Bertha von Suttner: Die Waffen nieder! // Eine Lebensgeſchichte 42. Drittes Buch. 1864. // 16. Abſchnitt Trotz des Gaſteiner Vertrages wollte die Angelegenheit nicht zur Ruhe kommen, und da ich nun — durch Tante Mariens Brief und die darauf erhaltenen Auskünfte aufgeſchreckt — nunmehr wieder regelmäßig die politiſchen Leitartikel las und mich allſeitig über die herrſchenden Meinungen erkundigte, ſo konnte ich die Phaſen des ſchwebenden Streites wieder genau verfolgen. Daß derſelbe zu einem Krieg führen würde, fürchtete ich nicht. Solche Prozeßſachen mußten doch auf dem Wege der Prozeſſe — nämlich durch Abwägung der Rechtsanſprüche und durch hiernach zu fällenden Rechtsſpruch — zum Austrag zu bringen ſein. Alle dieſe beratenden Miniſter- und Bundesverſammlungen, dieſe unterhandelnden Staatsmänner und freundſchaftlich verkehrenden Monarchen, würden doch mit dieſen — im Grunde ſo unwichtigen — Streitfragen fertig werden. Mehr mit Neugierde, als mit Beſorgnis folgte ich dem Gang dieſer Angelegenheit, deren verſchiedene Stadien ich in den roten Heften notiert finde: 1. Oktober 1865. In Frankfurt Abgeordnetentag, folgende Beſchlüſſe gefaßt: 1) Selbſtbeſtimmungsrecht des ſchleswig-holſteiniſchen Volkes bleibt in Kraft. Der Gaſteiner Vertrag wird als Rechtsbruch von der Nation verworfen. 2) Alle Volksvertreter ſollen den Regierungen, welche die bisherige Politik der Vergewaltigung fordern, alle Steuern und Anlehen verweigern. 15. Oktober. Preußiſcher Kronſyndikus gibt ſein Gutachten über die Erbrechte des Prinzen Auguſtenburg ab. Der Vater desſelben habe für ſich und ſeine Nachkommen, gegen eine Summe von anderthalb Millionen Spezieſthaler auf die Thronanwartſchaft verzichtet. Im wiener Frieden ſeien die Herzogtümer abgetreten — ſomit habe der Auguſtenburger gar nichts mehr zu beanſpruchen. Eine Frechheit, eine Anmaßung — wird die in Berlin geführte Sprache genannt, und die „preußiſche Arroganz“ wird zum Schlagwort. „Gegen die muß man ſich ſchützen“: das wird allenthalben als Dogma aufgeſtellt. König Wilhelm ſcheint ſich auf den deutſchen Viktor Emanuel aufſpielen zu wollen.“ — „Öſterreich hat die ſtille Abſicht, Schleſien zurück zu erobern.“ „Preußen buhlt mit Frankreich.“ „Öſterreich buhlt mit Frankreich“ … [et patati et patatà], wie die Franzoſen ſagen … Tritſchtratſch heißt es auf deutſch und pflegt in den Kaffeekränzchen der Kleinſtädter nicht eifriger betrieben zu werden, als zwiſchen den Kabinetten der Großmächte. Der Winter brachte unſere ganze Familie wieder nach Wien zurück. Roſa und Lilli hatten ſich in den böhmiſchen Bädern ſehr gut unterhalten, aber verlobt hatte ſich keine. Konrads Aktien ſtanden vortrefflich. In der Jagdſaiſon war er nach Grumitz gekommen, und obwohl bei dieſer Gelegenheit das entſcheidende Wort noch immer nicht geſprochen wurde, waren jetzt doch beide in ihrem Innern überzeugt, daß ſie als ein Paar enden würden. Auch zu dieſen Herbſtjagden war ich, trotz meines Vaters dringenden Zuredens, nicht erſchienen. Friedrich hatte keinen Urlaub erhalten, und mich von ihm zu trennen, war ein Leidweſen, das ich mir ohne Notwendigkeit nicht auferlegen mochte. Ein zweiter Grund, mich nicht auf längere Zeit zu meinem Vater zu begeben, war der, daß ich meinen kleinen Rudolf nicht gern dem großväterlichen Einfluß überließ, denn dieſer war dazu angethan, dem Kinde militäriſche Neigungen einzuflößen. Die Luſt zu dieſem Berufe, zu welchem ich meinen Sohn durchaus nicht beſtimmen wollte, war ohnehin ſchon in ihm geweckt. Vermutlich lag’s im Blute. Der Sproß einer langen Reihe von Kriegern muß naturgemäß kriegeriſche Anlagen zur Welt bringen. In den naturwiſſenſchaftlichen Werken, deren Studium wir jetzt eifriger denn je betrieben, hatte ich von der Macht der Vererbung gelernt, von dem Weſen der ſogenannten „angeborenen