Bertha von Suttner: Die Waffen nieder! // Eine Lebensgeſchichte 15. Zweites Buch. Friedenszeit. // 5. Abſchnitt Gegen acht Uhr brachen ſämtliche Gäſte auf. Mein Vater wollte ſie noch alle zurückhalten und auch ich murmelte verbindlich ein paar gaſtliche Phraſen, wie „Doch wenigſtens noch eine Taſſe Thee?“ aber vergebens. Jeder brachte eine Entſchuldigung vor: der eine wurde im Kaſino, der andere in einer Soirée erwartet; eine der Damen hatte ihren Logentag in der Oper und wollte den vierten Akt der Hugenotten hören; die zweite erwartete noch Gäſte bei ſich; kurz, man mußte ſie — und nicht ſo ungern als es den Anſchein hatte — ziehen laſſen. Tilling und Doktor Breſſer, die ſich gleichzeitig mit den anderen erhoben hatten, empfahlen ſich zuletzt. „Und was haben Sie beide noch Wichtiges vor?“ fragte mein Vater. „Ich eigentlich nichts,“ antwortete Tilling lächelnd; „da aber ſämtliche Gäſte ſich entfernen, wäre es unbeſcheiden —“ „Dasſelbe gilt von mir,“ fiel der Doktor ein. „Nun, dann laſſe ich keinen von beiden fort.“ Ein paar Minuten ſpäter hatten mein Vater und der Doktor am Spieltiſch Platz genommen und vertieften ſich in eine Partie Piket, während Baron Tilling ſich an meine Seite zum Kamin ſetzte. — „Eine „einſchläfernde Geſchichte“ dieſes Diner? — Nein, wahrlich, angenehmer und anregender hätte ſich mir kein Abend geſtalten können —“ flog es mir durch den Sinn, und laut: „Eigentlich ſollte ich Ihnen Vorwürfe machen, Baron Tilling: warum haben Sie nach Ihrem erſten Beſuche den Weg in mein Haus vergeſſen?“ „Sie hatten mich nicht aufgefordert, wiederzukommen.“ „Ich teilte Ihnen doch mit, daß an Samstagen —“ „Ja, ja, zwiſchen Zwei und Vier … Das dürfen Sie mir nicht zumuten, Gräfin. Aufrichtig: ich kenne nichts Schrecklicheres, als dieſe offiziellen Empfangstage. In einen mit fremden Leuten angefüllten Salon eintreten; — ſich vor der Hausfrau verbeugen; — am äußerſten Ende eines Halbkreiſes Platz nehmen; — Bemerkungen über das Wetter austauſchen hören und, wenn man zufällig neben einen Bekannten zu ſitzen kam, eine eigene Bemerkung hinzufügen; — von der Hausfrau über alle Hinderniſſe weg mit einer Frage ausgezeichnet zu werden, die man eifrigſt beantwortet, hoffend, daß ſich nun mit derjenigen, die man beſuchen wollte, ein Geſpräch entſpinnen werde — vergebens: ſoeben tritt wieder ein anderer Gaſt ein, der begrüßt werden muß und der ſich hierauf auf das nächſte leere Plätzchen des Halbkreiſes niederläßt und — in der Meinung, das Thema ſei noch nicht berührt worden — eine neue Bemerkung über das Wetter in Umlauf bringt; dann nach zehn Minuten — wenn abermals Beſuchsverſtärkung kommt, womöglich eine Mama mit vier heiratsfähigen Töchtern, für die nicht genug Seſſel mehr frei wären — im Verein mit einigen anderen aufſtehen, von der Hausfrau ſich empfehlen und gehen … nein, Gräfin, ſo etwas überſteigt meine ohnehin nur ſchwachen geſelligen Fähigkeiten.“ „Sie ſcheinen überhaupt der Geſellſchaft ſich fern zu halten — man ſieht Sie nirgends. Sie ſind ein Menſchenfeind? … Doch nein, dieſe Frage nehme ich zurück. Aus manchem, was Sie ſagten, habe ich herausgehört, daß Sie alle Menſchen lieben.