Franz Kafka: Die Verwandlung 2. Abſchnitt Erſt in der Abenddämmerung erwachte Gregor aus ſeinem ſchweren ohnmachtsähnlichen Schlaf. Er wäre gewiß nicht viel ſpäter auch ohne Störung erwacht, denn er fühlte ſich genügend ausgeruht und ausgeſchlafen, doch ſchien es ihm, als hätte ihn ein flüchtiger Schritt und ein vorſichtiges Schließen der zum Vorzimmer führenden Tür geweckt. Der Schein der elektriſchen Straßenlampen lag bleich hier und da auf der Zimmerdecke und auf den höheren Teilen der Möbel, aber unten bei Gregor war es finſter. Langſam ſchob er ſich, noch ungeſchickt mit ſeinen Fühlern taſtend, die er erſt jetzt ſchätzen lernte, zur Türe hin, um nachzuſehen, was dort geſchehen war. Seine linke Seite ſchien eine einzige lange, unangenehm ſpannende Narbe und er mußte auf ſeinen zwei Beinreihen regelrecht hinken. Ein Beinchen war übrigens im Laufe der vormittägigen Vorfälle ſchwer verletzt worden — es war faſt ein Wunder, daß nur eines verletzt worden war — und ſchleppte leblos nach. Erſt bei der Tür merkte er, was ihn dorthin eigentlich gelockt hatte; es war der Geruch von etwas Eßbarem geweſen. Denn dort ſtand ein Napf mit ſüßer Milch gefüllt, in der kleine Schnitten von Weißbrot ſchwammen. Faſt hätte er vor Freude gelacht, denn er hatte noch größeren Hunger, als am Morgen, und gleich tauchte er ſeinen Kopf faſt bis über die Augen in die Milch hinein. Aber bald zog er ihn enttäuſcht wieder zurück; nicht nur, daß ihm das Eſſen wegen ſeiner heiklen linken Seite Schwierigkeiten machte — und er konnte nur eſſen, wenn der ganze Körper ſchnaufend mitarbeitete — , ſo ſchmeckte ihm überdies die Milch, die ſonſt ſein Lieblingsgetränk war, und die ihm gewiß die Schweſter deshalb hereingeſtellt hatte, gar nicht, ja er wandte ſich faſt mit Widerwillen von dem Napf ab und kroch in die Zimmermitte zurück. Im Wohnzimmer war, wie Gregor durch die Türſpalte ſah, das Gas angezündet, aber während ſonſt zu dieſer Tageszeit der Vater ſeine nachmittags erſcheinende Zeitung der Mutter und manchmal auch der Schweſter mit erhobener Stimme vorzuleſen pflegte, hörte man jetzt keinen Laut. Nun vielleicht war dieſes Vorleſen, von dem ihm die Schweſter immer erzählte und ſchrieb, in der letzten Zeit überhaupt aus der Übung gekommen. Aber auch ringsherum war es ſo ſtill, trotzdem doch gewiß die Wohnung nicht leer war. »Was für ein ſtilles Leben die Familie doch führte,« ſagte ſich Gregor und fühlte, während er ſtarr vor ſich ins Dunkle ſah, einen großen Stolz darüber, daß er ſeinen Eltern und ſeiner Schweſter ein ſolches Leben in einer ſo ſchönen Wohnung hatte verſchaffen können. Wie aber, wenn jetzt alle Ruhe, aller Wohlſtand, alle Zufriedenheit ein Ende mit Schrecken nehmen ſollte? Um ſich nicht in ſolche Gedanken zu verlieren, ſetzte ſich Gregor lieber in Bewegung und kroch im Zimmer auf und ab. Einmal während des langen Abends wurde die eine Seitentüre und einmal die andere bis zu einer kleinen Spalte geöffnet und raſch wieder geſchloſſen; jemand hatte wohl das Bedürfnis hereinzukommen, aber auch wieder zuviele Bedenken. Gregor machte nun unmittelbar bei der Wohnzimmertür halt, entſchloſſen, den zögernden Beſucher doch irgendwie hereinzubringen oder doch wenigſtens zu erfahren, wer es ſei; aber nun wurde die Tür nicht mehr geöffnet und Gregor wartete vergebens. Früh, als die Türen verſperrt waren, hatten alle zu ihm hereinkommen wollen, jetzt, da er die eine Tür geöffnet hatte und die anderen offenbar während des Tages geöffnet worden waren, kam keiner mehr, und die Schlüſſel ſteckten nun auch von außen. Spät erſt in der Nacht wurde das Licht im Wohnzimmer ausgelöſcht, und nun war leicht feſtzuſtellen, daß die Eltern und die Schweſter ſo lange wachgeblieben waren, denn wie man genau hören konnte, entfernten ſich jetzt alle drei auf den Fußſpitzen. Nun