Am erſten Feiertag verſammelte ſich die ganze Familie wieder bei meinem Vater zum Diner. Von Fremden war nur Excellenz „Allerdings“ und Doktor Breſſer anweſend. Als wir da in dem altbekannten Speiſezimmer bei Tiſche ſaßen, mußte ich lebhaft jenes Abends gedenken, wo uns beiden unſere Liebe zuerſt deutlich ins Bewußtſein getreten. Doktor Breſſer hatte denſelben Gedanken:
„Erinnern Sie ſich noch der Piketpartie, die ich mit Ihrem Herrn Vater ſpielte, während Sie am Kamin mit Baron Tilling plauderten?“ fragte er mich. „Ich ſah aus, nicht wahr, als wäre ich ganz in mein Spiel vertieft, aber dennoch hatte ich mein Ohr in Ihrer Richtung geſpitzt und hörte aus dem Klang der Stimmen — die Worte konnte ich nicht vernehmen — ein gewiſſes Etwas heraus, welches in mir die Überzeugung weckte: Die zwei werden ein Paar. Und wenn ich Sie jetzt mit einander beobachte, ſo ſteigt mir eine neue Überzeugung auf, nämlich: Die zwei ſind und bleiben ein glückliches Paar.“
„Ich bewundere Ihren Scharfſinn, Doktor. Ja, wir ſind glücklich. Ob wir es bleiben? Das hängt leider nicht von uns ab, ſondern vom Schickſal … Über jedem Glück ſchwebt eine Gefahr, und je inniger das erſte, deſto grauſiger die letzte.“
„Was können Sie fürchten?“
„Den Tod.“
„Ah ſo. Der war mir gar nicht eingefallen. Ich habe zwar als Arzt öfters Gelegenheit, dem Geſellen zu begegnen — aber ich denke nicht daran. Der liegt ja bei geſunden und jungen Leuten, wie das in Rede ſtehende glückliche Paar, in ſo entrückter Ferne —“
„Was nützt dem Soldaten Jugend und Geſundheit?“
„Verſcheuchen Sie ſolche Ideen, liebſte Baronin. Es iſt ja kein Krieg in Sicht. Nicht wahr, Excellenz,“ wandte er ſich an den Miniſter, „gegenwärtig iſt am politiſchen Himmel der mehrfach erwähnte ſchwarze Punkt nicht zu ſehen?“
„Punkt iſt viel zu wenig geſagt,“ antwortete der Befragte. „Es iſt vielmehr eine ſchwarze, ſchwere Wolke.“
Ich erbebte bis ins Innerſte:
„Was? wie? was meinen Sie?“ rief ich lebhaft.
„Dänemark treibt es gar zu bunt“ …
„Ah ſo, Dänemark,“ ſagte ich erleichtert. „Die Wolke droht alſo nicht uns? Es iſt mir zwar unter allen Umſtänden betrübend, wenn ich höre, daß man ſich irgendwo ſchlagen will — aber wenn es die Dänen ſind und nicht die Öſterreicher, dann flößt mir das wohl Beileid, aber keine Furcht ein.“
„Du brauchſt Dich auch nicht zu fürchten,“ fiel mein Vater lebhaft ein, „falls Öſterreich ſich beteiligt. Wenn wir die Rechte Schleswig-Holſteins gegen die Vergewaltigung Dänemarks verteidigen, ſo riskieren wir ja nichts dabei. Es handelt ſich da um kein öſterreichiſches Territorium, deſſen Verluſt ein unglücklicher Feldzug herbeiführen könnte —“
„Glaubſt Du denn, Vater, daß — wenn unſere Truppen ausmarſchieren müßten — ich an ſolche Dinge, wie öſterreichiſches Territorium, ſchleswig-holſteinſche Rechte und däniſche Vergewaltigung dächte? Ich ſähe blos eins: die Lebensgefahr unſerer Lieben. Und die bleibt gleich groß, ob nun aus dieſem oder jenem Grund Krieg geführt wird.“
„Die Schickſale der Einzelnen kommen nicht in Betracht, mein liebes Kind, wo es ſich um weltgeſchichtliche Ereigniſſe handelt. Bricht ein Krieg aus, ſo verſtummen die Fragen, ob der oder der dabei fällt, oder nicht, vor der einen gewaltigen Frage, was das eigene Land dabei gewinnen oder verlieren wird. Und wie geſagt: wenn wir uns mit den Dänen raufen, ſo iſt nichts zu verlieren dabei, wohl aber unſere Machtſtellung im deutſchen Bund zu erweitern. Ich träume immer, daß die Habsburger noch einmal die ihnen gebührende deutſche Kaiſerwürde zurückerlangen. Es wäre auch ganz in der Ordnung. Wir ſind der bedeutendſte Staat im Bunde! die Hegemonie iſt uns geſichert — aber das genügt nicht … Ich würde den Krieg mit Dänemark als eine ſehr günſtige Gelegenheit begrüßen, nicht nur die Scharte von 59 auszuwetzen, ſondern auch unſere Stellung im deutſchen Bunde ſo zu geſtalten, daß wir für den Verluſt der Lombardei reichen Erſatz finden und — wer weiß — ſo an Macht gewinnen, daß uns die Rückeroberung dieſer Provinz ein leichtes wäre.“