“ „Die Menſchheit liebe ich, aber alle Menſchen? — Nein. Es gibt zu viele nichtswürdige, bornierte, ſelbſtſüchtige, kaltblütig grauſame darunter — die kann ich nicht lieben, wenngleich ich ſie bedaure, daß ihnen Erziehung und Umſtände nicht geſtattet haben, liebenswert zu ſein.“ „Umſtände und Erziehung? Der Charakter hängt doch hauptſächlich von den angeborenen Anlagen ab — meinen Sie nicht?“ „Was Sie angeborene Anlagen nennen, ſind doch weiter nichts als auch Umſtände, ererbte Umſtände.“ „Dann ſind Sie der Anſicht, daß ein ſchlechter Menſch an ſeiner Schlechtigkeit unſchuldig und darum nicht zu verabſcheuen ſei?“ „Der Nachſatz iſt durch den Vorderſatz nicht bedingt: unſchuldig wohl — aber dennoch zu verabſcheuen. Sie ſind an Ihrer Schönheit auch unſchuldig und darum doch bewunderungswürdig.“ „Baron Tilling! Wir haben angefangen, als zwei vernünftige Leute ernſte Dinge zu ſprechen — verdiene ich da, plötzlich als komplimentenſüchtige Salondame behandelt zu werden?“ „Verzeihen Sie mir — ſo war es nicht gemeint. Ich habe nur das mir zunächſt liegende Argument gebraucht.“ Es entſtand eine kleine Pauſe. Tillings Blick hing mit einem bewundernden, faſt zärtlichen Ausdruck an meinen Augen, die ich nicht ſenkte … Ich weiß wohl, daß ich hätte wegſchauen ſollen — aber ich that es nicht. Ich fühlte meine Wangen erglühen und wußte, daß, wenn er mich hübſch fand, ich in dieſem Augenblick noch hübſcher erſcheinen mußte … es war ein angenehmes, „bösgewiſſiges“, verwirrendes Gefühl und dauerte eine halbe Minute. Länger durfte es nicht dauern; ich hob den Fächer vors Geſicht und veränderte meine Stellung. Dann in gleichgültigem Tone: „Sie haben vorhin dem Miniſter „Allerdings“ eine vortreffliche Antwort gegeben.“ Tilling ſchüttelte den Kopf, als ob er ſich aus einem Traume riſſe: „Ich? … Vorhin? … Ich erinnere mich nicht. Im Gegenteil: mir ſcheint, daß ich Ärgernis gegeben habe, mit meiner Bemerkung über den Springauf — Hopsauf — oder wie der brave Schütze hieß.“ „Hupfauf.“ „Sie waren die Einzige, der ich zu Dank geſprochen. Die Exzellenzherren hingegen habe ich mit meiner, für einen k._k. Oberſtlieutenant höchſt unpaſſenden Äußerung natürlich verletzt … „hartes Herz“, von einem, der ſo braves Beſtſchießen auf den Feind leiſtet: Läſterung! Soldaten ſind doch bekanntlich — je kaltblütiger ſie töten — deſto gutmütigere Kumpane; es giebt keine ſentimentalere Rührfigur im melodramatiſchen Repertoir, als den ſchlachtenergrauten, weichherzigen Krieger: keiner Fliege könnte der ſtelzfüßige Veteran etwas zu Leide thun.“ „Warum ſind Sie Soldat geworden?“ „Mit dieſer ſo geſtellten Frage beweiſen Sie, daß Sie mir ins Herz geſchaut haben. Nicht ich — nicht der neununddreißigjährige Friedrich Tilling, der drei Feldzüge geſehen, habe den Beruf gewählt, ſondern der zehn- oder zwölfjährige kleine Fritzl, der unter hölzernen Streitroſſen und bleiernen Regimentern aufgewachſen und den ſein Vater, der ordensgeſchmückte General, und ſein Onkel, der mädchenerobernde Lieutnant, aufmunternd fragten: Junge, was willſt Du werden? Was ſonſt als ein wirklicher Soldat, mit einem wirklichen Säbel und einem lebendigen Pferd?