kam gewiß bis zum Morgen niemand mehr zu Gregor herein; er hatte alſo eine lange Zeit, um ungeſtört zu überlegen, wie er ſein Leben jetzt neu ordnen ſollte. Aber das hohe freie Zimmer, in dem er gezwungen war, flach auf dem Boden zu liegen, ängſtigte ihn, ohne daß er die Urſache herausfinden konnte, denn es war ja ſein ſeit fünf Jahren von ihm bewohntes Zimmer — und mit einer halb unbewußten Wendung und nicht ohne eine leichte Scham eilte er unter das Kanapee, wo er ſich, trotzdem ſein Rücken ein wenig gedrückt wurde und trotzdem er den Kopf nicht mehr erheben konnte, gleich ſehr behaglich fühlte und nur bedauerte, daß ſein Körper zu breit war, um vollſtändig unter dem Kanapee untergebracht zu werden. Dort blieb er die ganze Nacht, die er zum Teil im Halbſchlaf, aus dem ihn der Hunger immer wieder aufſchreckte, verbrachte, zum Teil aber in Sorgen und undeutlichen Hoffnungen, die aber alle zu dem Schluſſe führten, daß er ſich vorläufig ruhig verhalten und durch Geduld und größte Rückſichtnahme der Familie die Unannehmlichkeiten erträglich machen müſſe, die er ihr in ſeinem gegenwärtigen Zuſtand nun einmal zu verurſachen gezwungen war. Schon am frühen Morgen, es war faſt noch Nacht, hatte Gregor Gelegenheit, die Kraft ſeiner eben gefaßten Entſchlüſſe zu prüfen, denn vom Vorzimmer her öffnete die Schweſter, faſt völlig angezogen, die Tür und ſah mit Spannung herein. Sie fand ihn nicht gleich, aber als ſie ihn unter dem Kanapee bemerkte — Gott, er mußte doch irgendwo ſein, er hatte doch nicht wegfliegen können — erſchrak ſie ſo ſehr, daß ſie, ohne ſich beherrſchen zu können, die Tür von außen wieder zuſchlug. Aber als bereue ſie ihr Benehmen, öffnete ſie die Tür ſofort wieder und trat, als ſei ſie bei einem Schwerkranken oder gar bei einem Fremden, auf den Fußſpitzen herein. Gregor hatte den Kopf bis knapp zum Rande des Kanapees vorgeſchoben und beobachtete ſie. Ob ſie wohl bemerken würde, daß er die Milch ſtehen gelaſſen hatte, und zwar keineswegs aus Mangel an Hunger, und ob ſie eine andere Speiſe hereinbringen würde, die ihm beſſer entſprach? Täte ſie es nicht von ſelbſt, er wollte lieber verhungern, als ſie darauf aufmerkſam machen, trotzdem es ihn eigentlich ungeheuer drängte, unterm Kanapee vorzuſchießen, ſich der Schweſter zu Füßen zu werfen und ſie um irgendetwas Gutes zum Eſſen zu bitten. Aber die Schweſter bemerkte ſofort mit Verwunderung den noch vollen Napf, aus dem nur ein wenig Milch ringsherum verſchüttet war, ſie hob ihn gleich auf, zwar nicht mit den bloßen Händen, ſondern mit einem Fetzen, und trug ihn hinaus. Gregor war äußerſt neugierig, was ſie zum Erſatz bringen würde, und er machte ſich die verſchiedenſten Gedanken darüber. Niemals aber hätte er erraten können, was die Schweſter in ihrer Güte wirklich tat. Sie brachte ihm, um ſeinen Geſchmack zu prüfen, eine ganze Auswahl, alles auf einer alten Zeitung ausgebreitet. Da war altes halbverfaultes Gemüſe; Knochen vom Nachtmahl her, die von feſtgewordener weißer Sauce umgeben waren; ein paar Roſinen und Mandeln; ein Käſe, den Gregor vor zwei Tagen für ungenießbar erklärt hatte; ein trockenes Brot, ein mit Butter beſchmiertes und geſalzenes Brot. Außerdem ſtellte ſie zu dem allen noch den wahrſcheinlich ein für allemal für Gregor beſtimmten Napf, in den ſie Waſſer gegoſſen hatte. Und aus Zartgefühl, da ſie wußte, daß Gregor vor ihr nicht eſſen würde, entfernte ſich eiligſt und drehte ſogar den Schlüſſel um, damit nur Gregor merken könne, daß er es ſo behaglich machen dürfe, wie er wolle. Gregors Beinchen ſchwirrten, als es jetzt zum Eſſen ging. Seine Wunden mußten übrigens auch ſchon vollſtändig geheilt ſein, er fühlte keine Behinderung mehr, er ſtaunte darüber und dachte daran, wie er vor mehr als einem Monat ſich mit dem Meſſer ganz wenig in den Finger geſchnitten, und wie ihm dieſe Wunde noch vorgeſtern genug weh getan hatte. »Sollte ich jetzt weniger Feingefühl haben?