Ich blickte zu Friedrich hinüber. Er hatte ſich an dem Geſpräche nicht beteiligt, ſondern war in eine eifrige lachende Unterhaltung mit Lilli verwickelt. Ein ſtechender Schmerz ſchnitt mir durch die Seele: ein Schmerz, der in ein Bündel zwanzig verſchiedene Vorſtellungen vereinte: Krieg … und er, mein alles, mußte mit … verkrüppelt, erſchoſſen … das Kind unter meinem Herzen, deſſen angekündigtes Kommen er geſtern mit ſolchem Jubel begrüßt — es ſollte vaterlos zur Erde kommen? … Zerſtört, zerſtört — unſer kaum erblühtes, noch ſo reiche Frucht verheißendes Glück! … Dieſe Gefahr in der einen Wagſchale, und in der anderen? Öſterreichiſches Anſehen im deutſchen Bund, ſchleswig-holſteiniſche Befreiung — „friſche Lorbeerblätter im Ruhmeskranze des Heeres“ — das heißt ein paar Phraſen für Schulvorträge und Armeeproklamationen … und ſogar das nur zweifelhaft, denn ebenſo möglich wie der Sieg, iſt ja die Niederlage … Und nicht nur einem vereinzelten Leid, dem meinen, wird das vermeintliche vaterländiſche Wohl entgegengeſtellt, ſondern tauſend und abertauſend einzelne im eigenen und im Feindeslande müßten denſelben Schmerz einſetzen, der mich jetzt durchbebte … Ach, war denn dem nicht vorzubeugen — war’s nicht abzuwehren? Wenn ſich alle vereinten — alle Vernünftigen, Guten, Gerechten — um das drohende Übel zu verhüten —
„Sagen Sie mir doch,“ wandte ich mich laut an den Miniſter, „ſtehen die Dinge wirklich ſchon ſo ſchlimm? Habt Ihr, Miniſter und Diplomaten, habt Ihr denn ſolche Konflikte nicht zu vermeiden gewußt, werdet Ihr deren Ausbruch nicht zu verhindern wiſſen?“
„Glauben Sie denn, Baronin, daß es unſeres Amtes iſt, den ewigen Frieden zu erhalten? Das wäre allerdings eine ſchöne Miſſion — aber unausführbar. Wir ſind nur da, über die Intereſſen unſerer reſpektiven Staaten und Dynaſtien zu wachen, jeder drohenden Verringerung ihrer Machtſtellung entgegenzuarbeiten und jede mögliche Suprematie zu erringen trachten, eiferſüchtig die Ehre des Landes hüten, uns angethanen Schimpf rächen —“
„Kurz,“ unterbrach ich, „nach dem kriegeriſchen Grundſatze handeln: dem Feind — das iſt nämlich jeder andere Staat — thunlichſt zu ſchaden und, wenn ein Streit entſteht, ſo lange hartnäckig behaupten, daß man im Recht iſt, — auch wenn man ſein Unrecht einſieht, nicht wahr?“
„Allerdings.“
„Bis beiden Streitenden die Geduld reißt und drauf losgehauen werden muß … es iſt abſcheulich!“
„Das iſt doch der einzige Ausweg. Wie anders ſoll denn ein Völkerſtreit geſchlichtet werden?“
„Wie werden denn Prozeſſe zwiſchen einzelnen geſitteten Menſchen geſchlichtet?“
„Durch das Tribunal. Die Völker unterſtehen aber keinem ſolchen.“
„Ebenſowenig wie die Wilden,“ kam mir Doktor Breſſer zu Hilfe. „Ergo ſind die Völker in ihrem Verkehr noch ungeſittet, und es dürfte wohl noch lange Zeit vergehen, bis ſie dazu gelangen, ein internationales Schiedsgericht einzuſetzen.“
„Dazu wird es nie kommen,“ ſagte mein Vater. „Es giebt Dinge, die nur ausgefochten und nicht ausprozeſſiert werden können. Selbſt wenn man verſuchen wollte, ein ſolches Schiedsgericht zu errichten — die ſtarken Regierungen würden ſich demſelben ebenſowenig beugen, wie zwei Edelleute, von denen der eine beleidigt worden, ihre Differenz zu Gericht tragen. — Die ſchicken einander einfach ihre Zeugen und ſchlagen ſich rechtſchaffen.
