Bertha von Suttner: Die Waffen nieder! // Eine Lebensgeſchichte 19. Zweites Buch. Friedenszeit. // 9. Abſchnitt Am beſtimmten Tage und zur beſtimmten Stunde ließ ſich Tilling bei mir anmelden. Vorher hatte ich in die roten Hefte folgende Eintragung gemacht: „Ich ahne, daß der heutige Tag über mein Schickſal entſcheiden wird. Mir iſt ſo feierlich und bang, ſo ſüß erwartungsvoll zu Mute. Dieſe Stimmung muß ich in dieſen Blättern fixieren, damit, wenn ich einſt nach langen Jahren darin blättere, ich mir recht lebhaft die Stunde ins Gedächtnis zurückrufen könne, welcher ich jetzt ſo bewegt entgegenſehe. Vielleicht kommt es ganz anders, als ich denke — vielleicht auch genau ſo … jedenfalls wird es mich einſt intereſſieren, zu ſehen, wie weit Vorausſicht und Wirklichkeit ſich deckten. — — — Der Erwartete liebt mich — das bewies mir ſein am Sterbelager der Mutter geſchriebener Brief; er iſt wiedergeliebt — das muß ihm das Röslein im Totenkranz verraten haben … Und nun kommen wir zuſammen — ohne Zeugen — im Innerſten bewegt — er troſtbedürftig — ich vom Wunſche zu tröſten durchdrungen: ich glaube, es wird gar nicht viel Worte geben … Thränen in unſerer beiden Augen, zitternd vereinte Hände — und wir werden uns verſtanden haben … Zwei liebende, zwei glückliche Menſchen — ernſthaft, weihevoll, leidenſchaftlich, andächtig glücklich — während in der Geſellſchaft die Sache gleichgültig und trocken etwa ſo verkündet wird! „Wiſſen Sie ſchon? die Martha Dotzky hat ſich mit Tilling verlobt — eine miſerable Partie.“ … Es iſt zwei Uhr und fünf Minuten — jetzt kann er jeden Augenblick eintreten. — Die Glocke … dieſes Herzklopfen dieſes Zittern, ich fühle, daß — —“ So weit war ich gekommen. Die letzte Zeile iſt mit beinahe unleſerlichen Buchſtaben gekritzelt, ein Zeichen, daß „dieſes Herzklopfen, dieſes Zittern“ keine bloße rhetoriſche Figur war. Vorausſicht und Wirklichkeit deckten ſich nicht. Tilling verhielt ſich während ſeines halbſtündigen Beſuches ganz zurückhaltend und kalt. Er bat mich um Verzeihung für die Kühnheit, welche er gehabt, an mich zu ſchreiben; ich möge dieſes Beiſeiteſetzen der Etikette der Unzurechnungsfähigkeit zu gute halten, welche einen Menſchen in ſo ſchmerzlichen Augenblicken befallen kann. Dann erzählte er mir noch einiges von den letzten Tagen und aus dem Leben ſeiner Mutter; aber von dem, was ich erwartet hatte — kein Wort. Und ſo wurde auch ich immer zurückhaltender und kälter. Als er ſich zum Gehen erhob, machte ich keinen Verſuch, ihn zu halten und forderte ihn auch nicht auf, wiederzukommen. Und als er draußen war, ſtürzte ich wieder zu den noch offen liegenden roten Heften hin und ſchrieb den unterbrochenen Satz weiter: „Ich fühle, daß — alles aus iſt … daß ich mich ſchmählich getäuſcht habe, daß er mich nicht liebt und jetzt auch glauben wird, daß er mir ebenſo gleichgültig iſt, wie ich ihm. Beinahe abſtoßend habe ich mich benommen. Ich fühle — er kommt nie wieder. Und doch enthält die Welt keinen zweiten Menſchen für mich! So gut, ſo edel, ſo geiſtvoll iſt keiner mehr — und ſo lieb wie {ich} Dich gehabt hätte, Friedrich, ſo lieb hat Dich keine andere, Deine Prinzeſſin — zu der Du zurückgekehrt zu ſein ſcheinſt — ſchon gewiß nicht. Mein Sohn Rudolf, Du ſollſt mein Troſt und mein Halt ſein. Fortan will ich von Frauenliebe nichts mehr wiſſen; nur die Mutterliebe ſoll mir Herz und Leben ausfüllen … Wenn es mir gelingt, einen ſolchen Mann aus Dir zu bilden, wie jener einer iſt — wenn ich einſt von Dir ſo beweint werde, Rudolf, wie jener ſeine Mutter beweint, ſo werde ich mein Ziel erreicht haben.