« dachte er und ſaugte ſchon gierig an dem Käſe, zu dem es ihn vor allen anderen Speiſen ſofort und nachdrücklich gezogen hatte. Raſch hintereinander und mit vor Befriedigung tränenden Augen verzehrte er den Käſe, das Gemüſe und die Sauce; die friſchen Speiſen dagegen ſchmeckten ihm nicht, er konnte nicht einmal ihren Geruch vertragen und ſchleppte ſogar die Sachen, die er eſſen wollte, ein Stückchen weiter weg. Er war ſchon längſt mit allem fertig und lag nun faul auf der gleichen Stelle, als die Schweſter zum Zeichen, daß er ſich zurückziehen ſolle, langſam den Schlüſſel umdrehte. Das ſchreckte ihn ſofort auf, trotzdem er ſchon faſt ſchlummerte, und er eilte wieder unter das Kanapee. Aber es koſtete ihn große Selbſtüberwindung, auch nur die kurze Zeit, während welcher die Schweſter im Zimmer war, unter dem Kanapee zu bleiben, denn von dem reichlichen Eſſen hatte ſich ſein Leib ein wenig gerundet und er konnte dort in der Enge kaum atmen. Unter kleinen Erſtickungsanfällen ſah er mit etwas hervorgequollenen Augen zu, wie die nichtsahnende Schweſter mit einem Beſen nicht nur die Überbleibſel zuſammenkehrte, ſondern ſelbſt die von Gregor gar nicht berührten Speiſen, als ſeien alſo auch dieſe nicht mehr zu gebrauchen, und wie ſie alles haſtig in einen Kübel ſchüttete, den ſie mit einem Holzdeckel ſchloß, worauf ſie alles hinaustrug. Kaum hatte ſie ſich umgedreht, zog ſich ſchon Gregor unter dem Kanapee hervor und ſtreckte und blähte ſich. Auf dieſe Weiſe bekam nun Gregor täglich ſein Eſſen, einmal am Morgen, wenn die Eltern und das Dienſtmädchen noch ſchliefen, das zweitemal nach dem allgemeinen Mittageſſen, denn dann ſchliefen die Eltern gleichfalls noch ein Weilchen, und das Dienſtmädchen wurde von der Schweſter mit irgendeiner Beſorgung weggeſchickt. Gewiß wollten auch ſie nicht, daß Gregor verhungere, aber vielleicht hätten ſie es nicht ertragen können, von ſeinem Eſſen mehr als durch Hörenſagen zu erfahren, vielleicht wollte die Schweſter ihnen auch eine möglicherweiſe nur kleine Trauer erſparen, denn tatſächlich litten ſie ja gerade genug. Mit welchen Ausreden man an jenem erſten Vormittag den Arzt und den Schloſſer wieder aus der Wohnung geſchafft hatte, konnte Gregor gar nicht erfahren, denn da er nicht verſtanden wurde, dachte niemand daran, auch die Schweſter nicht, daß er die anderen verſtehen könne, und ſo mußte er ſich, wenn die Schweſter in ſeinem Zimmer war, damit begnügen, nur hier und da ihre Seufzer und Anrufe der Heiligen zu hören. Erſt ſpäter, als ſie ſich ein wenig an alles gewöhnt hatte — von vollſtändiger Gewöhnung konnte natürlich niemals die Rede ſein — , erhaſchte Gregor manchmal eine Bemerkung, die freundlich gemeint war oder ſo gedeutet werden konnte. »Heute hat es ihm aber geſchmeckt,« ſagte ſie, wenn Gregor unter dem Eſſen tüchtig aufgeräumt hatte, während ſie im gegenteiligen Fall, der ſich allmählich immer häufiger wiederholte, faſt traurig zu ſagen pflegte: »Nun iſt wieder alles ſtehengeblieben.« Während aber Gregor unmittelbar keine Neuigkeit erfahren konnte, erhorchte er manches aus den Nebenzimmern, und wo er nur einmal Stimmen hörte, lief er gleich zu der betreffenden Tür und drückte ſich mit ganzem Leib an ſie. Beſonders in der erſten Zeit gab es kein Geſpräch, das nicht irgendwie, wenn auch nur im geheimen, von ihm handelte. Zwei Tage lang waren bei allen Mahlzeiten Beratungen darüber zu hören, wie man ſich jetzt verhalten ſolle; aber auch zwiſchen den Mahlzeiten ſprach man über das gleiche Thema, denn immer waren zumindeſt zwei Familienmitglieder zu Hauſe, da wohl niemand allein zu Hauſe bleiben wollte und man die Wohnung doch auf keinen Fall gänzlich verlaſſen konnte. Auch hatte das