Anlagen“, welche weiter nichts ſind, als der Drang, die von den Ahnen angenommenen Gewohnheiten zu bethätigen. Zu des Kleinen Geburtstag brachte ihm ſein Großvater diesmal richtig wieder einen Säbel. „Du weißt doch, Vater,“ ſagte ich ärgerlich, „daß mein Rudolf durchaus nicht Soldat werden ſoll; ich muß Dich ſchon ernſtlich bitten —“ „Alſo ein Mutterſöhnchen willſt Du aus ihm machen? Das wird Dir hoffentlich nicht gelingen. Gutes Soldatenblut lügt nicht: … Iſt der Burſch einmal erwachſen, ſo wird er ſeinen Beruf ſchon ſelber wählen — und einen ſchöneren gibt es nicht, als den, welchen Du ihm verbieten willſt.“ „Martha fürchtet ſich, den einzigen Sohn der Gefahr auszuſetzen“, bemerkte Tante Marie, welche dieſem Geſpräche beiwohnte; „ſie vergißt aber, daß, wenn es einem beſtimmt iſt, zu ſterben, ihn dieſes Los ebenſogut im Bett als im Krieg ereilt.“ „Alſo, wenn in einem Kriege hunderttauſend Menſchen zu grunde gegangen ſind, ſo wären dieſelben auch im Frieden verunglückt?“ Tante Marie war um eine Antwort nicht verlegen. „Dieſe Hunderttauſend waren dann eben beſtimmt, im Krieg zu ſterben.“ „Wenn aber die Menſchen ſo geſcheit wären, keinen ſolchen mehr zu beginnen?“ warf ich ein. „Das iſt aber eine Unmöglichkeit“, rief mein Vater, und damit war das Geſpräch wieder auf eine Kontroverſe gebracht, welche er und ich des öfteren — und zwar ſtets in denſelben Geleiſen — zu führen pflegten. Auf der einen Seite die gleichen Behauptungen und Gründe, auf der anderen die gleichen Gegenbehauptungen und Gegengründe. Es gibt nichts, worauf die Fabel der Hydra ſo gut paßt, wie auf das Ungetüm: ſtehende Meinung. Kaum hat man ihm ſo einen Argumentenkopf abgeſchlagen und macht ſich daran, den zweiten folgen zu laſſen, ſo iſt der erſte ſchon wieder nachgewachſen. Da hatte mein Vater ſo ein paar Lieblingsbeweiſe zu Gunſten des Krieges, die nicht umzubringen waren. 1. Kriege ſind von Gott — dem Herrn der Heerſcharen — ſelber eingeſetzt, ſiehe die heilige Schrift. 2. Es hat immer welche gegeben, folglich wird es auch immer welche geben. 3. Die Menſchheit würde ſich ohne dieſe gelegentliche Dezimierung zu ſtark vermehren. 4. Der dauernde Friede erſchlafft, verweichlicht, hat — wie ſtehendes Sumpfwaſſer — Fäulnis, nämlich den Verfall der Sitten zur Folge. 5. Zur Bethätigung der Selbſtaufopferung, des Heldenmuts, kurz zur Charakterſtählung ſind Kriege das beſte Mittel. 6. Die Menſchen werden immer ſtreiten, volle Übereinſtimmung in allen Anſprüchen iſt unmöglich — verſchiedene Intereſſen müſſen ſtets aneinanderſtoßen, folglich ewiger Friede ein Widerſinn. Keiner dieſer Sätze, namentlich keins der darin enthaltenen „folglich“ läßt ſich ſtichhaltig behaupten, wenn man ihm zu Leibe rückt. Aber jeder dient dem Verteidiger als Verſchanzung, wenn er die anderen fallen laſſen mußte. Und während die neue Verſchanzung fällt, hat ſich die alte wieder aufgerichtet. Zum Beiſpiel wenn der Kriegskämpe, in die Enge getrieben, nicht mehr im ſtande iſt, Nr. 4 aufrecht zu erhalten und zugeben muß, daß der Friedenszuſtand menſchenwürdiger, beglückender, kulturfördernder ſei als der Krieg, ſo ſagt er: Nun ja, ein Übel iſt der Krieg ſchon, aber unvermeidlich, denn: Nr. 1 und 2. Zeigt man nun, {daß} er vermieden werden könnte, durch Staatenbund, Schiedsgerichte u._ſ._w., ſo heißt es: Nun ja, man könnte wohl, aber {ſoll} nicht, denn: Nr. 5. Jetzt wirft der Friedensanwalt dieſen Einwand um und beweiſt, daß im Gegenteile, der Krieg den Menſchen verroht und entmenſchlicht — Nun ja, das ſchon, aber — Nr. 3. Dieſes Argument, wenn von den Verherrlichern des Krieges angeführt, iſt ſchon das allerunaufrichtigſte. Eher dient es jenen, die den Krieg verabſcheuen und die für die grauſige Erſcheinung doch einen {Grund}, ein die Natur ſozuſagen entſchuldigendes Moment auffinden wollen; aber