Einige Tage ſpäter, um die Nachmittagsſtunde, trat Tilling bei mir ein. Er traf mich jedoch nicht allein. Mein Vater und Tante Marie waren auf Beſuch gekommen, und außerdem befanden ſich noch Roſa und Lilli, Konrad Althaus und Miniſter „Allerdings“ in meinem Salon.
Ich hatte Mühe, einen Überraſchungsſchrei zu unterdrücken: der Beſuch kam mir ſo unerwartet und ſo freudig erregend zugleich. Aber mit der Freude war es bald vorüber, als Tilling, nachdem er die Anweſenden begrüßt und ſich auf meine Einladung mir gegenüber niedergeſetzt hatte, in kaltem Tone ſagte:
„Ich bin gekommen, Ihnen meine Abſchiedsaufwartung zu machen, Gräfin. Ich verlaſſe in den nächſten Tagen Wien.“
„Auf lange?“ „Und wohin?“ „Und warum?“ „Und wieſo?“ fragten gleichzeitig und lebhaft die anderen, während ich ſtumm blieb.
„Vielleicht auf immer. — Nach Ungarn. — Zu einem anderen Regiment verſetzen laſſen. — Aus Vorliebe für die Magyaren,“ gab Tilling nach den verſchiedenen Seiten Beſcheid.
Indeſſen hatte ich mich gefaßt.
„Das war ein raſcher Entſchluß,“ ſagte ich möglichſt ruhig. „Was hat Ihnen denn unſer Wien zu leid gethan, daß Sie es auf ſo gewaltſame Weiſe verlaſſen?“
„Es iſt mir zu lebhaft und zu luſtig. Ich bin in einer Stimmung, welche die Sehnſucht nach einſamer Pußta mit ſich bringt.“
„Ach was,“ meinte Konrad, „je trüber die Stimmung, deſto mehr ſoll man Zerſtreuung ſuchen. Ein Abend im Carltheater wirkt jedenfalls erfriſchender, als tagelange beſchauliche Einſamkeit.“
„Das beſte, um Sie aufzurütteln, lieber Tilling,“ ſagte mein Vater, „wäre wohl ein friſcher, fröhlicher Krieg — aber leider iſt jetzt gar keine Ausſicht dazu vorhanden; der Friede droht ſich unabſehbar auszudehnen.“
„Was das doch für ſonderbare Wortzuſammenſetzungen ſind,“ konnte ich mich nicht enthalten zu bemerken: „Krieg und — fröhlich; Friede und — drohen.“
„Allerdings,“ beſtätigte der Miniſter, „der politiſche Horizont zeigt vor der Hand noch keinen ſchwarzen Punkt; doch es ſteigen Wetterwolken mitunter ganz unerwartet raſch auf, und die Chance iſt niemals ausgeſchloſſen, daß eine — wenn auch geringfügige — Differenz einen Krieg zum Ausbruch bringt. Das ſage ich Ihnen zum Troſt, Herr Oberſtlieutenant. Was mich anbelangt, der ich kraft meines Amtes die inneren Angelegenheiten meines Landes zu verwalten habe, ſo müſſen meine Wünſche allerdings nur nach möglichſt langer Erhaltung des Friedens gerichtet ſein; denn dieſer allein iſt geeignet, die in meinem Reſſort liegenden Intereſſen zu fördern; doch hindert dies mich nicht, die berechtigten Wünſche derer anzuerkennen, welche vom militäriſchen Standpunkt allerdings —“