Dienſtmädchen gleich am erſten Tag — es war nicht ganz klar, was und wieviel ſie von dem Vorgefallenen wußte — kniefällig die Mutter gebeten, ſie ſofort zu entlaſſen, und als ſie ſich eine Viertelſtunde danach verabſchiedete, dankte ſie für die Entlaſſung unter Tränen, wie für die größte Wohltat, die man ihr hier erwieſen hatte, und gab, ohne daß man es von ihr verlangte, einen fürchterlichen Schwur ab, niemandem auch nur das Geringſte zu verraten. Nun mußte die Schweſter im Verein mit der Mutter auch kochen; allerdings machte das nicht viel Mühe, denn man aß faſt nichts. Immer wieder hörte Gregor, wie der eine den anderen vergebens zum Eſſen aufforderte und keine andere Antwort bekam, als: »Danke, ich habe genug« oder etwas Ähnliches. Getrunken wurde vielleicht auch nichts. Öfters fragte die Schweſter den Vater, ob er Bier haben wolle, und herzlich erbot ſie ſich, es ſelbſt zu holen, und als der Vater ſchwieg, ſagte ſie, um ihm jedes Bedenken zu nehmen, ſie könne auch die Hausmeiſterin darum ſchicken, aber dann ſagte der Vater ſchließlich ein großes »Nein«, und es wurde nicht mehr davon geſprochen. Schon im Laufe des erſten Tages legte der Vater die ganzen Vermögensverhältniſſe und Ausſichten ſowohl der Mutter, als auch der Schweſter dar. Hier und da ſtand er vom Tiſche auf und holte aus ſeiner kleinen Wertheimkaſſa, die er aus dem vor fünf Jahren erfolgten Zuſammenbruch ſeines Geſchäftes gerettet hatte, irgendeinen Beleg oder irgendein Vormerkbuch. Man hörte, wie er das komplizierte Schloß aufſperrte und nach Entnahme des Geſuchten wieder verſchloß. Dieſe Erklärungen des Vaters waren zum Teil das erſte Erfreuliche, was Gregor ſeit ſeiner Gefangenſchaft zu hören bekam. Er war der Meinung geweſen, daß dem Vater von jenem Geſchäft her nicht das Geringſte übriggeblieben war, zumindeſt hatte ihm der Vater nichts Gegenteiliges geſagt, und Gregor allerdings hatte ihn auch nicht darum gefragt. Gregors Sorge war damals nur geweſen, alles daranzuſetzen, um die Familie das geſchäftliche Unglück, das alle in eine vollſtändige Hoffnungsloſigkeit gebracht hatte, möglichſt raſch vergeſſen zu laſſen. Und ſo hatte er damals mit ganz beſonderem Feuer zu arbeiten angefangen und war faſt über Nacht aus einem kleinen Kommis ein Reiſender geworden, der natürlich ganz andere Möglichkeiten des Geldverdienens hatte, und deſſen Arbeitserfolge ſich ſofort in Form der Proviſion zu Bargeld verwandelten, das der erſtaunten und beglückten Familie zu Hauſe auf den Tiſch gelegt werden konnte. Es waren ſchöne Zeiten geweſen, und niemals nachher hatten ſie ſich, wenigſtens in dieſem Glanze, wiederholt, trotzdem Gregor ſpäter ſo viel Geld verdiente, daß er den Aufwand der ganzen Familie zu tragen imſtande war und auch trug. Man hatte ſich eben daran gewöhnt, ſowohl die Familie, als auch Gregor, man nahm das Geld dankbar an, er lieferte es gern ab, aber eine beſondere Wärme wollte ſich nicht mehr ergeben. Nur die Schweſter war Gregor doch noch nahe geblieben, und es war ſein geheimer Plan, ſie, die zum Unterſchied von Gregor Muſik ſehr liebte und rührend Violine zu ſpielen verſtand, nächſtes Jahr, ohne Rückſicht auf die großen Koſten, die das verurſachen mußte, und die man ſchon auf andere Weiſe hereinbringen würde, auf das Konſervatorium zu ſchicken. Öfters während der kurzen Aufenthalte Gregors in der Stadt wurde in den Geſprächen mit der Schweſter das Konſervatorium erwähnt, aber immer nur als ſchöner Traum, an deſſen Verwirklichung nicht zu denken war, und die Eltern hörten nicht einmal dieſe unſchuldigen Erwähnungen gern; aber Gregor dachte ſehr beſtimmt daran und beabſichtigte, es am Weihnachtsabend feierlich zu erklären. Solche in ſeinem gegenwärtigen Zuſtand ganz nutzloſe Gedanken gingen ihm durch den Kopf, während er dort aufrecht an der Türe klebte und