Der Faſching war zu Ende. Roſa und Lilli, meine Schweſtern, hatten ſich „ungeheuer amüſiert“. Jede verzeichnete ein halb Dutzend Eroberungen; dennoch befand ſich keine wünſchenswerte Partie darunter und der „Rechte“ war für keine erſchienen. Deſto beſſer: ſie wollten gern noch ein paar Mädchenjahre genießen, ehe ſie ins Ehejoch traten.
Und ich? In den roten Heften ſtehen meine Faſchingseindrücke folgendermaßen notiert:
„Ich bin froh, daß die Tanzerei vorüber iſt. Es fing ſchon an, eintönig zu werden. Immer dieſelben Touren und immer dieſelben Geſpräche und immer ein und derſelbe Tänzer: — denn ob es nun der Huſarenlieutenant X, oder der Dragonerlieutenant Y, oder der Ulanenrittmeiſter Z iſt — es ſind doch die gleichen Verbeugungen, die gleichen Bemerkungen, die gleichen Seufzer und Blicke. Nicht ein intereſſanter Menſch darunter, nicht einer. Und der einzige, der allenfalls … reden wir nichts von dem, der gehört ja ſeiner Prinzeſſin. Sie iſt eine hübſche Frau, ja — zugeſtanden, aber ich finde ſie ſehr unſympathiſch.“
Obgleich der Faſching mit ſeinen großen Ballfeſten zu Ende war, ſo hatten die geſelligen Vergnügungen darum nicht aufgehört. Soiréen, Diners, Konzerte: der Wirbel dauerte fort. Auch eine große Liebhabertheatervorſtellung ward in Ausſicht genommen — dies jedoch erſt nach Oſtern. Für die Faſtenzeit war doch eine Mäßigung in Vergnügen geboten — nach Tante Maries Anſicht mäßigten wir uns lange nicht genug. Daß ich die Faſtenpredigten nicht regelmäßig beſuchte, konnte ſie mir nicht recht verzeihen, und ſie entſchädigte ſich für meine Lauheit, indem ſie Roſa und Lilli zu allen berühmten Kanzelrednern ſchleppte. Die Mädchen ließen ſich das gern gefallen; einmal trafen ſie in den Kirchen mit ihrer ganzen gewohnten Koterie zuſammen — Pater Klinkowſtröm war ebenſoſehr Mode bei den Jeſuiten, als die Murska in der Oper, und in zweiter Linie waren ſie ja auch leidlich fromm.
Aber nicht nur den Predigten, auch den Soiréen hielt ich mich während jener Faſtenzeit ziemlich fern. Ich hatte plötzlich an geſelligen Zuſammenkünften den Geſchmack verloren und liebte es, manchmal allein zu Hauſe zu bleiben — mit meinem Sohn zu ſpielen, und wenn der Kleine zu Bett gebracht war, mich mit einem guten Buch an das Kaminfeuer zu ſetzen und zu leſen. Zuweilen beſuchte mich dann mein Vater und verplauderte ein bis zwei Stunden bei mir. Natürlich kamen die Feldzugserinnerungen dabei unabläſſig zum Vorſchein. Ich hatte ihm Tillings Bericht über Arnos Ende mitgeteilt; er nahm die Geſchichte jedoch ziemlich kühl auf. Ob einer mit Schmerzen oder ohne Schmerzen geendet, ſchien ihm eine ganz nebenſächliche Frage. „Geblieben“ ſein — wie der Tod auf dem Schlachtfelde heißt — war ſeiner Anſchauung nach eine ſo rühmliche — durch ein ſo erhabenes Fatum herbeigeführte Sache, daß die Details der dabei allenfalls ausgeſtandenen körperlichen Leiden garnicht in Betracht kamen. In ſeinem Munde klang das „Geblieben“ ſtets wie die neidende Konſtatierung einer beſonderen Auszeichnung, und die dem „Bleiben“ nächſtfolgende Annehmlichkeit