“ „Für meinen Sohn Rudolf wurde mir heute auch eine Schachtel Bleiſoldaten gebracht — ich werde ſie ihm nicht geben. — Doch warum — als der Fritzl zum Friedrich ſich entwickelt hatte, warum haben Sie da nicht einen Stand verlaſſen, der Ihnen verhaßt geworden?“ „Verhaßt? Das iſt zu viel geſagt. Ich haſſe den Zuſtand der Dinge, der uns Menſchen ſo grauſige Pflichten auferlegt, wie das Kriegsführen; da dieſer Zuſtand nun aber einmal da iſt — unvermeidlich da iſt — ſo kann ich die Leute nicht haſſen, welche die daraus erwachſenden Pflichten auf ſich nehmen und gewiſſenhaft, mit Aufwand ihrer beſten Kräfte, erfüllen. Wenn ich den Militärdienſt verließe, würde darum weniger Krieg geführt? Gewiß nicht. Es würde nur an meiner Stelle ein Anderer ſein Leben einſetzen — das kann ich ſchon auch ſelber thun.“ „Könnten Sie Ihren Mitmenſchen nicht in einem anderen Stande mehr Nutzen bringen?“ „Ich wüßte nicht. Ich habe nichts Anderes gründlich gelernt als die Soldaterei. Man kann um ſich herum immer Gutes und Nützliches wirken; ich habe Gelegenheit genug, den Leuten, die unter mir dienen, das Leben zu erleichtern. Und was mich ſelber betrifft — ich bin ja ſozuſagen auch ein Mitmenſch — ſo genieße ich den Reſpekt, welchen die Welt meinem Stande entgegenbringt; ich habe eine leidlich gute Karrière gemacht — bin bei den Kameraden beliebt, und freue mich dieſer Erfolge. Vermögen beſitze ich keins, als Privatmann hätte ich weder die Mittel, anderen noch mir zu nützen — aus welchem Grunde hätte ich da meine Laufbahn aufgeben ſollen?“ „Weil Ihnen das Totſchlagen widerſtrebt.“ „Wenn es gilt, das eigene Leben gegen einen anderen Totſchläger zu verteidigen, ſo hört die perſönliche Tötungsverantwortung auf. Der Krieg iſt oft und ganz zutreffend ein Maſſenmord benannt worden, aber der einzelne fühlt ſich nicht als Mörder. Daß mir jedoch der Kampf widerſtrebt, daß mir die Jammerauftritte des Schlachtfeldes Schmerz und Ekel einflößen — das iſt wahr. Ich leide dabei, leide intenſiv … aber ſo muß auch mancher Seemann während des Sturmes von der Seekrankheit leiden, und dennoch, wenn er ein halbwegs braver Kerl iſt, hält er aus auf Deck, und wagt ſich, wenn es ſein muß, immer wieder hinaus ins Meer.“ „Ja, wenn es ſein muß. Muß der Krieg denn ſein?“ „Das iſt eine andere Frage. Aber mitziehen muß der einzelne — und das giebt ihm, wenn auch nicht Luſt, ſo doch Kraft zu ſeiner Amtserfüllung.“ So ſprachen wir noch eine Zeit lang fort — in leiſem Ton, um die Piketſpieler nicht zu ſtören — und wohl auch, um von ihnen nicht gehört zu werden, denn unſere getauſchten Anſichten — Tilling ſchilderte noch einige Schlachtenepiſoden und ſeinen dabei empfundenen Abſcheu, ich teilte ihm die von Buckle aufgeſtellten Betrachtungen über den mit ſteigender Civiliſation abnehmenden Kriegsgeiſt mit — dieſe Reden paßten nicht für die Ohren des Generals Althaus. Ich empfand, daß es ein Zeichen großen Vertrauens von ſeiten Tillings war, mir über dieſes Thema ſo rückhaltlos ſein Inneres aufzudecken — es war da ein Strom von Sympathie von einer Seele zur anderen übergegangen … „Ihr ſeid ja dort in ſehr eifriges Geflüſter vertieft!