Bertha von Suttner: Die Waffen nieder! // Eine Lebensgeſchichte 43. Drittes Buch. 1864. // 17. Abſchnitt Neujahr 1866. Wieder ſaßen wir alle — bei Punſch und Faſchingkrapfen — um meines Vaters Tiſch verſammelt, als die erſte Stunde dieſes verhängnisvollen Jahres ſchlug. Es war ein heiteres Feſt. Zugleich mit Sylveſter feierten wir eine Verlobung: Konrad und Lilli. Als der Zeiger auf Zwölf wies und auf der Straße einige Freudenſchüſſe losgingen, umſchlang mein unternehmender Vetter das neben ihm ſitzende Mädchen, preßte — zu unſer aller Staunen — einen Kuß auf ihre Lippen und fragte dann: „Willſt Du mich in 66?“ „Ja — ich will,“ antwortete ſie; „ja — ich hab’ Dich lieb, Konrad.“ Das war nun von allen Seiten ein Gläſer-erklingen-laſſen und umarmen und Händeſchütteln, und Glück- und Segenwünſchen ohne Ende: „Das Brautpaar ſoll leben“ — „Konrad und Lilli — hoch!“ — „Gott ſegne eueren Bund, Kinder“ — „Gratuliere herzlichſt, Vetter“ — „Sei glücklich, Schweſter“ und ſo weiter und ſo weiter. Eine freudige und gerührte Stimmung bemächtigte ſich unſer aller. Vielleicht nicht bei allen ganz neidlos; denn ſo wie der Tod das traurigſte und bedauernswerteſte Ereignis abgibt, ſo iſt die Liebe — die zum lebenſchaffenden Bunde ſanktionierte Liebe — das fröhlichſte und beneidenswerteſte. Ich konnte zwar von Neid nichts ſpüren, denn mir war das der neuen Braut erſt verheißene Glück ſchon zum wirklichen und feſten Beſitz geworden; es beſchlich mich eher ein Gefühl des Zweifels: „So ein vollkommenes Glück, wie es mir von Friedrich bereitet wird, kann wohl der armen Lilli kaum zu teil werden … Konrad iſt zwar ein allerliebſter Menſch, aber — es gibt {nur einen} Friedrich!“ Mein Vater machte dem Gratulationstumult ein Ende, indem er mit dem an ſeinem kleinen Finger befindlichen Siegelring an das Glas klopfte und ſich zum ſprechen erhob: „Meine lieben Kinder und Freunde“ — ſagte er ungefähr — „das Jahr ſechsundſechzig fängt gut an. Mir bringt es ſchon in der erſten Stunde die Erfüllung eines Lieblingswunſches — denn auf den Konrad als Schwiegerſohn hatte ich es lange abgeſehen. Hoffen wir, daß dieſes freundliche Jahr auch unſere Roſa unter die Haube und euch — Martha und Tilling — einen Storchbeſuch bringt … Ihnen, Doktor Breſſer, ſoll es zahlreiche Patienten verſchaffen — was zwar mit den vielen Geſundheitswünſchen, die heute ausgetauſcht werden, nicht recht klappt … und Dir, liebe Marie, beſcheere es — vorausgeſetzt, daß es Dir beſtimmt ſei, ich kenne und ehre Deinen Fatalismus — einen Haupttreffer, oder einen vollſtändigen Ablaß, oder was Du Dir ſonſt wünſchen magſt; … Dich, mein Otto, beſchenke es mit zahlreicher „Eminenz“ zu Deiner Schlußprüfung und mit allen möglichen ſoldatiſchen Tugenden und Kenntniſſen, damit Du einſt eine Zierde der Armee und der Stolz Deines alten Vaters werdeſt … Letzterem muß ich doch auch einiges Gute zukommen laſſen, und da dieſer keine höheren Wünſche kennt, als das Wohl und den Ruhm Öſterreichs, ſo möge das kommende Jahr dem Lande einen großen Gewinn bringen — die Lombardei oder — was weiß ich? — die Provinz Schleſien … Man kann nicht wiſſen, was ſich da alles vorbereitet — es iſt gar nicht unmöglich, daß wir dieſes, der großen Maria Thereſia entwendete Land den frechen Preußen wieder abnehmen“ … Ich erinnere mich, daß der Schluß von meines Vaters Trinkrede „eine Kälte“ verbreitete. Die Lombardei und Schleſien — wahrlich, nach dieſen fühlte niemand unter uns ein dringendes Bedürfnis. Und der darunter verſteckte Wunſch: „Krieg“ — alſo neuer Jammer, neue Todesqual — der ſtimmte ſchon gar nicht zu der weichen Fröhlichkeit, welche dieſe, durch einen neuen Liebesbund geweihte Stunde, in unſeren Herzen wachgerufen. Ich erlaubte mir ſogar eine Entgegnung: „Nein, lieber Vater — für die Italiener und für die Preußen iſt heute auch Neujahr … da wollen wir ihnen kein Verderben wünſchen. Mögen im Jahre 66 und in den folgenden alle Menſchen beſſer, {einträchtiger} und glücklicher werden!