber Dampfwolken, die an manchen Stellen zu dichten, das Bild verhüllenden Schleiern ſich ballen, und wenn ſie reißen, kämpfende Gruppen enthüllen … Dazu als Begleitung der durch die Berge rollende Lärm der Geſchütze, von welchem jeder Schlag das Wort Tod — Tod — Tod — durch die Lüfte donnert … Ja, ſo etwas mag zu Kriegsliedern begeiſtern!
Auch zu der Verfaſſung jener zeithiſtoriſchen Berichte, welche nach dem Feldzug veröffentlicht werden müſſen, bietet die Hügelpoſition günſtige Gelegenheit. Da läßt ſich allenfalls mit einiger Richtigkeit erzählen: die Diviſion X ſtößt bei N. auf den Feind; — drängt ihn zurück; — erreicht das Gros der Armee; — ſtarke feindliche Abteilungen zeigen ſich an der linken Flanke des Korps u. ſ. w. u. ſ. w. Aber wer nicht auf dem Hügel durch den Feldſtecher ſchaut, wer ſelber an der „Aktion“ teilnimmt, der kann nie — nie etwas Glaubwürdiges über den Fortgang einer Schlacht erzählen. Er ſieht, denkt und fühlt nur das Nächſte; was er nachher berichtet, iſt Konjektur zu deren Veranſchaulichung er ſich der alten Clichés bedient. „He, Tilling,“ ſagte mir heute einer der Generäle, neben denen ich auf dem Hügel ſtand — „Iſt das nicht impoſant? Ein Prachtheer, wie? Woran denken Sie eben?“ Woran ich dachte? Das konnte ich dem Vorgeſetzten nicht gut ſagen; ich antwortete alſo allergehorſamſt etwas Unwahres. Allergehorſamlichkeit und Wahrheit haben ohnedies nichts miteinander zu ſchaffen. Letztere iſt ein gar ſtolzes Weſen: von allem Knechtiſchen wendet ſie ſich verächtlich ab.
„Das Dorf iſt unſer — nein, es iſt des Feindes — und wieder unſer — und abermals des Feindes, aber ein Dorf iſt’s nicht mehr, ſondern ein rauchender Trümmerhaufen.
Die Bewohner (war es nicht eigentlich ihr Dorf?) hatten es ſchon früher verlaſſen und waren geflohen. Zum Glück — denn der Kampf in einem bewohnten Orte iſt gar etwas Fürchterliches, denn da fallen die Kugeln von Feind und Freund mitten in die Stuben hinein und töten Weiber und Kinder. — Eine Familie war dennoch in dem Orte zurückgeblieben, den wir geſtern genommen, verloren, wieder genommen und wieder verloren haben, nämlich ein altes Ehepaar und deſſen Tochter — dieſe im Kindbett. Der Gatte dient in unſerem Regiment. Er ſagte mir’s, als wir uns dem Dorf näherten: „Dort, Herr Oberſtlieutenant in dem Hauſe mit dem roten Dach, lebt mein Weib mit ihren alten Eltern … Sie haben nicht fliehen können, die Armen … mein Weib muß jede Stunde niederkommen und die Alten ſind halb gelähmt — um Gotteswillen, Herr Oberſtlieutenant, kommandieren Sie mich dorthin.“ — Der arme Teufel! er kam gerade zurecht, um die Wöchnerin und das Kind ſterben zu ſehen; eine Bombe war neben dem Bette geplatzt … Was mit den Alten geſchehen — ich weiß es nicht. Vermutlich unter den Trümmern begraben; das Haus war eins der erſten, welches in Brand geſchoſſen wurde. Der Kampf auf offenem Felde iſt ſchaurig genug, aber der Kampf inzwiſchen menſchlicher Wohnſtätten iſt noch zehnmal grauſiger. Stürzendes Gebälk, aufſchlagende Flammen, erſtickender Rauch — vor Angſt tollgewordenes Vieh — jede Mauer Feſtung oder Barrikade, jedes Fenſter Schießſcharte … Eine Bruſtwehr habe ich da geſehen, die war aus Leichen gebildet. Da hatten die Verteidiger alle in der Nähe liegenden Gefallenen aufeinandergeſchichtet, um, ſo geſchützt, darüber auf den Angreifer hinwegzuſchießen. Dieſe Mauer vergeſſe ich wohl im Leben nicht: … Einer, der als Ziegel diente — zwiſchen den anderen Leichenziegeln eingepfercht — der lebte noch, bewegte die Arme. — — —
