Bertha von Suttner: Die Waffen nieder! // Eine Lebensgeſchichte 35. Drittes Buch. 1864. // 9. Abſchnitt Wie in der letzten Abſchiedsſtunde unſer Schmerz ſich mehr in Thränen und Küſſen, denn in Worten geäußert hatte — ſo auch unſer Glück in dieſer Wiederſehensſtunde. Daß man vor Freude wahnſinnig werden kann, ich fühlte es deutlich, als ich den Verlorengeglaubten wieder feſt hielt, als ich ſchluchzend und lachend und erregungszitternd immer wieder den teuren Kopf mit beiden Händen faßte, um ihm Stirn und Augen und Mund zu küſſen, unverſtändliche Worte ſtammelnd … Auf meinen erſten Jubelſchrei war Tante Marie aus dem Nebenzimmer herbeigeeilt. Auch ſie hatte von Friedrichs Rückkunft keine Ahnung gehabt und bei ſeinem Anblick ließ ſie ſich mit einem lauten „Jeſus, Maria und Joſeph!“ auf den nächſten Seſſel fallen. Es dauerte lange, bis der erſte Freudentaumel ſich genug gelegt hatte, um gegenſeitigen Fragen und Gegenfragen, Mitteilungen und Berichten Raum zu laſſen. Dann erfuhren wir, daß Friedrich in einem Bauernhauſe liegen geblieben war, während ſein Regiment weiter gezogen. Die Wunde war keine ſchwere geweſen, dennoch hatte er mehrere Tage bewußtlos im Fieber gelegen. Briefe waren ihm in letzter Zeit keine zugekommen, und es war auch nicht möglich geweſen, ſolche abzuſchicken. Als er geneſen, da war der Waffenſtillſtand bereits erklärt und eigentlich der Krieg zu Ende. Nichts hinderte ihn, nach Hauſe zu eilen. Jetzt ſchrieb und telegraphierte er nicht mehr und reiſte Tag und Nacht, um ſo ſchnell als möglich anzukommen. Ob ich noch am Leben, ob ich außer Gefahr war — das wußte er nicht. Er wollte ſich auch gar nicht darum erkundigen — nur hin, nur hin, ohne eine Stunde zu verlieren und ohne ſeiner Heimfahrt etwa die Hoffnung abzuſchneiden, daß er ſein Liebſtes wiederfindet … Und dieſe Hoffnung ward nicht getäuſcht: jetzt hatte er ſein Liebſtes wiedergefunden: gerettet und ſelig — über die Maßen ſelig … Bald überſiedelten wir alle nach meines Vaters Landſitz. Friedrich hatte zur Herſtellung ſeiner Geſundheit einen längeren Urlaub erhalten und die ihm vom Arzt verordneten Mittel: Ruhe und gute Luft, konnte er am beſten bei uns in Grumitz finden. Das war ein glücklicher Nachſommer … Ich erinnere mich keines Zeitabſchnittes in meinem Leben, der ſchöner geweſen wäre. Die endliche Vereinigung mit einem lang erſehnten Geliebten mag wohl unendlich ſein; aber faſt noch ſüßer will mir die Wiedervereinigung mit einem ſchon halb Verlorengegebenen ſcheinen. Wenn ich mich für einen Moment in das Angſtgefühl zurück verſetzte, welches mich vor Friedrichs Rückkunft erfüllte, oder mir die Bilder herauf beſchwor, welche meine Fiebernächte gequält hatten — Friedrich, allerlei Todesqual erleidend — und mich dann an ſeinem Anblick weidete, ſo jubelte mir das Herz. Ich hatte ihn jetzt noch lieber, noch hundertmal lieber, den wiedererlangten Gatten, und ich empfand ſeinen Beſitz als einen immer anwachſenden Reichtum. Schon hatte ich mich für eine Bettlerin gehalten — und jetzt: — die Freudenmillion war mein! Die ganze Familie war in Grumitz verſammelt. Auch Otto, mein Bruder, brachte ſeine Ferien bei uns zu. Er war jetzt fünfzehn Jahre alt und ſollte noch drei Jahre in der Wiener-Neuſtädter Militärakademie zubringen. Ein herziges Bürſchchen, mein Bruder, und des Vaters Liebling und Stolz. Er ſowohl, als Lilli und Roſa füllten das Haus mit ihrer Luſtigkeit. Das war ein ewiges Lachen und Springen und Ball- und Raquette-Spiel und allerlei tolles Streiche-machen. Vetter