“ Mein Vater zuckte die Achſeln! „O, Du Schwärmerin,“ ſagte er mitleidig. „Durchaus nicht,“ nahm mich Friedrich in Schutz. „Der von Martha ausgedrückte Wunſch beruht nicht auf Schwärmerei — denn ſeine Erfüllung iſt uns wiſſenſchaftlich verbürgt. Beſſer und einträchtiger und glücklicher werden die Menſchen beſtändig — ſeit den Uranfängen bis auf heute. Aber ſo unmerklich langſam, daß eine kleine Spanne Zeit, wie ein Jahr, kein ſichtbares Vorwärtsſchreiten aufweiſen kann.“ „Wenn Ihr ſo feſt an den ewigen Fortſchritt glaubt,“ warf mein Vater ein. „warum dann euer häufiges Klagen über Reaktion, über Rückfall in die Barbarei?“ … „Weil“ — Friedrich zog einen Bleiſtift aus der Taſche und zeichnete auf ein Blatt Papier eine Spirale — „weil der Gang der Civiliſation ſo beſchaffen iſt wie dieſes … Bewegt ſich dieſe Linie, trotz ihrer gelegentlichen Rückwärtskrümmungen, nicht ſicher voran? Das beginnende Jahr kann freilich eine der Krümmungen vorſtellen, beſonders wenn, wie es den Anſchein hat, wieder ein Krieg geführt werden ſollte. So etwas ſchleudert die Kultur — in jeder, in materieller wie in moraliſcher Beziehung — immer wieder um ein gutes Stück zurück.“ „Du ſprichſt nicht wie ein Soldat, mein lieber Tilling.“ „Ich ſpreche von einer allgemeinen Sache, mein lieber Schwiegervater. Darüber kann meine Anſicht eine richtige oder falſche ſein, — ob ſie nun eine ſoldatiſche ſei oder nicht, iſt eine andere Frage. Wahrheit gibt es doch überall nur eine … Wenn ein Ding rot iſt — ſoll es einer grundſätzlich blau nennen, wenn er eine blaue Uniform, und ſchwarz, wenn er eine ſchwarze Kutte trägt?“ „Eine — was?“ Mein Vater pflegte, wenn ihm eine Diskuſſion nicht recht genehm war, etwas Schwerhörigkeit hervorzukehren. Auf ſolches „was“ die ganze Rede zu wiederholen — dazu hatten die wenigſten Leute die Geduld und man gab den Streit lieber auf. Noch in der ſelben Nacht, nachdem wir nach Hauſe gekommen, nahm ich meinen Mann ins Verhör: „Was haſt Du meinem Vater geſagt? … Daß es allen Anſchein habe, man würde ſich in dieſem Jahre wieder ſchlagen? Ich will Dich in keinen Krieg mehr ziehen laſſen, ich {will} nicht“ … „Was hilft dieſes leidenſchaftliche „ich will“, meine Martha? Du wäreſt doch die erſte, die es angeſichts der Umſtände wieder zurückzöge. Je wahrſcheinlicher ein Krieg vor der Thür ſteht, deſto unmöglicher wär es mir, um Entlaſſung einzukommen. Unmittelbar nach Schleswig-Holſtein wäre es thunlich geweſen —“ „Ach, dieſe elenden Schmitt & Söhne!“ … „Doch jetzt, wo ſich neue Wolken ballen —“ „Du glaubſt alſo wirklich, daß —“ „Ich glaube, dieſe Wolken werden ſich wieder verziehen — die beiden Großmächte werden ſich doch jener Nordländchen wegen nicht zerfleiſchen. Aber weil es nun einmal drohend ausſieht, würde ein Zurückziehen feige erſcheinen. Das leuchtet Dir wohl ein?“ Dieſen Gründen mußte ich mich fügen. Aber ich klammerte mich feſt an das Hoffnungswort „Die Wolken werden ſich verziehen.“ Mit Spannung folgte ich nunmehr der Entwickelung der politiſchen Ereigniſſe und den darüber in Zeitungen und Geſprächen kurſierenden Meinungen und Vorherſagungen. „Rüſten,“ „rüſten“ war jetzt die Loſung. Preußen rüſtet im Stillen. Öſterreich rüſtet im Stillen. Die Preußen behaupten, daß wir rüſten, und es iſt nicht wahr — {ſie} rüſten. Sie leugnen — nein, es iſt nicht wahr: wir rüſten. Wenn jene rüſten, müſſen wir auch rüſten. Wenn wir abrüſten, wer weiß, ob jene abrüſten? So ſchlug die Rüſterei in allen möglichen Varianten an mein Ohr. — Aber wozu denn dieſes Waffengeklirre, wenn man nicht angreifen will? fragte ich, worauf mein Vater den alten Spruch vorbrachte: [Sie vis pacem, para bellum]: Wir rüſten ja doch nur aus Vorſicht. — Und die Andern? — In der Abſicht, uns zu überfallen. — Jene ſagen aber auch, daß ſie ſich nur gegen unſeren Überfall vorſehen. — Das iſt Heimtücke. — Und ſie ſagen, daß wir heimtückiſch ſeien. — Das ſagen