war nach ſeiner Auffaſſung offenbar das „Bleſſiert“-werden. Die Art und Weiſe, wie er von ſich mit Stolz und von den anderen mit Reſpekt erzählte, daß ſie bei dieſem oder jenem — nach irgend einer Ortſchaft benannten — Gefecht verwundet worden, ließ einen ganz vergeſſen, daß das Ding eigentlich weh thun könne. Welch ein Unterſchied mit der kurzen Erzählung Tillings: in der Schilderung der zehn Unglücklichen, welche, von dem platzenden Geſchoß zerſchmettert, in lauten Jammer ausbrachen — was lag da für ein anderer Ton erſchütternden Mitleids darin! Ich habe Tillings Worte meinem Vater nicht wiederholt, denn ich empfand inſtinktiv, daß ihm dieſelben unſoldatenmäßig erſchienen wären und ſeine Achtung vor dem Sprecher beeinträchtigt hätten, und das hätte mich verdroſſen; denn gerade der vielleicht unſoldatiſche, aber ſicherlich menſchliche Abſcheu, mit welchem er das ſchreckliche Ende ſeiner Kampfgenoſſen geſchaut und erzählt, war mir ins Herz gedrungen.
Wie gern hätte ich mit Tilling über dieſes Thema noch weiter geſprochen — aber er ſchien meine Bekanntſchaft nicht pflegen zu wollen. Seit ſeinem Beſuche waren vierzehn Tage vergangen und weder hatte er den Beſuch wiederholt, noch war ich ihm in der Geſellſchaft begegnet. Nur zwei- oder dreimal auf der Ringſtraße und einmal im Burgtheater war ich ſeiner anſichtig geworden: er grüßte ehrerbietig, ich dankte freundlich — weiter nichts. Weiter nichts? … Warum klopfte mir bei dieſen Gelegenheiten das Herz, warum konnte ich dann ſtundenlang die Gebärde ſeines Grußes nicht aus dem Sinn bringen? …
„Liebes Kind, ich habe eine Bitte an Dich.“ Mit dieſen Worten trat eines Vormittags mein Vater bei mir ein. Er hielt ein papierumwickeltes Paket in der Hand, „hier bringe ich Dir etwas mit,“ fügte er hinzu, das Ding auf einen Tiſch legend.
„Eine Bitte und ein Geſchenk zugleich?“ lachte ich. „Das iſt ja Beſtechung.“
„So höre mein Anliegen, ehe Du mein Geſchenk auspackſt und von deſſen Pracht geblendet wirſt. Ich habe heute ein langweiliges Diner —“
„Ja, ich weiß; drei alte Generäle mit ihren Frauen.“
„Und zwei Miniſter mit den ihrigen; kurz, eine feierliche, ſteife, einſchläfernde Geſchichte —“
„Da muteſt Du mir doch nicht zu, daß ich —“
„Ja, ich mute es Dir zu, denn — da mich Damen mit ihrer Gegenwart beehren wollen — muß ich doch eine Dame zum Honneurs machen haben.“
„Dieſes Amt hat ja Tante Marie übernommen?“
„Die iſt heute wieder von ihrem gewiſſen Kopfſchmerz befallen; es bleibt mir alſo nichts anderes übrig —“
„Als Deine Tochter hinzuopfern — wie dies ſchon andere Väter im Altertum — z. B. Agamemnon mit Iphigenia — gethan? Ich füge mich.“
„Übrigens ſind unter den Gäſten auch ein paar jüngere Elemente: Doktor Breſſer, der mich in meiner letzten Krankheit ſo ausgezeichnet behandelt hat und dem ich die Artigkeit einer Einladung erweiſen wollte; ferner Oberſtlieutenant Tilling — Du wirſt ja ganz feuerrot — was iſt Dir?“
„Ich? … Es iſt die Neugier: jetzt muß ich doch ſchauen, was Du mir gebracht haſt.“ Und ich begann, das Paket aus ſeiner Papierhülle zu löſen.