Konrad, deſſen Regiment unweit von Grumitz in Garniſon lag, kam ſo häufig als möglich herübergeritten und hielt bei den Ausgelaſſenheiten der Jungen wacker mit. Eine zweite Partei bildeten die Alten — nämlich Tante Marie, mein Vater und einige als Gäſte bei uns weilende Kameraden des Letzteren. Unter dieſen wurde fleißig Karten geſpielt, gemäßigte Parkpromenaden gemacht, den Tafelfreuden gehuldigt und unabſehbar viel „kannegegoſſen“. Die eben ſtattgehabten kriegeriſchen Ereigniſſe und die durch letztere durchaus nicht zum Abſchluß gebrachte ſchleswig-holſteinſche Frage boten ein ergiebiges Feld hierzu. Friedrich und ich lebten von den anderen eigentlich ſo ziemlich abgeſchieden — nur zu den Mahlzeiten trafen wir mit ihnen zuſammen — und auch das nicht immer. Man ließ uns gewähren. Es galt als ausgemacht, daß wir in einer zweiten Auflage des Honigmondes uns befanden und uns Einſamkeit gebühre. Und wir waren auch am liebſten allein. Nicht etwa, um, wie die anderen vermutlich glaubten, in Honigmondesart zu ſchäkern und zu koſen — dazu waren wir doch nicht „neuvermählt“ genug; aber weil wir im gegenſeitigen Umgang die meiſte Befriedigung fanden. Nach den kürzlich durchgemachten ſchweren Sorgen konnten wir die naive Munterkeit der Jugendpartei nicht teilen und noch weniger ſympathiſierten wir mit den Intereſſen und Unterhaltungen der Würdensperſonen, und ſo zogen wir es vor — unter dem uns ſtillſchweigend zuerkannten Privilegium eines verliebten Paares — uns ein gutes Stück Abgeſchiedenheit zu wahren. Wir unternahmen zuſammen lange Spaziergänge, mitunter Ausflüge in die Umgebung, wobei wir den ganzen Tag abweſend blieben; viele Stunden verbrachten wir zu zweien im Bibliothekzimmer, und abends, wenn die verſchiedenen Spielkarten in Angriff genommen wurden, zogen wir uns in unſere Gemächer zurück, wo wir bei Thee und Cigarre unſere vertraulichen Plaudereien wieder aufnahmen. Wir fanden immer unendlich viel uns zu ſagen. Am liebſten erzählten wir einander von den Trauer- und Schreckgefühlen, die wir während unſerer Trennungszeit empfunden, dies weckte die Freude unſeres Wiederfindens immer aufs neue. Wir kamen überein, daß Todesahnungen und dergleichen nichts als Aberglaube ſeien, denn beide waren wir ſeit der Stunde unſeres Abſchiedes von der Vorausſicht erfüllt geweſen, daß eins oder das andere ſterben müſſe — und jetzt hatten wir uns wieder! Friedrich mußte mir genau alle die Gefahren und Leiden erzählen, die er eben durchgemacht, und die Greuelbilder des Schlachtfeldes und des Lazareths beſchreiben, welche er neuerdings in ſeine ſchaudernde Seele aufgenommen. Ich liebte den Ton des Unwillens und des Schmerzes, der bei ſolchen Berichten in ſeiner Stimme zitterte. Aus der Art, wie er von den Grauſamkeiten ſprach, deren Zeuge er im Kriegsgetümmel geweſen war, hörte ich die Verheißung der Edelmenſchlichkeit heraus, welche berufen iſt, erſt bei Einzelnen, ſpäter bei Vielen, endlich bei — Allen die alte Barbarei zu überwinden. Auch mein Vater und Otto forderten Friedrich häufig auf, Epiſoden aus dem ſtattgehabten Feldzuge zum beſten zu geben. Freilich geſchah dies in ganz anderem Geiſte, als wenn ich um eine ſolche Erzählung bat, und in anderem Geiſte war denn auch Friedrichs Vortrag gehalten. Er begnügte ſich damit, die taktiſchen Bewegungen der Truppen, die Ergebniſſe der Gefechte, die Namen der genommenen und der verteidigten Ortſchaften zu berichten, einzelne Lagerſcenen zu beſchreiben, Worte zu wiederholen, welche von den Heerführern geſprochen