“ rief einmal beim Kartenmiſchen mein Vater zu uns herüber. „Was komplottiert Ihr denn?“ „Ich erzähle der Gräfin Feldzugsgeſchichten —“ „So? Das iſt ſie ſchon von Kindheit an gewohnt. Ich erzähle dergleichen auch zuweilen. Sechs Blatt, Herr Doktor, und eine Quartmajor —“ Wir nahmen unſer Geflüſter wieder auf. Plötzlich, während Tilling ſprach — er hatte ſeinen Blick wieder in den meinen geſenkt und aus ſeiner Stimme klang ſo inniges Vertrauen — fiel mir die Prinzeſſin ein. Es gab mir einen Stich und ich wandte den Kopf ab. Tilling unterbrach ſich mitten in ſeinem Satz: „Was machen Sie ſo ein böſes Geſicht, Gräfin?“ fragte er erſchrocken; „hab’ ich etwas geſagt, das Ihnen mißfallen?“ „Nein, nein … es war nur ein peinlicher Gedanke. Fahren Sie fort.“ „Ich weiß nicht mehr, wovon ich ſprach. Vertrauen Sie mir lieber Ihren peinlichen Gedanken an. Ich habe Ihnen die ganze Zeit über ſo offen mein Herz ausgeſchüttet — vergelten Sie mir das.“ „Es iſt mir ganz unmöglich, Ihnen das mitzuteilen, woran ich vorhin dachte.“ „Unmöglich? darf ich raten? … Betraf es Sie?“ „Nein.“ „Mich?“ Ich nickte. „Etwas Peinliches über mich, was Sie mir nicht ſagen können? … Iſt es —“ „Zerbrechen Sie ſich nicht den Kopf; ich verweigere jede weitere Auskunft!“ Dabei ſtand ich auf und blickte nach der Uhr. „Schon halb zehn … Ich werde Dir jetzt adieu ſagen, Papa —“ Mein Vater ſchaute von ſeinen Karten auf: „Gehſt Du noch in eine Soirée?“ „Nein, nach Hauſe — ich bin geſtern ſehr ſpät zu Bett gegangen —“ „Und da biſt Du ſchläfrig? Tilling, das iſt kein Kompliment für Sie.“ „Nein, nein,“ proteſtierte ich lächelnd, „den Baron trifft keine Schuld … wir haben uns ſehr lebhaft unterhalten.“ Ich verabſchiedete mich von meinem Vater und dem Doktor; Tilling bat ſich die Erlaubnis aus, mich bis zu meinem Wagen zu geleiten. Er war’s, der mir im Vorzimmer den Mantel umhing und der mir über die Treppe hinab den Arm reichte. Beim Hinuntergehen blieb er einen Moment ſtehen und fragte mich ernſthaft: „Nochmals, Gräfin, habe ich Sie etwa erzürnt?“ „Nein — auf Ehre.“ „Dann bin ich beruhigt.“ Indem er mich in den Wagen hob, drückte er feſt meine Hand und führte ſie an die Lippen.“ „Wann darf ich Ihnen meine Aufwartung machen?“ „An Samstagen bin ich —“ Er verneigte ſich und trat zurück. Ich wollte ihm noch etwas zurufen, aber der Bediente ſchloß den Wagenſchlag. Ich warf mich in die Ecke zurück und hätte am liebſten geweint — Thränen des Trotzes, wie ein erboſtes Kind. Ich war auf mich ſelber wütend: wie konnte ich nur ſo kalt, ſo unhöflich, ſo beinahe grob mit einem Menſchen ſein, der mir ſo warme Sympathie einflößte … Daran war dieſe Prinzeſſin ſchuld — wie ich die haßte! Was war das? … Eiferſucht? Jetzt blitzte mir das Verſtändnis deſſen auf, was mich bewegte: ich war in Tilling verliebt — — — — „Verliebt, liebt, liebt“ raſſelten die Räder auf dem Pflaſter, „Du liebſt ihn,“ leuchteten mir die vorüberfliegenden Straßenlaternen zu — „Du liebſt ihn,“ duftete es mir aus dem Handſchuh, den ich an meine Lippen führte — an der Stelle, die er geküßt. 16. Zweites Buch. Friedenszeit. // 6. Abſchnitt