horchte. Manchmal konnte er vor allgemeiner Müdigkeit gar nicht mehr zuhören und ließ den Kopf nachläſſig gegen die Tür ſchlagen, hielt ihn aber ſofort wieder feſt, denn ſelbſt das kleine Geräuſch, das er damit verurſacht hatte, war nebenan gehört worden und hatte alle verſtummen laſſen. »Was er nur wieder treibt,« ſagte der Vater nach einer Weile, offenbar zur Türe hingewendet, und dann erſt wurde das unterbrochene Geſpräch allmählich wieder aufgenommen. Gregor erfuhr nun zur Genüge — denn der Vater pflegte ſich in ſeinen Erklärungen öfters zu wiederholen, teils, weil er ſelbſt ſich mit dieſen Dingen ſchon lange nicht beſchäftigt hatte, teils auch, weil die Mutter nicht alles gleich beim erſten Mal verſtand — , daß trotz allen Unglücks ein allerdings ganz kleines Vermögen aus der alten Zeit noch vorhanden war, das die nicht angerührten Zinſen in der Zwiſchenzeit ein wenig hatten anwachſen laſſen. Außerdem aber war das Geld, das Gregor allmonatlich nach Hauſe gebracht hatte — er ſelbſt hatte nur ein paar Gulden für ſich behalten — , nicht vollſtändig aufgebraucht worden und hatte ſich zu einem kleinen Kapital angeſammelt. Gregor, hinter ſeiner Türe, nickte eifrig, erfreut über dieſe unerwartete Vorſicht und Sparſamkeit. Eigentlich hätte er ja mit dieſen überſchüſſigen Geldern die Schuld des Vaters gegenüber dem Chef weiter abgetragen haben können, und jener Tag, an dem er dieſen Poſten hätte loswerden können, wäre weit näher geweſen, aber jetzt war es zweifellos beſſer ſo, wie es der Vater eingerichtet hatte. Nun genügte dieſes Geld aber ganz und gar nicht, um die Familie etwa von den Zinſen leben zu laſſen; es genügte vielleicht, um die Familie ein, höchſtens zwei Jahre zu erhalten, mehr war es nicht. Es war alſo bloß eine Summe, die man eigentlich nicht angreifen durfte, und die für den Notfall zurückgelegt werden mußte; das Geld zum Leben aber mußte man verdienen. Nun war aber der Vater ein zwar geſunder, aber alter Mann, der ſchon fünf Jahre nichts gearbeitet hatte und ſich jedenfalls nicht viel zutrauen durfte; er hatte in dieſen fünf Jahren, welche die erſten Ferien ſeines mühevollen und doch erfolgloſen Lebens waren, viel Fett angeſetzt und war dadurch recht ſchwerfällig geworden. Und die alte Mutter ſollte nun vielleicht Geld verdienen, die an Aſthma litt, der eine Wanderung durch die Wohnung ſchon Anſtrengung verurſachte, und die jeden zweiten Tag in Atembeſchwerden auf dem Sopha beim offenen Fenſter verbrachte? Und die Schweſter ſollte Geld verdienen, die noch ein Kind war mit ihren ſiebzehn Jahren, und der ihre bisherige Lebensweiſe ſo ſehr zu gönnen war, die daraus beſtanden hatte, ſich nett zu kleiden, lange zu ſchlafen, in der Wirtſchaft mitzuhelfen, an ein paar beſcheidenen Vergnügungen ſich zu beteiligen und vor allem Violine zu ſpielen? Wenn die Rede auf dieſe Notwendigkeit des Geldverdienens kam, ließ zuerſt immer Gregor die Türe los und warf ſich auf das neben der Tür befindliche kühle Lederſofa, denn ihm war ganz heiß vor Beſchämung und Trauer. Oft lag er dort die ganzen langen Nächte über, ſchlief keinen Augenblick und ſcharrte nur ſtundenlang auf dem Leder. Oder er ſcheute nicht die große Mühe, einen Seſſel zum Fenſter zu ſchieben, dann die Fenſterbrüſtung hinaufzukriechen und, in den Seſſel geſtemmt, ſich ans Fenſter zu lehnen, offenbar nur in irgendeiner Erinnerung an das Befreiende, das früher für ihn darin gelegen war, aus dem Fenſter zu ſchauen. Denn tatſächlich ſah er von Tag zu Tag die auch nur ein wenig entfernten Dinge immer undeutlicher; das gegenüberliegende Krankenhaus, deſſen nur allzu häufigen Anblick er früher verflucht hatte, bekam er überhaupt nicht mehr zu Geſicht, und wenn er nicht genau gewußt hätte, daß er in der ſtillen, aber völlig ſtädtiſchen Charlottenſtraße wohnte, hätte er glauben