„Es iſt nichts für Dich — erwarte nicht etwa ein Perlenhalsband. Das gehört dem Rudi.“
„Ja, ich ſehe, eine Spielereiſchachtel — ah, Bleiſoldaten! Aber Vater, das vierjährige Kind ſoll doch nicht —“
„Ich habe ſchon mit drei Jahren Soldaten geſpielt — man kann nicht früh genug damit anfangen … Meine allererſten Eindrücke waren Trommeln, Säbel — exerzieren, kommandieren: auf die Art erwacht die Liebe zum Metier, auf die Art —“
„Mein Sohn Rudolf wird nicht unter die Soldaten gehen,“ unterbrach ich.
„Martha! Ich weiß doch, daß ſeines Vaters Wunſch —“
„Der arme Arno iſt nicht mehr. Rudolf iſt mein alleiniges Eigentum und ich will nicht —“
„Daß er den ſchönſten und ehrenvollſten Beruf einſchlage?“
„Das Leben meines einzigen Kindes ſoll nicht im Kriege auf das Spiel geſetzt werden.“
„Ich war auch ein einziger Sohn und bin Soldat geworden. Arno hat keine Geſchwiſter, ſo viel ich weiß, und Dein Bruder Otto iſt gleichfalls einziger Sohn und ich habe ihn doch in die Militärakademie gegeben. Die Tradition unſerer Familie fordert es, daß der Sproſſe eines Dotzky und einer Althaus ſeine Dienſte dem Vaterlande weihe.“
„Das Vaterland wird ihn weniger brauchen als ich.“
„Wenn alle Mütter ſo dächten!“
„Dann gäbe es keine Paraden und Revuen — und keine Männerwälle zum Niederſchießen — kein ‚Kanonenfutter‘, wie der bezeichnende Ausdruck heißt. Das wäre auch kein Unglück.“
Mein Vater machte ein ſehr böſes Geſicht. Dann aber zuckte er die Achſeln:
„Ach, ihr Weiber,“ ſagte er verächtlich. „Zum Glück wird der Junge nicht um Deine Erlaubnis fragen; das Soldatenblut fließt ihm in den Adern — Na, und Dein einziger Sohn wird er ja nicht bleiben. Du mußt wieder heiraten, Martha. In Deinem Alter iſt’s nicht gut, allein ſein. Erzähl’ mir: giebt es keinen unter Deinen Bewerbern, der vor Deinen Augen Gnade findet? Da iſt zum Beiſpiel der Rittmeiſter Olensky, der ſterblich in Dich verliebt iſt — er hat mir neulich wieder vorgeſeufzt. Der gefiele mir recht gut als Schwiegerſohn.“
„Mir aber nicht als Gatte.“
„Da wäre noch der Major Millersdorf —“
„Und wenn Du mir den ganzen Militärſchematismus herſagſt — es iſt vergebens. Um wie viel Uhr findet Dein Diner ſtatt — wann ſoll ich kommen?“ fragte ich, um abzubrechen.
„Um fünf. Aber komm’ um eine halbe Stunde früher. Und jetzt adieu — ich muß fort. Grüß mir den Rudi — zukünftigen Oberbefehlshaber der k. k. Armee.“
Eine feierliche, ſteife, einſchläfernde Geſchichte — ſo hatte mein Vater ſein bevorſtehendes Diner genannt und ſo würde ich die Ceremonie auch aufgefaßt haben, wäre nicht der eine Gaſt geweſen, deſſen Nähe mich eigentümlich bewegte …
Baron Tilling war knapp vor dem Speiſen gekommen; ich hatte daher, als er mich im Salon begrüßte, nur zu einem ganz kurzen Wortaustauſch Zeit gefunden, und bei Tiſch, wo ich zwiſchen zwei eisgrauen Generälen ſaß, war der Baron ſo weit von mir entfernt, daß ich ihn unmöglich in die an unſerem Tiſchende geführte Unterhaltung ziehen konnte. Ich freute mich auf die Rückkehr in den Salon; dort wollte ich Tilling an meine Seite rufen und ihn noch weiter ausforſchen über jene Schlachtzene; ich ſehnte mich darnach, noch einmal jenen Ton zu hören, der mich das erſte Mal ſo ſympathiſch berührt hatte.