„Geſtatten Sie mir, Excellenz,“ unterbrach Tilling, „für meine Perſon gegen die Zumutung mich zu verwahren, daß ich einen Krieg herbeiwünſche. Und auch gegen die Unterſtellung zu proteſtieren, als dürfe der militäriſche Standpunkt ein anderer ſein, als der menſchliche. Wir ſind da, um, wenn der Feind das Land bedroht, dasſelbe zu ſchützen, geradeſo wie die Feuerwehr da iſt, um, wenn ein Brand ausbricht, denſelben zu löſchen. Damit iſt weder der Soldat berechtigt, einen Krieg, noch der Feuerwehrmann, einen Brand herbeizuwünſchen. Beides bedeutet Unglück, ſchweres Unglück, und als Menſch darf keiner am Unglück ſeiner Mitmenſchen ſich erfreuen.“
„Du guter, teurer Mann!“ redete ich im Stillen den Sprecher an. Dieſer fuhr fort:
„Ich weiß wohl, daß die Gelegenheit zu perſönlicher Auszeichnung dem einen nur bei Feuersbrünſten, dem anderen nur bei Feldzügen geboten wird; aber wie kleinherzig und enggeiſtig muß ein Menſch nicht ſein, damit ſein ſelbſtiſches Intereſſe ihm ſo rieſig erſcheine, daß es ihm den Ausblick auf das allgemeine Weh verrammelt. Oder wie hart und grauſam, wenn er es dennoch ſieht und nicht als ſolches mitempfindet. Der Friede iſt die höchſte Wohlthat — oder vielmehr die Abweſenheit der höchſten Übelthat, — er iſt, wie Sie ſelber ſagten, der einzige Zuſtand, in welchem die Intereſſen der Bevölkerung gefördert werden können, und Sie wollten einem ganzen großen Bruchteil dieſer Bevölkerung — der Armee — das Recht zuerkennen, den gedeihlichen Zuſtand wegzuwünſchen und den verderblichen zu erſehnen? Dieſen „berechtigten“ Wunſch großziehen, bis er zur Forderung anwächſt, und dann vielleicht ſogar erfüllen? Krieg führen, damit die Armee doch beſchäftigt und befriedigt werde — Häuſer anzünden, damit die Löſchmannſchaft ſich bewähren und Lob ernten könne?“
„Ihr Vergleich hinkt, lieber Oberſtlieutenant,“ entgegnete mein Vater, indem er gegen ſeine Gewohnheit Tilling mit ſeinem militäriſchen Titel anſprach, vielleicht um ihn zu ermahnen, daß ſeine Geſinnungen mit ſeiner Charge nicht übereinſtimmten. — „Feuersbrünſte bringen nur Schaden, während Kriege dem Lande Macht und Größe zuführen können. Wie anders haben ſich denn die Staaten gebildet und ausgebreitet, als durch ſiegreiche Feldzüge? Der perſönliche Ehrgeiz iſt wohl nicht das einzige, was dem Soldaten Freude am Kriege macht, vor allem iſt es der nationale, der vaterländiſche Stolz, der da ſeine köſtliche Nahrung findet; — mit einem Wort, der Patriotismus —“
„Nämlich die Liebe zur Heimat!“ fiel Tilling ein. „Ich begreife wirklich nicht, warum gerade wir Militärs machen, als hätten wir dieſes, den meiſten Menſchen natürliche Gefühl, allein in Pacht. Jeder liebt die Scholle, auf der er aufgewachſen; jeder wünſcht die Hebung und den Wohlſtand der eigenen Landsleute; aber Glück und Ruhm ſind durch ganz andere Mittel zu erreichen, als durch den Krieg; ſtolz kann man auf ganz andere Leiſtungen ſein, als auf Waffenthaten; ich bin zum Beiſpiel auf unſeren Anaſtaſius Grün ſtolzer, als auf dieſen oder jenen Generaliſſimus.“
„Wie kann man einen Dichter mit einem Feldherrn nur vergleichen!“ rief mein Vater.
