Bertha von Suttner: Die Waffen nieder! // Eine Lebensgeſchichte 10. Erſtes Buch. 1859. // 10. Abſchnitt „Jetzt iſt alles aus, Martha! Solferino hat entſchieden: wir ſind geſchlagen.“ Mit dieſen Worten kam mein Vater eines Morgens auf das Gartenplätzchen geeilt, wo ich unter den Schatten einer Lindengruppe ſaß. Ich war mit meinem kleinen Rudolf in mein Mädchenheim zurückgekehrt. Acht Tage nach dem großen Schlage, der mich getroffen, überſiedelte meine Familie nach Grumitz, unſerm Landſitz in Niederöſterreich, und ich mit ihr. Allein hätte ich ja verzweifeln müſſen. Jetzt waren ſie wieder alle um mich, wie vor meiner Verheiratung: mein Vater, Tante Marie, mein kleiner Bruder und meine zwei aufblühenden Schweſtern. Sie alle thaten, was ſie nur konnten, meinen Kummer zu lindern und behandelten mich mit einer Art Hochachtung, die mir wohlthat. In meinem traurigen Schickſal lag für ſie offenbar eine gewiſſe Weihe, etwas, was mich über meine Umgebung erhob — ſelbſt eine Gattung Verdienſt. Neben dem Blute, das die Soldaten auf dem Altar des Vaterlandes vergießen, bilden ja die am ſelben Altar vergoſſenen Thränen der beraubten Soldatenmütter, Frauen und Bräute die nächſte heilige Libation. So war es auch ein leiſes Stolzgefühl — ein Bewußtſein, daß es ſozuſagen eine militäriſche Würde vorſtellt, einen geliebten Mann auf dem Felde der Ehre verloren zu haben, welches mir meinen Schmerz am beſten tragen half. Und ich war ja nicht die einzige. Wie Viele, Viele im ganzen Land trauerten jetzt um ihre in italieniſcher Erde ruhenden Lieben … Nähere Einzelheiten über Arnos Ende ſind mir damals nicht bekannt geworden; man hat ihn tot aufgefunden, agnosziert, begraben, das war alles, was ich wußte. Sein letzter Gedanke war gewiß zu mir und zu unſerem kleinen Liebling geflogen, und ſein Troſt im letzten Augenblick muß das Bewußtſein geweſen ſein: Ich habe meine Pflicht — mehr als meine Pflicht gethan. „Wir ſind geſchlagen,“ wiederholte mein Vater, düſter, indem er ſich neben mich auf die Gartenbank ſetzte. „Alſo wurden die Geopferten umſonſt geopfert,“ ſeufzte ich. „Die Geopferten ſind zu beneiden, weil ſie von der Schmach nichts wiſſen, die uns getroffen hat. Aber wir werden uns ſchon noch aufraffen, wenn auch jetzt — wie es heißt — Friede geſchloſſen werden ſoll —“ „Ah, Gott geb’s!“ unterbrach ich. „Für mich Arme freilich zu ſpät … aber ſo werden doch tauſend andere verſchont.“ „Du denkſt immer nur an Dich und an die einzelnen Menſchen. Aber in dieſer Frage handelt es ſich um Öſterreich.“ „Und beſteht dieſes nicht aus lauter einzelnen Menſchen?“ „Mein Kind, ein Reich, ein Staat lebt ein längeres und wichtigeres Leben, als die Individuen. Dieſe ſchwinden, Generation um Generation, und das Reich entfaltet ſich weiter; wächſt zu Ruhm, Größe und Macht, oder ſinkt und ſchrumpft zuſammen und verſchwindet, wenn es ſich von anderen Reichen beſiegen läßt. Darum iſt das Wichtigſte und Höchſte, was jeder Einzelne erſtreben muß und wofür er jederzeit gern ſterben ſoll, die Exiſtenz, die Größe, die Wohlfahrt des Reiches.