Doch zur Ausführung dieſes Vorhabens bot ſich mir anfänglich keine Gelegenheit; die beiden Eisgrauen blieben mir auch nach Tiſche treu und nahmen an meiner Seite Platz, als ich im Salon mich anſchickte, den ſchwarzen Kaffee einzugießen. Dazu geſellten ſich noch, im Halbkreis, mein Vater, der Miniſter ***, Doktor Breſſer — und auch Tilling, aber die ſich entſpinnende Unterhaltung war eine allgemeine. Die übrigen Gäſte, darunter ſämtliche Damen, ließen ſich in einer anderen Ecke des Salons nieder, wo nicht geraucht wurde; während in unſerer Ecke — auch ich hatte mir eine Cigarette angezündet — das Rauchen geſtattet war.
„Ob es denn nicht bald wieder losgehen wird?“ warf einer der Generäle hin.
„Hm,“ meinte der andere, „den nächſten Krieg werden wir mit Rußland haben, denk’ ich.“
„Muß es denn immer einen nächſten Krieg geben?“ warf ich dazwiſchen, aber niemand achtete darauf.
„Eher mit Italien,“ verſicherte mein Vater. „Wir müſſen doch unſere Lombardei zurückbekommen … So einen Einmarſch in Mailand, wie im Jahre 49 mit Vater Radetzky an der Spitze — das wollte ich doch noch erleben. Es war an einem ſonnigen Vormittag —“
„Ach, die Geſchichte vom Einmarſch in Mailand kennen wir alle,“ unterbrach ich.
„Auch die vom braven Hupfauf?“
„Ich ſchon — und ich finde dieſelbe ſogar höchſt widerwärtig.“
„Was verſtehſt Du davon?“
„Laſſen Sie hören, Althaus — wir kennen die Geſchichte nicht.“
Das ließ ſich der Vater nicht zweimal ſagen.
„Der Hupfauf alſo — vom Regiment Tiroler Jäger — ſelber ein Tiroler, hat ein famoſes Stück’l aufgeführt. Er war der beſte Schütz’, den man ſich denken kann; bei allen Scheibenſchießen war er immer König — er traf faſt jedesmal ins Ziel. Was hat der Mann gethan, als die Mailänder revoltierten? Er erbat ſich die Erlaubnis, mit vier Kameraden auf das Dach des Domes zu ſteigen und von dort auf die Rebellen herab zu ſchießen. Man hat’s ihm erlaubt und er hat’s auch ausgeführt. Die vier anderen, von welchen jeder einen Stutzen trug, thaten weiter nichts, als ohne Unterlaß ihre Waffen laden und ſie dem Hupfauf reichen, damit dieſer keine Zeit verliere. Und ſo hat er hintereinander neunzig Italiener totgeſchoſſen.“
„Abſcheulich!“ rief ich. „Jeder dieſer totgeſchoſſenen Italiener, auf die der oben aus ſicherer Höhe zielte, hatte eine Mutter und eine Geliebte zu Haus und hing wohl ſelber an ſeinem Leben.“
„Jeder war ein Feind, Kind; das ändert den ganzen Standpunkt.“
„Sehr richtig,“ ſagte Doktor Breſſer; „ſo lange der Begriff Feindſchaft unter den Menſchen ſanktioniert wird, ſo lange können die Gebote der Menſchlichkeit keine allgemeine Geltung erlangen.“
„Was ſagen Sie, Baron Tilling?“ fragte ich.