„Das Duell iſt aber auch ein barbariſcher, unſittlicher Brauch —“
„Sie werden’s nicht ändern, Doktor.“
„Ich werde es aber wenigſtens nicht gutheißen, Excellenz.“
„Was ſagſt denn Du, Friedrich?“ wandte ſich nun mein Vater an den Schwiegerſohn. „Biſt Du etwa auch der Anſicht, daß man nach einer erhaltenen Ohrfeige zu Gericht gehen ſoll und um 5 fl. Schadenerſatz klagen?“
„Ich würde es nicht thun.“
„Du würdeſt den Beleidiger fordern?“
„Verſteht ſich.“
„Aha, Doktor — aha, Martha,“ triumphierte mein Vater, „hört Ihr? Auch Tilling, der doch kein Freund des Krieges iſt, giebt zu, ein Freund des Duells zu ſein.“
„Ein Freund? Das habe ich nie behauptet. Ich ſagte nur, daß ich gegebenen Falls ſelbſtverſtändlich zum Duell greifen würde — wie ich es übrigens auch ſchon ein und das andere Mal gethan; gerade ſo ſelbſtverſtändlich, wie ich ſchon mehreremale in den Krieg gezogen, und bei dem nächſten Anlaß wieder ziehen werde. Ich füge mich den Satzungen der Ehre. Damit will ich aber keineswegs geſagt haben, daß dieſe Satzungen, wie ſie unter uns beſtehen, meinem ſittlichen Ideal entſprechen. Nach und nach, wenn dieſes Ideal die Herrſchaft gewinnt, wird der Begriff der Ehre auch eine Wandlung erfahren: einmal wird eine erhaltene Injurie, wenn ſie unverdient iſt, nicht auf den Empfänger, ſondern auf den rohen Geber als Schmach zurückfallen; zweitens wird das Selbſträcheramt auch in Sachen der Ehre ebenſo außer Gebrauch kommen, wie in kultivierter Geſellſchaft die Selbſtjuſtiz in anderen Dingen thatſächlich ſchon verſchwunden iſt. Bis dahin —“
„Da können wir lange warten,“ unterbrach mein Vater. „So lange es überhaupt Edelleute gibt —“
„Das muß auch nicht immer ſein,“ meinte der Doktor.
„Oho, Sie wollen gar den Adel abſchaffen, Sie Radikaler?“ rief mein Vater.
„Den feudalen allerdings. ‚Edelleute‘ braucht die Zukunft keine.“
„Deſto mehr Edelmenſchen,“ bekräftigte Friedrich.
„Und dieſe neue Gattung wird Ohrfeigen einſtecken?“
„Sie wird vor allem keine austeilen.“
„Und ſich nicht verteidigen, wenn der Nachbarſtaat einen kriegeriſchen Einfall macht?“
„Es wird keine einfallenden Nachbarſtaaten geben — ebenſowenig als jetzt unſere Landſitze von feindlichen Nachbarburgen umgeben ſind. Und wie der heutige Schloßherr keinen Troß bewaffneter Knappen mehr braucht —“
„So ſoll der Zukunftsſtaat des bewaffneten Heeres entraten können? Was wird denn aus Euch Oberſtlieutenants?“
„Was iſt aus den Knappen geworden?“
So hatte ſich der alte Streit wieder einmal entſponnen und derſelbe wurde noch eine Zeit lang fortgeſetzt. Ich hing mit Entzücken an Friedrichs Lippen; es that mir unſäglich wohl, die Sache erhöhter Geſittung von ihm ſo feſt und ſicher vertreten zu ſehen, und im Geiſte verlieh ich ihm ſelber den Titel, den er vorhin genannt hatte: „Edelmenſch“!