wer im Innern den Krieg liebt und ihn erhalten hilft, der thut es ſicher nicht im Hinblick auf das Wohlbefinden entfernter Geſchlechter. Die gewaltthätige Dezimierung der gegenwärtigen Menſchheit durch Totſchlag, künſtliche Seuchenbildung und Verarmung wird gewiß nicht veranſtaltet, um von der künftigen die Gefahr etwaigen Mangelleidens abzulenken; wenn menſchliches Eingreifen nötig wäre, um zum allgemeinen Wohle Übervölkerung zu verhüten, ſo gäbe es wohl direktere Mittel hierzu als Kriegführung. Das Argument iſt alſo nur eine Finte, welche aber meiſt mit Erfolg angewendet wird, weil ſie verblüfft. Das Ding klingt ſo gelehrt und eigentlich ſehr menſchenfreundlich — man denke nur: unſere lieben in einigen tauſend Jahren lebenden Nachkommen, denen müſſen wir doch genügenden Ellbogenraum ſchaffen! — Dieſes Nr. 3 bringt viele Friedensverteidiger in Verlegenheit. Über ſolche naturwiſſenſchaftliche und ſozialökonomiſche Fragen ſind die wenigſten Leute unterrichtet; die wenigſten wiſſen wohl, daß das Gleichgewicht von Sterblichkeit und Fruchtbarkeit von ſelber ſich herſtellt; daß die Natur über ihre Lebeweſen nicht die vernichtenden Gefahren bringt, um deren Überzahl zu verhüten, ſondern umgekehrt: daß ſie die Fruchtbarkeit derer erhöht, die großen Gefahren ausgeſetzt ſind. {Nach} einem Kriege z._B. ſteigt die Zahl der Geburten und ſo wird der Verluſt wieder erſetzt; nach langem Frieden und bei Wohlſtande fällt dieſe Zahl — und ſo tritt die Übervölkerung — dieſes Wahngeſpenſt — überhaupt nicht ein. Das alles aber hat man nicht klar vor Augen; man fühlt nur inſtinktiv, daß das berühmte Nr. 3 nicht richtig ſein kann und keinesfalls vom anderen ehrlich gemeint iſt. Da begnügt man ſich, das alte Sprichwort anzuführen: „Es iſt ſchon dafür geſorgt, daß die Bäume nicht in den Himmel wachſen“ und dann — nicht jenes Reſultat haben die Machthaber im Auge … — Zugegeben — aber Nr. 1. Und ſo nimmt der Streit kein Ende. Der Kriegeriſche behält immer recht; ſein Räſonnement bewegt ſich in einem Kreiſe, wo man ihm ſtets nachlaufen, ihn aber nie erreichen kann. Der Krieg iſt ein ſchreckliches Übel, aber er muß ſein. — Er muß zwar nicht ſein, aber er iſt ein hohes Gut. Dieſen Mangel an Folgerichtigkeit, an logiſcher Ehrlichkeit, laſſen ſich alle jene zu ſchulden kommen, welche aus {uneingeſtandenen} Gründen — oder auch ohne Gründe, bloß inſtinktiv — eine Sache vertreten und hier {alle} ihnen je zu Ohren gekommenen Phraſen und Gemeinplätze benutzen, welche zur Verteidigung der betreffenden Sache in Umlauf geſetzt worden ſind. Daß dieſe Argumente von den verſchiedenſten Standpunkten ausgehen, daß ſie daher einander nicht nur nicht unterſtützen, ſondern mitunter geradezu aufheben, das iſt jenen einerlei. Nicht weil dieſe oder jene Schlüſſe dem eigenen Nachdenken entſprungen und der eigenen Überzeugung gemäß ſind, ſind ſie zu ihrer aufgeſtellten Behauptung gelangt, ſondern nur um dieſe letztere zu ſtützen, gebrauchen ſie auswahllos die von anderen Leuten durchdachten Folgerungen. Das alles konnte ich mir zwar damals, wenn ich mit meinem Vater über das Thema Krieg und Frieden ſtritt, nicht ſo ganz klar machen; erſt ſpäter habe ich mir angewöhnt, den Verrichtungen des Geiſtes im eigenen und im Kopfe anderer beobachtend nachzuſpüren. Ich erinnere mich nur, daß ich immer höchſt ermüdet und abgeſpannt aus dieſen Diskuſſionen hervorging, und jetzt weiß ich, daß dieſe Ermüdung von dem „Im-Kreiſe-nachlaufen“ kam, zu welchem mich meines Vaters Streitweiſe zwang. Der Schluß war dann doch jedesmal ein ſeinerſeits mit mitleidigem Achſelzucken geſprochenes „Das verſtehſt Du nicht“, welches — da es ſich um militäriſche Dinge handelte — im Munde eines alten Generals, einer jungen Frau gegenüber, gewiß ſehr gerechtfertigt klang. 43. Drittes Buch. 1864. // 17. Abſchnitt