„Ich hätte dem Manne einen Orden gewünſcht, der ihm die tapfere Bruſt geſchmückt — und eine Kugel, die ihm das harte Herz durchſchoſſen hätte. Beides wäre verdient geweſen.“
Ich warf dem Sprecher einen warmen, dankbaren Blick zu; die anderen aber, mit Ausnahme des Doktors, ſchienen von den eben gehörten Worten unangenehm berührt. Es entſtand eine kleine Pauſe. Cela avait jeté un froid.
„Haben Sie ſchon von dem Buche eines engliſchen Naturforſchers Namens Darwin gehört, Exzellenz?“ wandte ſich jetzt der Doktor an meinen Vater.
„Nein, nichts.“
„Doch, Papa … erinnere Dich nur: ſchon vor vier Jahren, als es eben erſchienen war, hat uns unſer Buchhändler das Buch geſchickt und Du ſagteſt noch damals, es werde bald von aller Welt vergeſſen ſein.“
„Was mich betrifft, ſo habe ich’s auch vergeſſen.“
„Alle Welt hingegen wird dadurch ziemlich in Aufregung verſetzt,“ ſagte der Doktor. „Es wird aller Orten für und gegen die neue Abſtammungslehre geſtritten.“
„Ach, Sie meinen wohl die Affentheorie?“ fragte der General zu meiner Rechten. „Davon war geſtern im Kaſino die Rede. Die Herren Gelehrten kommen oft auf ſonderbare Einfälle — der Menſch ſoll urſprünglich ein Orang-Utang geweſen ſein!“
„Allerdings,“ nickte der Miniſter — (wenn Miniſter*** „allerdings“ ſagte, ſo war das ein Zeichen, daß er ſich zu einer längeren Rede den Anlauf nahm), „die Sache klingt etwas komiſch; doch kann dieſelbe nicht als Scherz aufgefaßt werden. Es iſt eine nicht ohne Talent und mit dem Apparat fleißig geſammelter Thatſachen aufgeſtellte wiſſenſchaftliche Theorie, welche allerdings von den Männern vom Fach ſchon genügend widerlegt worden, welche aber, wie alle abenteuerlichen Ideen — ſo abgeſchmackt dieſelben auch ſeien — einen gewiſſen Effekt hervorgebracht hat und ihre Verteidiger findet. Über Darwin zu disputieren, iſt Mode geworden. Es wird nicht lange dauern, ſo kann man das Wort „Darwinismus“ erfinden — allerdings wird dann die ſo benannte Theorie ſelber ſchon aufgehört haben, ernſt genommen zu werden. Es iſt ein Fehler, daß die Leute in Bekämpfung dieſes engliſchen Sonderlings ſich ſo erhitzen; dadurch wird ſeiner Lehre eine Wichtigkeit beigelegt, die ihr nicht zukommt. Namentlich iſt es die Geiſtlichkeit, welche ſich gegen die allerdings herabwürdigende Zumutung zur Wehr ſetzt, daß der nach dem Ebenbilde Gottes geſchaffene Menſch jetzt plötzlich als dem Tierreich entſtammend gedacht werden ſoll, eine vom religiöſen Standpunkte aus allerdings höchſt anſtößige Annahme. Jedoch iſt bekanntermaßen die kirchliche Verdammung einer unter dem Gewand der Wiſſenſchaftlichkeit auftretenden Lehre, nicht im ſtande der Verbreitung derſelben Einhalt zu thun. Dieſelbe wird erſt dann unſchädlich, wenn ſie von den Vertretern der Wiſſenſchaft ad absurdum geführt worden iſt, was gegenüber der Darwiniſchen allerdings —“
„Aber der Unſinn!“ unterbrach mein Vater, welcher fürchten mochte, daß noch eine lange Kette von „allerdings“ ſeine übrigen Gäſte ermüden konnte, der Unſinn: vom Affen der Menſch! Da genügt doch wohl der ſogenannte geſunde Menſchenverſtand, um ſolche tolle Einfälle abzuweiſen — da braucht man doch nicht erſt gelehrte Widerlegungen“ …