können, von ſeinem Fenſter aus in eine Einöde zu ſchauen, in welcher der graue Himmel und die graue Erde ununterſcheidbar ſich vereinigten. Nur zweimal hatte die aufmerkſame Schweſter ſehen müſſen, daß der Seſſel beim Fenſter ſtand, als ſie ſchon jedesmal, nachdem ſie das Zimmer aufgeräumt hatte, den Seſſel wieder genau zum Fenſter hinſchob, ja ſogar von nun ab den inneren Fenſterflügel offen ließ. Hätte Gregor nur mit der Schweſter ſprechen und ihr für alles danken können, was ſie für ihn machen mußte, er hätte ihre Dienſte leichter ertragen; ſo aber litt er darunter. Die Schweſter ſuchte freilich die Peinlichkeit des Ganzen möglichſt zu verwiſchen, und je längere Zeit verging, deſto beſſer gelang es ihr natürlich auch, aber auch Gregor durchſchaute mit der Zeit alles viel genauer. Schon ihr Eintritt war für ihn ſchrecklich. Kaum war ſie eingetreten, lief ſie, ohne ſich Zeit zu nehmen, die Türe zu ſchließen, ſo ſehr ſie ſonſt darauf achtete, jedem den Anblick von Gregors Zimmer zu erſparen, geradewegs zum Fenſter und riß es, als erſticke ſie faſt, mit haſtigen Händen auf, blieb auch, ſelbſt wenn es noch ſo kalt war, ein Weilchen beim Fenſter und atmete tief. Mit dieſem Laufen und Lärmen erſchreckte ſie Gregor täglich zweimal; die ganze Zeit über zitterte er unter dem Kanapee und wußte doch ſehr gut, daß ſie ihn gewiß gerne damit verſchont hätte, wenn es ihr nur möglich geweſen wäre, ſich in einem Zimmer, in dem ſich Gregor befand, bei geſchloſſenem Fenſter aufzuhalten. Einmal, es war wohl ſchon ein Monat ſeit Gregors Verwandlung vergangen, und es war doch ſchon für die Schweſter kein beſonderer Grund mehr, über Gregors Ausſehen in Erſtaunen zu geraten, kam ſie ein wenig früher als ſonſt und traf Gregor noch an, wie er, unbeweglich und ſo recht zum Erſchrecken aufgeſtellt, aus dem Fenſter ſchaute. Es wäre für Gregor nicht unerwartet geweſen, wenn ſie nicht eingetreten wäre, da er ſie durch ſeine Stellung verhinderte, ſofort das Fenſter zu öffnen, aber ſie trat nicht nur nicht ein, ſie fuhr ſogar zurück und ſchloß die Tür; ein Fremder hätte geradezu denken können, Gregor habe ihr aufgelauert und habe ſie beißen wollen. Gregor verſteckte ſich natürlich ſofort unter dem Kanapee, aber er mußte bis zum Mittag warten, ehe die Schweſter wiederkam, und ſie ſchien viel unruhiger als ſonſt. Er erkannte daraus, daß ihr ſein Anblick noch immer unerträglich war und ihr auch weiterhin unerträglich bleiben müſſe, und daß ſie ſich wohl ſehr überwinden mußte, vor dem Anblick auch nur der kleinen Partie ſeines Körpers nicht davonzulaufen, mit der er unter dem Kanapee hervorragte. Um ihr auch dieſen Anblick zu erſparen, trug er eines Tages auf ſeinem Rücken — er brauchte zu dieſer Arbeit vier Stunden — das Leintuch auf das Kanapee und ordnete es in einer ſolchen Weiſe an, daß er nun gänzlich verdeckt war, und daß die Schweſter, ſelbſt wenn ſie ſich bückte, ihn nicht ſehen konnte. Wäre dieſes Leintuch ihrer Meinung nach nicht nötig geweſen, dann hätte ſie es ja entfernen können, denn daß es nicht zum Vergnügen Gregors gehören konnte, ſich ſo ganz und gar abzuſperren, war doch klar genug, aber ſie ließ das Leintuch, ſo wie es war, und Gregor glaubte ſogar einen dankbaren Blick erhaſcht zu haben, als er einmal mit dem Kopf vorſichtig das Leintuch ein wenig lüftete, um nachzuſehen, wie die Schweſter die neue Einrichtung aufnahm. In den erſten vierzehn Tagen konnten es die Eltern nicht über ſich bringen, zu ihm hereinzukommen, und er hörte oft, wie ſie die jetzige Arbeit der Schweſter völlig erkannten, während ſie ſich bisher häufig über die Schweſter geärgert hatten, weil ſie ihnen als ein etwas nutzloſes Mädchen erſchienen war. Nun aber warteten oft beide, der Vater und die Mutter, vor Gregors Zimmer, während die Schweſter dort aufräumte, und kaum