„Lebte noch“: das iſt ein Zuſtand — im Krieg in tauſend Varianten vorkommend — der die maßloſeſten Leiden in ſich birgt. Gäb’ es irgend einen Engel der Barmherzigkeit, der über den Schlachtfeldern ſchwebte, er hätte vollauf zu thun, den armen Wichten — Menſch und Tier — die „noch lebten“, den Gnadenſtoß zu geben.“
„Heute hatten wir ein kleines Kavalleriegefecht auf offenem Felde. Da kam ein preußiſches Dragonerregiment im Trab einher, deployierte in Linie und, die Pferde feſt im Zügel, den Säbel über dem Kopf, ritten ſie in kurzem Galopp gerade auf uns zu. Wir warteten den Angriff nicht ab, ſondern ſprengten dem Feind entgegen. Kein Schuß wurde gewechſelt. Wenige Schritte von einander brachen beide Reihen in ein donnerndes Hurra aus (Schreien berauſcht: das wiſſen die Indianer und Zulus noch beſſer als wir), und ſo ſtürzten wir aufeinander, Pferd an Pferd und Knie an Knie; die Säbel ſauſten in die Höhe und kamen auf die Köpfe nieder. Bald waren Alle zu dicht ineinander geraten, um die Waffen zu gebrauchen; da wurde Bruſt an Bruſt gerungen, wobei die ſcheu und wild gewordenen Pferde ſchnaufend ſtürzten, ſich bäumten und um ſich ſchlugen. Ich war auch einmal zu Boden und ſah — das iſt kein angenehmer Anblick — ſchlagende Pferdehufe eine Linie weit von meiner Schläfe entfernt.“
„Wieder ein Marſchtag mit ein oder zwei Gefechten. Ich habe einen großen Kummer erlebt. Es verfolgt mich ein ſo trauriges Bild … Unter den vielen Trauerbildern, die mich rings umgeben, ſollte dies nicht auffallen, ſollte mir nicht ſo weh thun. Aber ich kann nichts dafür: es geht mir nahe und ich kann es nicht loswerden … Puxl — unſer armes, lebensfrohes, gutes Pintſchel — ach, hätte ich ihn doch zu Hauſe gelaſſen, bei ſeinem kleinen Herrn, Rudolf: Er lief uns nach, wie gewöhnlich. Plötzlich ſtößt er ein jammervolles Geſchrei aus … ein Granatſplitter hat ihm die Vorderbeinchen abgeriſſen … Er kann nicht nach — verlaſſen bleibt er zurück und „lebt noch“; vierundzwanzig und achtundvierzig Stunden vergehen und er lebt noch. — Mein Herrl — mein gutes Herrl, ruft er mir klagend nach, laß den armen Puxl nicht da! und ſein kleines Herz bricht … Was beſonders an mir nagt, iſt der Gedanke, daß das ſterbende treue Geſchöpf mich verkennen muß. Er hat es geſehen, daß ich mich umgewendet — daß ich ſeinen Hilferuf vernommen haben mußte, und doch ſo kalt und hart ihn liegen ließ. Er weiß es ja nicht, der arme Puxl, daß einem zur Attacke vorſtürmenden Regiment, aus deſſen Reihen die Kameraden fallen und am Wege bleiben, nicht eines gefallenen Hündchens wegen „Halt“ kommandiert werden kann. Von einer höheren Pflicht, der ich gehorchte, hat er keinen Begriff, und das arme, ſo treue Hundeherz klagt mich der Unbarmherzigkeit an …
Daß man inmitten der „großen Ereigniſſe“ und der Rieſenunglücksfälle, welche die Gegenwart erfüllen, über ſolche Kleinigkeiten ſich betrüben kann! würden Viele — nicht Du, Martha — achſelzuckend ſagen. Nicht Du — ich weiß, Dir tritt jetzt auch eine Thräne ins Auge um unſeren armen Puxl.“