“ Dieſe Worte prägte ich mir ein, um ſie am ſelben Tag in den roten Heften zu notieren. Sie ſchienen mir ſo kräftig und bündig dasjenige auszudrücken, was ich in meiner Lernzeit aus den Geſchichtsbüchern herausgefühlt hatte, und was mir in der letzten Zeit — ſeit Arnos Abmarſch — durch Angſt und Mitleid aus dem Bewußtſein verdrängt worden war. Daran wollte ich mich wieder ſo feſt wie möglich klammern, um in der Idee Troſt und Erhebung zu finden, daß mein Liebſter um einer großen Sache willen gefallen, daß mein Unglück ſelber ein Beſtandteil dieſer großen Sache war. Tante Marie hatte wieder andere Troſtgründe zur Hand. „Weine nicht, liebes Kind,“ pflegte ſie zu ſagen, wenn ſie mich in Trauer verſunken fand. „Sei nicht ſo ſelbſtſüchtig, denjenigen zu beklagen, dem es jetzt ſo wohl geht. Er iſt unter den Seligen und ſieht ſegnend auf Dich herab. Noch ein paar ſchnell verfloſſene Erdenjahre und Du findeſt ihn wieder in ſeiner vollen Glorie. Für die, welche auf dem Schlachtfeld bleiben, bereitet den Himmel ſeine ſchönſten Wohnungen … Glücklich ſolche, die in dem Augenblicke abberufen werden, wo ſie eine heilige Pflicht erfüllen. Dem ſterbenden Märtyrer ſteht der ſterbende Soldat an Verdienſt am nächſten.“ „Ich ſoll mich alſo freuen, daß Arno —“ „Freuen: nein — das wäre zu viel verlangt. Aber Dein Schickſal mit demütiger Ergebung tragen. Es iſt eine Prüfung, die Dir der Himmel ſchickt und aus der Du geläutert und im Glauben geſtärkt hervorgehen wirſt.“ „Alſo damit {ich} geprüft und geläutert werde, mußte Arno —“ „Nicht deshalb — doch wer kann, wer darf die verſchlungenen Wege der Vorſehung ergründen wollen? Ich ſicher nicht.“ Obwohl mir gegen Tante Mariens Tröſtungen immer derlei Einwendungen entſchlüpften, ſo gab ich mich im Grund der Seele doch gern der myſtiſchen Auffaſſung hin, daß mein Verklärter jetzt im Himmel den Lohn ſeines Opfertodes genießt, und daß ſein Andenken unter den Menſchen mit der unvergänglichen Glorie der Heldenhaftigkeit geſchmückt iſt. Wie erhebend — wenngleich ſchmerzlich — hatte die große Trauerceremonie auf mich gewirkt, welcher ich, am Tage vor unſrer Abreiſe, im Stefansdom beigewohnt. Es war ein [De profundis] für unſere auf fremder Erde gefallenen und dort begrabenen Krieger. In der Mitte der Kirche war ein hoher Katafalk aufgeſtellt, von hunderten brennender Wachslichter umgeben und mit militäriſchen Emblemen — Fahnen, Waffen — geſchmückt. Vom Chor herab klang das rührend geſungene Requiem, und die Anweſenden — meiſt ſchwarzgekleidete Frauen — weinten faſt alle laut. Und jede weinte nicht nur um den Einen, den ſie verloren, ſondern um alle Anderen, die denſelben Tod gefunden: ſie hatten ja alle zuſammen, die armen, tapferen Waffenbrüder, für uns Alle, das heißt für ihr Land, für die Ehre der Nation ihr junges Leben hingegeben. Und die lebenden Soldaten, die dieſer Feier beiwohnten, — ſämtliche in Wien zurückgebliebenen Generäle und Offiziere waren da, und mehrere Compagnien Mannſchaft führten den Hintergrund — dieſe alle waren gewärtig und bereit, ihren gefallenen Kameraden zu folgen ohne Zaudern, ohne Murren, ohne Furcht … Ja, mit den Weihrauchwolken, mit dem Geläute und den Orgeltönen, mit den in einem gemeinſamen Schmerz