„Das frage ich auch. Der unblutige Lorbeer iſt weitaus der ſchönere.“
„Aber lieber Baron,“ ſagte nun meine Tante, „ſo habe ich noch keinen Soldaten ſprechen hören. Wo bleibt da die Kampfbegeiſterung, wo das kriegeriſche Feuer?“
„Das ſind mir keine unbekannten Gefühle, meine Gnädige. Von ſolchen beſeelt, bin ich als neunzehnjähriger Junge zum erſtenmal zu Feld gezogen. Als ich aber die Wirklichkeit des Gemetzels geſehen, nachdem ich Zeuge der dabei entfeſſelten Beſtialität geweſen, da war es mit meinem Enthuſiasmus vorbei, und in die nachfolgenden Schlachten ging ich ſchon nicht mehr mit Luſt, ſondern mit Ergebung.“
„Hören Sie, Tilling, ich habe mehr Campagnen mitgemacht als Sie und auch Schauderſcenen genug geſehen, aber mich hat der Eifer nicht verlaſſen. Als ich im Jahre 49 ſchon als ältlicher Mann mit Radetzky marſchierte, war’s mit demſelben Jubel wie das erſte Mal.“
„Entſchuldigen Sie, Excellenz — aber Sie gehören einer älteren Generation an, einer Generation, in welcher der kriegeriſche Geiſt noch viel lebendiger war, als in der unſeren, und in welcher das Weltmitleid, das nach Abſchaffung alles Elends begehrt und jetzt in immer größere Kreiſe dringt, noch ſehr unbekannt war.“
„Was hilft’s? Elend muß es immer geben — das läßt ſich nicht abſchaffen, ebenſowenig wie der Krieg.“ …
„Sehen Sie, Graf Althaus, mit dieſen Worten kennzeichnen Sie den einſtigen, jetzt ſchon ſehr erſchütterten Standpunkt, auf welchem ſich die Vergangenheit allen ſozialen Übeln gegenüber verhielt, nämlich den Standpunkt der Reſignation, mit der man das Unvermeidliche, das Naturnotwendige betrachtet. Wenn aber einmal beim Anblick eines großen Elends die zweifelnde Frage „Mußte es ſein?“ ins Herz gedrungen iſt, ſo kann das Herz nicht mehr kalt bleiben, und es ſteigt neben dem Mitleid zugleich eine Art Reue auf — keine perſönliche Reue, ſondern — wie ſoll ich ſagen? — ein Vorwurf des Zeitgewiſſens.“
Mein Vater zuckte die Achſeln. „Das iſt mir zu hoch,“ ſagte er. „Ich kann Sie nur verſichern, daß nicht nur wir Großväter mit Stolz und Freude an die durchgemachten Feldzüge zurückdenken, ſondern daß auch die meiſten von den Jungen und Jüngſten, wenn befragt, ob ſie gern in den Krieg zögen, lebhaft antworten würden: Ja gern — ſehr gern.“
„Die Jüngſten — gewiß. Die haben noch den in der Schule eingepflanzten Enthuſiasmus im Herzen. Und von den anderen antworten viele dieſes „Gern!“, weil es nach allgemeinen Begriffen als männlich und tapfer erſcheint, das aufrichtige „Nicht gern“ aber gar zu leicht als Furcht gedeutet werden könnte.“
„Ach,“ ſagte Lilli mit einem kleinen Schauder, „ich würde mich auch fürchten … Das muß ja entſetzlich ſein, wenn ſo von allen Seiten die Kugeln fliegen, wenn jeden Augenblick der Tod droht —“
„So etwas klingt aus Ihrem Mädchenmunde ganz natürlich,“ entgegnete Tilling, „aber wir müſſen den Selbſterhaltungstrieb verleugnen … Soldaten müſſen auch das Mitleid, den Mitſchmerz für den auf Freund und Feind hereinbrechenden Rieſenjammer verleugnen, denn nächſt der Furcht wird uns jede Sentimentalität, jede Rührſeligkeit am meiſten verübelt.“
„Nur im Krieg, lieber Tilling,“ ſagte mein Vater, „nur im Krieg; im Privatleben haben wir, Gott ſei Dank, auch weiche Herzen.“