„Was geſchieht da? Das Exekutions-Peloton wird aufgeſtellt. Ward ein Spion gefangen? Einer? … Diesmal ſiebzehn. Dort kommen ſie ſchon. In vier Reihen, je zu vier Mann, von einem Carré Soldaten umgeben, ſchreiten die Verurteilten, geſenkten Kopfes, daher. Dahinter einen Wagen, worin eine Leiche liegt und darauf ſitzend, an die Leiche gebunden, der Sohn des Toten, ein zwölfjähriger Knabe — auch verurteilt …
Ich mag die Hinrichtung nicht ſehen und entferne mich. Aber die Schüſſe habe ich vernommen … Hinter der Mauer ſteigt eine Rauchwolke auf — alle hin, auch der Knabe.“ — — —
„Endlich ein bequemes Nachtquartier in einem kleinen Städtchen! Das arme Neſt! … Vorräte, die den Leuten auf Monate hinaus genügen würden, haben wir ihnen durch eine Requiſition fortgenommen. „Requiſition“ … es iſt nur gut, wenn man für ein Ding einen hübſchen, ſanktionierten Namen hat.
Ich war aber doch froh, das gute Nachtlager und das gute Nachteſſen gefunden zu haben. Und — laß Dir erzählen:
Schon wollte ich mich zu Bett legen, als mir meine Ordonnanz meldet: ein Mann von unſerem Regiment ſei da und verlange dringend, eingelaſſen zu werden, er bringe mir etwas. „So ſoll er kommen.“ Der Mann trat ein. —
Und als er wieder ging, da hatte ich ihn reich beſchenkt und ihm beide Hände geſchüttelt und ihm verſprochen, für ſein Weib und Kind zu ſorgen, falls ihm etwas geſchähe. Denn was er mir gebracht hat, der Brave — das hat mir eine große Freude gemacht und mich von einer Pein befreit, unter der ich ſeit ſechsunddreißig Stunden litt — was er mir gebracht hat: das war mein Puxl. Verwundet zwar — ehrenvoll bleſſiert — aber noch lebend und ſo ſelig, wieder bei ſeinem Herrn zu ſein, an deſſen Benehmen er wohl erkannt haben mußte, daß er ihm mit dem Vorwurf der Liebloſigkeit unrecht gethan … Ja, war das eine Wiederſehensſcene! Vor allem ein Trunk Waſſer. Wie das ſchmeckte … das heißt, zehnmal unterbrach er das gierige Trinken, um mir ſeine Freude vorzubellen. Hierauf habe ich ihm ſeine Beinſtummel verbunden, ihm ein ſchmackhaftes Souper von Fleiſch und Käſe vorgeſetzt und ihn auf mein Lager gebettet. Wir haben Beide gut geſchlafen. Des Morgens, als ich erwachte, leckte er mir nochmals dankend die Hand — dann ſtreckte er ſeine Gliederchen, ſchnaufte tief auf und — hatte aufgehört zu ſein. Armer Puxl — es iſt beſſer ſo!“
„Was habe ich heute Alles geſehen? Wenn ich die Augen ſchließe, tritt mir das Geſchaute mit furchtbarer Klarheit vor das Gedächtnis. „Nichts als Schmerz und Schreckbilder!“ wirſt Du ſagen. Warum bringen denn Andere vom Kriege ſo friſche, fröhliche Eindrücke mit. Je nun, dieſe Anderen verſchließen ſich gegen den Schmerz und den Schreck — verſchweigen ſie. Wenn ſie ſchreiben, wenn ſie erzählen, ſo geben ſie ſich überhaupt keine Mühe, die Erlebniſſe nach der Natur zu ſchildern, ſondern ſie befleißigen ſich, einſt geleſene Schilderungen ſchablonenhaft nachzubilden und diejenigen Empfindungen hervorzukehren, welche als heldenhaft gelten. Wenn ſie mitunter auch von Vernichtungsſcenen berichten, welche den ärgſten Schmerz und den ärgſten Schreck in ſich bergen in ihrem Tone darf von Beiden nichts enthalten ſein. Im Gegenteil: je ſchauerlicher, deſto gleichgültiger — je abſcheulicher, deſto unbefangener. Mißbilligung, Entrüſtung, Empörung? Davon ſchon gar nichts — da noch eher ein leiſer Anhauch ſentimentalen Mitleids, ein paar gerührte Seufzer. — Aber ſchnell wieder den Kopf in die Höhe, „das Herz zu Gott und die Fauſt auf den Feind“. Hurrah und Trara!