“ Eigentlich eine thörichte Einrichtung, das Tagebuchſchreiben. Dieſe ſtets wechſelnden, zerfließenden und neu erſtehenden Wünſche, Vorſätze und Anſchauungen, welche den Lauf des Seelenlebens bilden, durch aufgeſchriebene Worte verewigen zu wollen, das iſt ein verfehltes Beginnen und bringt dem älteren nachleſenden Ich die immerhin beſchämende Erkenntnis der eigenen Veränderlichkeit. Hier ſtanden nun auf demſelben Blatte und unter demſelben Datum, zwei ſo grundverſchiedene Stimmungen verzeichnet: zuerſt die zuverſichtlichſte Hoffnung — daneben die vollſtändigſte Entſagung und die nächſten Blätter ſollten doch wieder ganz Neues berichten … Der Oſtermontag war vom herrlichſten Frühlingswetter begünſtigt und die an dieſem Tage hergekommenermaßen ſtattfindende Praterfahrt — eine Art Vorfeier des großen Erſten-Mai-Corſo, fiel beſonders glänzend aus. Ich weiß noch, wie dieſer Glanz, dieſe Feſt- und Lenzwonne, die mich da umgab, mit der Traurigkeit kontraſtierte, welche mein Gemüt erfüllte. Und doch — ich hätte meine Traurigkeit nicht hergeben wollen — nicht wieder ſo heiteren, dabei aber leeren Herzens ſein, wie vor etwa zwei Monaten, als ich Tilling noch nicht kannte. Denn wenn meine Liebe auch allem Anſchein nach eine unglückliche war, ſo war es doch Liebe — das heißt eine Steigerung der Lebensintenſität: dieſes warme, zärtliche Gefühl, welches mein Herz ſchwellte, ſo oft das teure Bild mir vor das innere Auge trat — ich hätte es nimmer miſſen mögen. Daß ich den Gegenſtand meiner Träume hier im Prater, mitten im Gewühle weiblicher Fröhlichkeit zu Geſicht bekommen würde, erwartete ich nicht. Und doch: als ich einmal zerſtreut die Blicke nach der Reit-Allee ſchweifen ließ, ſah ich von weitem, die Allee in unſerer Richtung herabgaloppierend, einen Offizier, in welchem ich ſogleich — obſchon mein kurzſichtiges Auge ihn nur undeutlich ausnahm — Tilling erkannte. Als er nun in die Nähe kam und, zu uns herüberſalutierend, ſich mit unſerem Wagen kreuzte, da erwiderte ich ſeinen Gruß nicht nur mit einem Kopfnicken, ſondern mit lebhaftem Winken. Im ſelben Augenblick war ich gewahr, daß ich da etwas Unpaſſendes und Ungerechtfertigtes gethan. „Wem haſt Du ſolche Zeichen gemacht?“ fragte meine Schweſter Lilli: „War es etwa Papa? … Ah, ich ſehe,“ fügte ſie hinzu, „da ſpaziert ja eben der unvermeidliche Konrad — dem galt Deine Handverrenkung?“ Dieſes rechtzeitige Erſcheinen des „unvermeidlichen Konrad“ kam mir ſehr gelegen. Ich war dem treuen Vetter dankbar dafür und bethätigte dieſe Dankbarkeit ſofort: „Schau, Lilli,“ ſagte ich, „er iſt doch ein lieber Menſch und gewiß nur wieder Deinetwegen hier — Du ſollteſt Dich ſeiner erbarmen, Du ſollteſt ihm gut ſein … O, wenn Du wüßteſt, wie ſüß es iſt, Jemanden lieb zu haben, Du würdeſt Dein Herz nicht ſo verſchließen. Geh, mach ihn glücklich, den guten Menſchen.“ Lilli ſchaute mich erſtaunt an. „Wenn er mir aber gleichgültig iſt, Martha?“ „So liebſt Du vielleicht einen anderen?“ Sie ſchüttelte den Kopf: „Nein, niemand.“ „O Du Arme!“ Wir fuhren noch zwei- oder dreimal die Allee auf und nieder. Aber denjenigen, nach welchem meine Blicke jetzt ſpähend umherſuchten, ſah ich kein zweites Mal. Er hatte den Prater wieder verlaſſen. 20. Zweites Buch. Friedenszeit. // 10. Abſchnitt