wurden, und was dergleichen Kriegsmiscellen mehr ſind. Sein Auditorium war entzückt davon; mein Vater lauſchte mit Genugthuung, Otto mit Bewunderung, die Generäle mit ſachverſtändiger Wichtigkeit. Nur ich konnte an dieſer trockenen Erzählungsweiſe keinen Geſchmack finden; ich wußte, daß dieſelbe eine ganze Welt von Gefühlen und Gedanken verſchwieg, welche die berichteten Dinge in des Erzählers Seelengrund geweckt hatten. Als ich ihm einſt unter vier Augen darüber einen Vorwurf machte, entgegnete er: „Falſchheit? Unaufrichtigkeit? Mangel an Meinungsmut? Nein, liebes Kind, Du irrſt — bloße Anſtändigkeit iſt es. Erinnerſt Du Dich unſerer Hochzeitsreiſe, — unſerer Abfahrt von Wien, das erſte Alleinſein im Waggon — die Nacht im prager Hotel? Haſt Du die Einzelheiten jener Stunden jemals hier erzählt — und jemals Deinen Freunden und Verwandten die Gefühle und Regungen dieſer Roſenzeit geſchildert?“ „Nein, gewiß nicht … von ſolchen Dingen ſchweigt wohl jede Frau …“ „Nun ſiehſt Du, es gibt auch Dinge, von welchen jeder Mann zu ſchweigen pflegt. Ihr dürft von Euren Liebesfreuden nichts berichten; wir nichts von unſeren Kriegsleiden. Erſteres könnte {Eure} Haupttugend — die Keuſchheit — bloßſtellen; letzteres die unſere — den Mut. Die Wonnen der Flitterwochen und die Schrecken des Schlachtfeldes: davon kann doch in geſitteter Geſellſchaft kein ‚weibliches‘ Weib, kein ‚männlicher‘ Mann etwas erzählen. Wie? Du hätteſt in der Verzückung der Liebe ſüße Thränen vergoſſen — wie? — ich hätte unter dem Hieb der Todesſenſe aufgeſchrieen — wie könnteſt Du Dich zu ſolcher Sinnlichkeit, wie dürfte ich zu ſolcher Feigheit mich bekennen?“ „Und {haſt} Du geſchrieen — haſt Du gezittert, Friedrich? Mir kannſt Du es ſagen. Ich verſchweige Dir auch die Geheimniſſe meiner Liebesfreuden nicht, ſo magſt Du —“ „Dir das Todesbangen eingeſtehen, das uns Soldaten auf der Wahlſtatt erfaßt? Wie wäre es denn anders möglich? Die Phraſe und die Dichtung lügt darüber hinweg — die durch Phraſe und Dichtung künſtlich angefachte Begeiſterung vermag ſogar den Naturtrieb der Selbſterhaltung {momentan} zu überwinden — aber nur momentan … Bei den Rohen kann auch mitunter Mord- und Zerſtörungsluſt die Angſt um das eigene Leben verſcheuchen; bei den Ehrenfeſten wird der Stolz vermögen, die äußere Kundgebung dieſer Angſt zu unterdrücken … Aber wie viele habe ich ſtöhnen und wimmern gehört, von den armen jungen Burſchen — welche verzweifelnde Blicke, welch todesfurcht-verzerrte Geſichter hab’ ich geſehen — welche wilde Klagen und Flüche und flehendes Bitten vernommen!“ „Und das hat Dir weh gethan, Du mein Guter, Milder?“ „Oft zum Aufſchreien weh, Martha. Und doch weniger, als es meiner Mitleidsfähigkeit eigentlich entſpräche … Man ſollte glauben, wenn man beim Anblick eines vereinzelten Leidens von Mitgefühl ergriffen iſt, daß vertauſendfachtes Leid auch tauſendmal ſtärkeres Mitgefühl wecken mußte. Aber das Gegenteil tritt ein: die Maſſenhaftigkeit ſtumpft ab. Man kann den einen nicht ſo heftig bedauern, wenn man um ihn herum 999 ebenſo Unglückliche ſieht. Aber wenn man auch die Fähigkeit nicht hat, über einen gewiſſen Grad von Mitſchmerz hinaus zu {fühlen} — zu denken und zu berechnen vermag man es doch, daß die unfaßbare Jammerquantität vorhanden iſt —“ „Das vermagſt Du und ein paar andere — doch die meiſten denken und berechnen nicht.“ „Denken nicht“, wiederholte er. „Gott ſei’s geklagt, das iſt an allen Übeln ſchuld: die meiſten denken nicht.“ — — 36. Drittes Buch. 1864. // 10. Abſchnitt