ſie nur als Vorwand, um beſſer rüſten zu können. Wieder ſo ein endloſer Cirkel, eine ſich in den Schwanz beißende Schlange, deren oberes und unteres Ende zweifache Unaufrichtigkeit iſt … Nur um einem Feinde zu imponieren, der den Krieg {will}, kann die rüſtende Schreckmethode etwa des Friedens willen am Platze ſein; aber zwei Gleichgeſinnte, Frieden Wollende, können unmöglich nach dieſem Syſtem handeln, ohne daß Jeder feſt überzeugt ſei, daß der Andere mit leeren Phraſen lügt. Und dieſe Überzeugung wird nur ſo feſt, wenn man ſelber hinter den gleichen Phraſen dieſelben Abſichten verſteckt, deren man den Gegner beſchuldigt. Nicht nur die Auguren — auch die Diplomaten wiſſen voneinander genau, was jeder hinter den öffentlichen Ceremonien und Redeweiſen im Sinne führt … Das beiderſeitige In-Kriegsbereitſchaft-ſetzen dauerte die erſten Monate des Jahres fort. Am 12. März kam mein Vater freudeſtrahlend in mein Zimmer geſtürzt. „Hurrah!“ rief er. „Gute Nachrichten —“ „Abgerüſtet?“ fragte ich freudig. „Warum nicht gar! Im Gegenteil, die gute Nachricht iſt die: Geſtern wurde großer Kriegsrat gehalten … Es iſt wirklich glänzend, über welche Streitmacht wir verfügen … da kann ſich der arrogante Preuße verſtecken. — Mit 800_000 Mann ſind wir ſtündlich bereit, auszurücken. Und Benedek, unſer tüchtigſter Stratege, wird Oberfeldherr mit unbeſchränkter Vollmacht … Ich ſag’ Dir’s im Vertrauen, Kind: Schleſien iſt unſer, wenn wir nur wollen“ … „O Gott, o Gott“, — ſtöhnte ich — „ſoll denn wieder dieſe Geißel über uns kommen! Wer — {wer} kann denn nur ſo gewiſſenlos ſein — aus Ehrgeiz, aus Ländergier —“ „Beruhige Dich. {Wir} ſind nicht ſo ehrgeizig — noch ſind wir ländergierig. Wir wollen — (das heißt {ich} gerade nicht, mir wäre die Wiedergewinnung unſeres Schleſiens ſchon recht) aber die Regierung will Frieden halten — das hat ſie oft genug verſichert. Und der ungeheuere Stand unſerer aktiven Armee, wie derſelbe aus den im geſtrigen Kriegsrat dem Kaiſer vorgelegten Mitteilungen ſich ergibt, wird allen anderen Mächten gehörigen Reſpekt einflößen … Preußen wird wohl zu allererſt klein beilegen und aufhören, das große Wort führen zu wollen … Wir haben, Gott ſei Dank, in Schleswig-Holſtein auch noch mitzureden — und werden ſicher nie dulden, daß ſich der andere Großſtaat durch allzuſtarke Machtausdehnung eine überwiegende Stellung in Deutſchland erringe … Da handelt es ſich um unſere Ehre, um unſer „[prestige]“ — vielleicht um unſere Exiſtenz — das verſtehſt Du nicht … Das Ganze iſt ja doch nur ein Hegemonieſtreit — um das miſerable Schleswig handelt es ſich am wenigſten — aber der prächtige Kriegsrat hat deutlich gezeigt, {wer} den erſten Rang einnimmt und {wer} den Anderen Bedingungen vorſchreiben darf; die Nachkommen der kleinen brandenburger Kurfürſten oder diejenigen der langen römiſch-deutſchen Kaiſer-Reihe! Ich halte den Frieden für geſichert. Sollten aber die anderen dennoch fortfahren, ſich unverſchämt und arrogant zu geberden und dadurch einen Krieg unvermeidlich machen, ſo iſt uns der Sieg verbürgt und mit demſelben ganz unberechenbare Gewinne … Es wäre zu wünſchen, daß es losginge —“ „Nun ja, das wünſcheſt Du auch, Vater — und mit Dir wahrſcheinlich der ganze Kriegsrat! So iſt’s mir lieber, wenn das aufrichtig geſagt wird … Nur nicht dieſe Falſchheit, dem Volke und den Friedliebenden zu verſichern, daß all die Waffenanſchaffungen und Heerverſtärkungen und Militärkreditforderungen nur um des lieben Friedens willen geſchehen. Wenn ihr ſchon die Zähne zeigt und die Fäuſte ballt, ſo flüſtert keine ſanften Worte dazu — wenn ihr ſchon vor Ungeduld zittert, das Schwert zu ſchwingen, ſo macht doch nicht, als legtet ihr aus bloßer Vorſicht die Hand an den Knauf“ … So redete ich eine Weile mit bebender Stimme und ſteigendem Affekte fort — ohne daß mein verblüffter Vater ein Wort erwiderte — und brach ſchließlich in Thränen aus. 44. Drittes Buch. 1864. // 18. Abſchnitt