vergoſſenen Thränen ſtieg da ſicherlich ein wohlgefälliges Opfer zum Himmel auf und der Herr der Heerſchaaren mußte ſeinen Segen träufeln auf jene, denen dieſer Katafalk errichtet war … So dachte ich damals. Wenigſtens ſind dies die Worte, mit welchen die roten Hefte die Trauerfeier beſchreiben. Ungefähr vierzehn Tage ſpäter als die Nachricht von der Niederlage bei Solferino, kam die Nachricht von der Unterzeichnung der Friedenspräliminarien in Villafranca. Mein Vater gab ſich alle mögliche Mühe, mir zu erklären, daß es aus politiſchen Gründen zwingend notwendig war, dieſen Frieden zu ſchließen; worauf ich verſicherte, daß es mir auf jeden Fall erfreulich ſchien, wenn das böſe Kämpfen und Sterben ein Ende fand; aber der gute Papa ließ es ſich nicht nehmen, mir entſchuldigende Auseinanderſetzungen zu unterbreiten: „Du mußt nicht glauben, daß wir Angſt haben … Wenn es auch den Anſchein hat, als machten wir Konzeſſionen, wir vergeben unſerer Würde nichts und wiſſen ſchon, was wir thun. Wenn es ſich um uns allein handelte, ſo hätten wir wegen dieſes kleinen Schachs in Solferino die Partie nicht aufgegeben. O nein, noch lange nicht. Wir brauchten nur noch ein Armeekorps hinunter zu ſchicken, und der Feind müßte Mailand ſchnell wieder räumen … Aber weißt Du, Martha, es handelt ſich um andere allgemeine Intereſſen und Prinzipien. Wir verzichten jetzt darauf, uns weiter zu ſchlagen, um die anderen bedrohten italieniſchen Fürſtentümer zu bewahren, welche der ſardiniſche Räuberhauptmann ſamt ſeinem franzöſiſchen Henkersbeiſtand auch gern überfallen wollte. Gegen Modena, Toskana — wo, wie Du weißt, mit unſerem Kaiſerhaus verwandte Dynaſtien regieren — ja ſogar gegen Rom, gegen den Papſt wollen ſie ziehen — die Vandalen. Wenn wir nun vorläufig die Lombardei hergeben, ſo erhalten wir uns damit Venetien und können den ſüditalieniſchen Staaten und dem heiligen Stuhl unſere Stütze gewähren. Du ſiehſt alſo ein, daß wir aus rein politiſchen Gründen und im Intereſſe des europäiſchen Gleichgewichts —“ „Ja, Vater,“ unterbrach ich, „ich ſehe es ein. Ach hätten dieſe Gründe doch ſchon vor Magenta gewaltet!“ fügte ich bitter ſeufzend hinzu. Dann, um abzulenken, zeigte ich auf ein Bücherpaket, das heute aus Wien eingetroffen war. „Schau’ her: der Buchhändler ſchickt uns verſchiedene Sachen zur Anſicht. Darunter ein eben erſchienenes Werk eines engliſchen Naturforſchers, eines gewiſſen Darwin: „[The Origin of Species]“ — und er macht uns aufmerkſam, daß dies beſonders intereſſant ſei und geeignet, epochemachend zu wirken.“ „Er ſoll mich auslaſſen, der gute Mann. Wer ſoll ſich in einer ſo wichtigen Zeit, wie die gegenwärtige, für derlei Lappalien intereſſieren? Was kann denn in einem Buch über Tier- und Pflanzenarten Epochemachendes für uns Menſchen enthalten ſein? Ja, die Konföderation der italieniſchen Staaten, die Hegemonie Öſterreichs im deutſchen Bunde: das ſind weittragende Dinge; die werden noch lange in der Geſchichte beſtehen, wenn von dieſem engliſchen Buch da kein Menſch mehr etwas wiſſen wird. Merk’ Dir das.“ Ich habe es mir gemerkt. 11. Zweites Buch. Friedenszeit. // 1. Abſchnitt