war ſie herausgekommen, mußte ſie ganz genau erzählen, wie es in dem Zimmer ausſah, was Gregor gegeſſen hatte, wie er ſich diesmal benommen hatte, und ob vielleicht eine kleine Beſſerung zu bemerken war. Die Mutter übrigens wollte verhältnismäßig bald Gregor beſuchen, aber der Vater und die Schweſter hielten ſie zuerſt mit Vernunftgründen zurück, denen Gregor ſehr aufmerkſam zuhörte, und die er vollſtändig billigte. Später aber mußte man ſie mit Gewalt zurückhalten, und wenn ſie dann rief: »Laßt mich doch zu Gregor, er iſt ja mein unglücklicher Sohn! Begreift ihr es denn nicht, daß ich zu ihm muß?« dann dachte Gregor, daß es vielleicht doch gut wäre, wenn die Mutter hereinkäme, nicht jeden Tag natürlich, aber vielleicht einmal in der Woche; ſie verſtand doch alles viel beſſer als die Schweſter, die trotz all ihrem Mute doch nur ein Kind war und im letzten Grunde vielleicht nur aus kindlichem Leichtſinn eine ſo ſchwere Aufgabe übernommen hatte. Der Wunſch Gregors, die Mutter zu ſehen, ging bald in Erfüllung. Während des Tages wollte Gregor ſchon aus Rückſicht auf ſeine Eltern ſich nicht beim Fenſter zeigen, kriechen konnte er aber auf den paar Quadratmetern des Fußbodens auch nicht viel, das ruhige Liegen ertrug er ſchon während der Nacht ſchwer, das Eſſen machte ihm bald nicht mehr das geringſte Vergnügen, und ſo nahm er zur Zerſtreuung die Gewohnheit an, kreuz und quer über Wände und Plafond zu kriechen. Beſonders oben auf der Decke hing er gern; es war ganz anders, als das Liegen auf dem Fußboden; man atmete freier; ein leichtes Schwingen ging durch den Körper; und in der faſt glücklichen Zerſtreutheit, in der ſich Gregor dort oben befand, konnte es geſchehen, daß er zu ſeiner eigenen Überraſchung ſich losließ und auf den Boden klatſchte. Aber nun hatte er natürlich ſeinen Körper ganz anders in der Gewalt als früher und beſchädigte ſich ſelbſt bei einem ſo großen Falle nicht. Die Schweſter nun bemerkte ſofort die neue Unterhaltung, die Gregor für ſich gefunden hatte — er hinterließ ja auch beim Kriechen hie und da Spuren ſeines Klebſtoffes — , und da ſetzte ſie es ſich in den Kopf, Gregor das Kriechen in größtem Ausmaße zu ermöglichen und die Möbel, die es verhinderten, alſo vor allem den Kaſten und den Schreibtiſch, wegzuſchaffen. Nun war ſie aber nicht imſtande, dies allein zu tun; den Vater wagte ſie nicht um Hilfe zu bitten; das Dienſtmädchen hätte ihr ganz gewiß nicht geholfen, denn dieſes etwa ſechzehnjährige Mädchen harrte zwar tapfer ſeit Entlaſſung der früheren Köchin aus, hatte aber um die Vergünſtigung gebeten, die Küche unaufhörlich verſperrt halten zu dürfen und nur auf beſonderen Anruf öffnen zu müſſen; ſo blieb der Schweſter alſo nichts übrig, als einmal in Abweſenheit des Vaters die Mutter zu holen. Mit Ausrufen erregter Freude kam die Mutter auch heran, verſtummte aber an der Tür vor Gregors Zimmer. Zuerſt ſah natürlich die Schweſter nach, ob alles im Zimmer in Ordnung war; dann erſt ließ ſie die Mutter eintreten. Gregor hatte in größter Eile das Leintuch noch tiefer und mehr in Falten gezogen, das Ganze ſah wirklich nur wie ein zufällig über das Kanapee geworfenes Leintuch aus. Gregor unterließ auch diesmal, unter dem Leintuch zu ſpionieren; er verzichtete darauf, die Mutter ſchon diesmal zu ſehen, und war nur froh, daß ſie nun doch gekommen war. »Komm nur, man ſieht ihn nicht,« ſagte die Schweſter, und offenbar führte ſie die Mutter an der Hand. Gregor hörte nun, wie die zwei ſchwachen Frauen den immerhin ſchweren alten Kaſten von ſeinem Platze rückten, und wie die Schweſter immerfort den größten Teil der Arbeit für ſich beanſpruchte, ohne auf die Warnungen der Mutter zu hören, welche fürchtete, daß ſie ſich überanſtrengen werde. Es dauerte ſehr lange. Wohl nach ſchon viertelſtündiger Arbeit ſagte die