„Da ſiehſt Du nun zwei Bilder, die ſich mir eingeprägt:
Steile, felſige Anhöhen — katzenbehend hinaufkletternde Jäger; es gilt, die Anhöhe zu „nehmen“; — von oben ſchießt der Feind herab. Was ich ſehe, ſind die Geſtalten der emporſtrebenden Angreifer und Einige darunter, die, von feindlichen Geſchoſſen getroffen, plötzlich beide Arme ausſtrecken, das Gewehr fallen laſſen und, mit dem Kopf nach rückwärts ſich überſchlagend, die Anhöhe hinabſtürzen — ſtufenweiſe — von Felsvorſprung zu Felsvorſprung — ſich die Glieder zerſchmetternd. — — —
Ich ſehe einen Reiter in einiger Entfernung ſchief hinter mir, neben welchem eine Granate platzt. Sein Pferd wirft ſich zur Seite und drängt ſich an das Hinterteil des meinen — dann ſchießt es an mir vorbei. Der Mann ſitzt noch im Sattel, aber ein Granatſplitter hat ihm den Unterleib auf- und alle Eingeweide herausgeriſſen. Sein Oberkörper hält mit dem Unterkörper nur noch durch das Rückgrat zuſammen — von den Rippen zu den Schenkeln ein einziges großes, blutiges Loch … Eine kleine Strecke weiter fällt er herab, bleibt mit dem Fuß im Bügel hängen und das fortraſende Pferd ſchleift ihn auf dem ſteinigen Boden nach.“ — — —
„Auf einem regendurchſchwemmten und ſteilen Stück Weg ſtaut ſich eine Abteilung Artillerie. Bis über die Räder verſinken die Geſchütze in den Schlamm. Nur mit äußerſter Anſtrengung, ſchweißtriefend und von den erbarmungsloſeſten Schlägen angefeuert, kommen die Pferde von der Stelle. Aber eins, ſchon todmüde, kann nicht mehr. Das Hauen hilft nichts: es wollte ja — es kann nicht, es kann nicht. Sieht denn das der Mann nicht ein, deſſen Hiebe auf den Kopf des armen Tieres hageln? Wäre der rohe Wicht der Fuhrmann eines zu irgendwelchem Bau dienenden Steinwagens geweſen, jeder Poliziſt — ich ſelber — hätte ihn arretiert. Dieſer Kanonier jedoch, der das todbeladene Fuhrwerk vorwärts bringen ſollte, der waltete nur ſeines Amtes. Das konnte aber das Pferd nicht wiſſen; das geplagte, gutmütige, edle Geſchöpf, das ſich bis zu ſeiner äußerſten Lebenskraft angeſtrengt — wie mußte das über ſolche Härte und über ſolchen Unverſtand in ſeinem Inneren denken? Denken, ſo wie Tiere denken, nämlich nicht mit Worten und Begriffen, ſondern mit Empfindungen, deſto heftigere Empfindungen, als ſie äußerungsunfähig ſind. Nur eine Äußerung gibt es dafür: den Schmerzensſchrei. Und es hat geſchrien, jenes arme Roß, als es endlich zuſammenſank — einen Schrei, ſo langgedehnt und klagend, daß er mir noch im Ohre gellt — daß er mich die folgende Nacht im Traume verfolgt hat. Ein abſcheulicher Traum übrigens … Mir war, als ſei ich — — wie ſoll ich das nur erzählen? — Träume ſind ſo ſinnlos, daß die dem Sinn angepaßte Sprache ſich ſchwer zu ihrer Wiedergabe eignet — als ſei ich das Kummerbewußtſein