„Ja, ich weiß: das iſt ſo eine Art Verzauberung. Nach der Kriegserklärung heißt es plötzlich von allen Schreckniſſen: „Es gilt nicht“. Kinder laſſen manchmal dieſe Konvention in ihren Spielen walten. „Wenn ich dies oder jenes thue, ſo gilt es nicht,“ hört man ſie ſagen. Und im Kriegsſpiel herrſchen auch ſolche unausgeſprochene Übereinkommen: Totſchlag gilt nicht mehr als Totſchlag, Raub iſt nicht Raub — ſondern Requiſition, brennende Dörfer ſtellen keine Brandunglücke, ſondern „genommene Poſitionen“ vor. Von allen Satzungen des Geſetzbuches, des Katechismus, der Sittlichkeit heißt es da — ſolange die Partie dauert — „Es gilt nicht.“ Wenn aber manchmal der Spieleifer nachläßt, wenn das verabredete „Gilt nicht“ für einen Moment aus dem Bewußtſein ſchwindet und man die umgebenden Scenen in ihrer Wirklichkeit erfaßt und dies abgrundtiefe Unglück, das Maſſenverbrechen als geltend begreift, da wollte man nur noch eins, um ſich aus dem unerträglichen Weh dieſer Einſicht zu retten: — tot ſein.“
„Eigentlich, es iſt wahr,“ bemerkte Tante Marie nachdenklich, „Sätze wie: Du ſollſt nicht töten — ſollſt nicht ſtehlen — liebe deinen Nächſten wie dich ſelbſt — verzeihe deinen Feinden —“
„Gilt nicht,“ wiederholte Tilling. „Und diejenigen, deren Beruf es wäre, dieſe Sätze zu lehren, ſind die erſten, welche unſere Waffen ſegnen und des Himmels Segen auf unſere Schlachtarbeit herabflehen.“
„Und mit Recht,“ ſagte mein Vater. „Schon der Gott der Bibel war der Gott der Schlachten, der Herr der Heerſchaaren … Er iſt es, der uns befiehlt, das Schwert zu führen, er iſt es —“
„Als deſſen Willen die Menſchen immer dasjenige dekretieren,“ unterbrach Tilling, „was ſie gethan ſehen wollen — und dem ſie zumuten, ewige Geſetze der Liebe erlaſſen zu haben, welche er, — wenn die Kinder das große Haßſpiel aufführen —, durch göttliches „Gilt nicht“ aufhebt. Genau ſo roh, genau ſo inkonſequent, genau ſo kindiſch wie der Menſch, iſt der jeweilig von ihm dargeſtellte Gott. Und jetzt, Gräfin,“ fügte er hinzu, indem er aufſtand, „verzeihen Sie mir, daß ich eine ſo unerquickliche Diskuſſion heraufbeſchworen habe, und laſſen Sie mich Abſchied nehmen.“
Stürmiſche Empfindungen durchbebten mich. Alles, was er eben geſprochen, hatte mir den teuren Mann noch teurer gemacht … Und jetzt ſollte ich von ihm ſcheiden — vielleicht auf Nimmerwiederſehen? So vor anderen Leuten ein kaltes Abſchiedswort mit ihm wechſeln und damit alles zu Ende ſein laſſen? … Es war nicht möglich: ich hätte, wenn die Thüre ſich hinter ihm geſchloſſen, in Schluchzen ausbrechen müſſen. Das durfte nicht ſein. Ich ſtand auf:
„Einen Augenblick, Baron Tilling,“ ſagte ich … „ich muß Ihnen doch noch jene Photographie zeigen, von der wir neulich geſprochen.“
Er ſchaute mich erſtaunt an, denn es war zwiſchen uns niemals von einer Photographie die Rede geweſen. Dennoch folgte er mir in die andere Ecke des Salons, wo auf einem Tiſche verſchiedene Albums lagen und — wo man ſich außer Gehörweite der anderen befand.
Ich ſchlug ein Album auf und Tilling beugte ſich darüber. Indeſſen ſprach ich halblaut und zitternd zu ihm:
„So laſſe ich Sie nicht fort … Ich will, ich muß mit Ihnen reden.“
„Wie Sie wünſchen, Gräfin — ich höre.“
„Nein, nicht jetzt. Sie müſſen wiederkommen … morgen, um dieſe Stunde!“
Er ſchien zu zögern.
„Ich befehle es … bei dem Andenken Ihrer Mutter, um welche ich mit Ihnen geweint —“
„Oh Martha!“ …
Der ſo ausgeſprochene Name durchzuckte mich wie ein Glücksſtrahl.
„Alſo morgen,“ wiederholte ich, ihm in die Augen ſchauend.
„Um dieſelbe Stunde.“
Wir waren einig. Ich kehrte zu den andern zurück und Tilling, nachdem er noch meine Hand an ſeine Lippen geführt und die übrigen mit einer Verbeugung begrüßt hatte, ging zur Thüre hinaus.
„Ein ſonderbarer Menſch,“ bemerkte mein Vater kopfſchüttelnd. „Was er da alles geſagt hat, würde höheren Ortes kaum Beifall finden.“