„Nun, für gar ſo apodiktiſch ſicher möchte ich dieſe Widerlegungen doch nicht halten,“ nahm nun der Doktor das Wort. „Es haben ſich zwar Zweifel erhoben, aber die Theorie hat doch manches Wahrſcheinliche für ſich und es wird noch eine Zeit brauchen, bis die Gelehrten einig werden.“
„Ich glaub’ die Herren werden nie einig,“ bemerkte der General zu meiner Linken, welcher in barſchem Ton und in Wiener Dialekt zu ſprechen pflegte, „die leben ja vom Disputieren. Ich hab’ von der Affeng’ſchicht auch ſchon was g’hört. War mir aber zu dumm, um aufzupaſſen. Wenn man ſich immer um alles Geſchwätz kümmern ſollt’, mit dem uns die Sterngucker und Graspflücker und Froſchhaxl-Unterſucher ein X für ein U vormachen wollen — da müßt einem ja Hören und Sehen vergehen. Übrigens habe ich neulich in einer illuſtrierten Zeitung dem Darwin ſein G’ſicht g’ſehen und das is ſelber ſo affenmäßig, daß ich faſt glauben möcht, ſein Großvater is ä Schimpans g’weſen.“
Dieſem letzten, den Sprecher ſehr befriedigenden Witz ließ derſelbe ein ſchallendes Gelächter folgen, in welches mein Vater aus hausherrlicher Zuvorkommenheit einſtimmte.
„Gelächter iſt allerdings auch eine Waffe,“ ſprach der Miniſter ernſt, — „beweiſt aber nichts. Dem Darwinismus — ich benütze ſchon das neue Wort — kann man doch auch ernſthafte, auf wiſſenſchaftlicher Baſis ruhende Argumente ſiegreich entgegenſtellen. Wenn man gegen einen Schriftſteller ohne Autorität, Namen wie Linné, Cuvier, Agaſſiz, Quatrefages anführen kann, ſo muß deſſen Syſtem zuſammenſtürzen. Anderſeits läßt ſich allerdings nicht leugnen, daß zwiſchen Menſch und Affe eine große Stammesähnlichkeit beſteht und daß —“
„Trotz dieſer Ähnlichkeit iſt die Kluft doch eine meilenweite,“ unterbrach der ſanfte General. „Läßt ſich ein Affe denken, der den Telegraphen erfinden könnte? Die Sprache allein erhebt den Menſchen ſo weit über das Tier —“
„Entſchuldigen Sie, Exzellenz,“ ſagte Doktor Breſſer, „Sprache und techniſche Erfindungen waren dem Menſchen nicht urſprünglich angeboren — ein Wilder wird auch heute noch keinen Telegraphenapparat konſtruieren; das alles ſind Früchte langſamer Vervollkommnung und Entwickelung —“
„Ja ja, lieber Doktor,“ verſetzte der General, „ich weiß: Entwickelung iſt das Schlagwort der neuen Theorie — aber aus einem Känguruh entwickelt ſich kein Kameel … und warum ſieht man heutzutage keinen Affen Menſch werden?“
Jetzt wandte ich mich an Baron Tilling:
„Und was ſagen Sie? Haben Sie von Darwin gehört und zählen Sie ſich zu ſeinen Anhängern oder — Gegnern?“
„Gehört habe ich über dieſen Gegenſtand ſchon vieles, Gräfin; aber ich kann kein Urteil abgeben, denn das in Frage ſtehende Werk: „The origin of species“ habe ich nicht geleſen.“
„Ich muß geſtehen,“ ſagte der Doktor, „ich auch nicht.“
„Geleſen habe ich es allerdings auch nicht,“ geſtand der Miniſter.