eines ſolchen Artilleriepferdes — nein! nicht eines, ſondern von 100000 — denn raſch hatte ich im Traum die Summe der in einem Feldzug zu grunde gehenden Pferde berechnet — und da ſteigerte ſich dieſer Kummer ſofort ins hunderttauſendfache … Die Menſchen, die wiſſen doch, warum ihr Leben der Gefahr ausgeſetzt iſt, ſie kennen das Wohin? das Wozu? — und wir Unglücklichen wiſſen nichts, um uns iſt alles Nacht und Grauen. Die Menſchen gehen doch mit Freunden gegen einen Feind, wir aber ſind rings von Feinden umgeben … unſere eigenen Herren, die wir ſo treu lieben wollten, denen zu dienen wir unſere letzte Kraft aufbieten, die hauen auf uns nieder — die laſſen uns hilflos liegen … Und was wir nebſtbei leiden müſſen: Furcht, daß uns der Angſtſchweiß vom ganzen Körper rinnt; — Durſt — denn auch wir haben Fieber — o dieſer Durſt, dieſer Durſt von uns armen, blutenden, mißhandelten hunderttauſend Pferden! … Hier erwachte ich und griff nach der Waſſerflaſche: — ich hatte ſelber brennenden Fieberdurſt.“
„Wieder einen Straßenkampf — in dem Städtchen Saar. Zu dem Lärm des Kampfgeſchreies und der Geſchütze geſellt ſich das Krachen der Balken, das Stürzen der Mauern. Es ſchlägt eine Granate in ein Haus und der durch das Platzen derſelben verurſachte Luftdruck iſt ſo gewaltig, daß mehrere Soldaten von den in die Luft geſchleuderten Trümmern des Hauſes verwundet werden. Über meinen Kopf weg fliegt ein Fenſter — noch mit dem Fenſterflügel dran. Die Schornſteine ſtürzen herunter. Gypsbewurf löſt ſich in Staub und füllt die Luft mit einer erſtickenden, augenätzenden Wolke. Aus einer Gaſſe in die andere (wie die Hufe auf dem ſpitzen Pflaſter klappern!) wälzt ſich der Kampf und langt auf dem Marktplatz an. In der Mitte des Platzes ſteht eine hohe, ſteinerne Marienſäule. Die Mutter Gottes hält ihr Kind in einem Arm, den anderen ſtreckt ſie ſegnend aus. Hier wird weiter gerungen. Mann an Mann. Sie hauen auf mich drein — ich haue um mich herum … Ob ich Einen oder Mehrere getroffen, ich weiß es nicht: in ſolchen Augenblicken bleibt einem nicht viel Beſinnung. Dennoch haben ſich mir wieder zwei Fälle in die Seele photographiert, und ich fürchte, der Marktplatz von Saar wird mir ewig unvergeßlich bleiben:
Ein preußiſcher Dragoner, ſtark wie Goliath, reißt einen unſerer Offiziere (einen ſchmucken, ſchmächtigen Lieutenant — wie viel Mädchen ſchwärmten wohl für ihn?) aus dem Sattel und zerſchmettert ihm den Schädel am Fuß der Madonnenſäule. Die milde Heilige ſchaut unbeweglich zu. Ein Anderer von den feindlichen Dragonern, ebenſo goliathſtark, knapp vor mir, faßt meinen Nebenmann an und biegt ihn ſo kräftig im Sattel nach rückwärts, daß ihm — ich habe es krachen gehört — das Rückgrat bricht …
Auch dazu gab die Madonna ihren ſteinernen Segen.“