„Ich auch nicht“ — „ich auch nicht“ — „ich auch nicht“ — kam es nun von den Anderen.
„Aber,“ fuhr der Miniſter fort, „das Thema wird ſo vielfach beſprochen, die Schlagwörter des Syſtems ſind in aller Mund; „Kampf ums Daſein“ — natürliche Zuchtwahl“ — „Evolution“ und ſo weiter, daß man ſich doch einen klaren Begriff vom Ganzen machen kann und ſich reſolut auf die Seite der Anhänger oder der Gegner ſtellen, zu welch’ erſter Kategorie allerdings nur umſturzliebende und effekthaſchende Heißſporne gehören, während die kaltblütigen, nach poſitiven Beweiſen verlangenden, ſtreng kritiſchen Leute unmöglich einen anderen, als den von ſo bedeutenden Fachgelehrten geteilten Standpunkt der Gegnerſchaft einnehmen können; ein Standpunkt, der allerdings —“
„Nicht mit Sicherheit zu behaupten iſt, wenn man denjenigen der Anhängerſchaft nicht kennt,“ ergänzte Tilling. „Um zu wiſſen, was die Gegenargumente wert ſind, welche man, ſo oft eine neue Idee auftaucht, um ſich herum im Chor vorbringen hört, muß man in dieſe neue Idee auch ſelber eingedrungen ſein. Gewöhnlich ſind es die ſchlechteſten und ſeichteſten Gründe, die mit ſolcher Einſtimmigkeit von den Maſſen wiederholt werden — und auf dieſe hin fällt mir nicht ein, ein Urteil zu ſtützen. Als die Lehre des Kopernikus auftauchte, konnten nur diejenigen, die ſich der Mühe unterzogen, die kopernikaniſchen Berechnungen nachzurechnen, einſehen, daß dieſelben richtig waren; die anderen, die ihr Urteil nach den Bannflüchen richteten, welche von Rom aus gegen das neue Syſtem geſchleudert wurden —“
„In unſerem Jahrhundert werden, wie ich ſchon früher bemerkte,“ unterbrach der Miniſter, „wiſſenſchaftliche Hypotheſen, wenn ſie irrig ſind, nicht mehr vom Standpunkte der Orthodoxie, ſondern von demjenigen der Wiſſenſchaft abgefertigt.“
„Nicht nur wenn ſie irrig ſind,“ verſetzte Tilling, „auch wenn ſie ſich ſpäter bewahrheiten ſollen, werden neue Hypotheſen anfänglich immer von einer Zopfpartei unter den Gelehrten beſtritten. Dieſe läßt auch heute nicht gern an ihren althergebrachten Anſchauungen und Dogmen rütteln; gerade ſo wie damals nicht nur die Kirchenväter, ſondern ebenſo die Aſtronomen gegen Kopernikus geeifert.“
„Wollen’s damit behaupten,“ fiel der barſche General ein, „daß dem verrückten Engländer ſeine Affenidee ſo richtig iſt, wie daß die Erd’ um die Sonn’ herumlauft?“
„Ich will garnichts behaupten, weil ich, wie geſagt, das Buch nicht kenne. Doch nehme ich mir vor, dasſelbe zu leſen; vielleicht — aber auch nur vielleicht, denn meine einſchlagenden Kenntniſſe ſind nur gering — werde ich mir dann ein Urteil bilden können. Bis dahin muß ich mich darauf beſchränken, meine Meinung auf den Umſtand zu ſtützen, daß die Theorie auf verbreiteten und leidenſchaftlichen Widerſpruch ſtößt, ein Umſtand, welcher mir allerdings eher für als gegen deren Richtigkeit zeugt.“
„Du tapferer, gerader, heller Geiſt,“ apoſtrophierte ich in Gedanken den Sprecher.