Mutter, man ſolle den Kaſten doch lieber hier laſſen, denn erſtens ſei er zu ſchwer, ſie würden vor Ankunft des Vaters nicht fertig werden und mit dem Kaſten in der Mitte des Zimmers Gregor jeden Weg verrammeln, zweitens aber ſei es doch gar nicht ſicher, daß Gregor mit der Entfernung der Möbel ein Gefallen geſchehe. Ihr ſcheine das Gegenteil der Fall zu ſein; ihr bedrücke der Anblick der leeren Wand geradezu das Herz; und warum ſolle nicht auch Gregor dieſe Empfindung haben, da er doch an die Zimmermöbel längſt gewöhnt ſei und ſich deshalb im leeren Zimmer verlaſſen fühlen werde. »Und iſt es dann nicht ſo,« ſchloß die Mutter ganz leiſe, wie ſie überhaupt faſt flüſterte, als wolle ſie vermeiden, daß Gregor, deſſen genauen Aufenthalt ſie ja nicht kannte, auch nur den Klang der Stimme höre, denn daß er die Worte nicht verſtand, davon war ſie überzeugt, »und iſt es nicht ſo, als ob wir durch die Entfernung der Möbel zeigten, daß wir jede Hoffnung auf Beſſerung aufgeben und ihn rückſichtslos ſich ſelbſt überlaſſen? Ich glaube, es wäre das beſte, wir ſuchen das Zimmer genau in dem Zuſtand zu erhalten, in dem es früher war, damit Gregor, wenn er wieder zu uns zurückkommt, alles unverändert findet und umſo leichter die Zwiſchenzeit vergeſſen kann.« Beim Anhören dieſer Worte der Mutter erkannte Gregor, daß der Mangel jeder unmittelbaren menſchlichen Anſprache, verbunden mit dem einförmigen Leben inmitten der Familie, im Laufe dieſer zwei Monate ſeinen Verſtand hatte verwirren müſſen, denn anders konnte er es ſich nicht erklären, daß er ernſthaft danach hatte verlangen könne, daß ſein Zimmer ausgeleert würde. Hatte er wirklich Luſt, das warme, mit ererbten Möbeln gemütlich ausgeſtattete Zimmer in eine Höhle verwandeln zu laſſen, in der er dann freilich nach allen Richtungen ungeſtört würde kriechen können, jedoch auch unter gleichzeitigem ſchnellen, gänzlichen Vergeſſen ſeiner menſchlichen Vergangenheit? War er doch jetzt ſchon nahe daran, zu vergeſſen, und nur die ſeit langem nicht gehörte Stimme der Mutter hatte ihn aufgerüttelt. Nichts ſollte entfernt werden; alles mußte bleiben; die guten Einwirkungen der Möbel auf ſeinen Zuſtand konnte er nicht entbehren; und wenn die Möbel ihn hinderten, das ſinnloſe Herumkriechen zu betreiben, ſo war es kein Schaden, ſondern ein großer Vorteil. Aber die Schweſter war leider anderer Meinung; ſie hatte ſich, allerdings nicht ganz unberechtigt, angewöhnt, bei Beſprechung der Angelegenheiten Gregors als beſonders Sachverſtändige gegenüber den Eltern aufzutreten, und ſo war auch jetzt der Rat der Mutter für die Schweſter Grund genug, auf der Entfernung nicht nur des Kaſtens und des Schreibtiſches, an die ſie zuerſt allein gedacht hatte, ſondern auf der Entfernung ſämtlicher Möbel, mit Ausnahme des unentbehrlichen Kanapees, zu beſtehen. Es war natürlich nicht nur kindlicher Trotz und das in der letzten Zeit ſo unerwartet und ſchwer erworbene Selbſtvertrauen, das ſie zu dieſer Forderung beſtimmte; ſie hatte doch auch tatſächlich beobachtet, daß Gregor viel Raum zum Kriechen brauchte, dagegen die Möbel, ſoweit man ſehen konnte, nicht im geringſten benützte. Vielleicht aber ſpielte auch der ſchwärmeriſche Sinn der Mädchen ihres Alters mit, der bei jeder Gelegenheit ſeine Befriedigung ſucht, und durch den Grete jetzt ſich dazu verlocken ließ, die Lage Gregors noch ſchreckenerregender machen zu wollen, um dann noch mehr als bis jetzt für ihn leiſten zu können. Denn in einen Raum, in dem Gregor ganz allein die leeren Wände beherrſchte, würde wohl kein Menſch außer Grete jemals einzutreten ſich getrauen. Und ſo ließ ſie ſich von ihrem Entſchluſſe durch die Mutter nicht abbringen, die auch in dieſem Zimmer vor lauter Unruhe unſicher ſchien, bald verſtummte und der Schweſter nach Kräften beim Hinausſchaffen des Kaſtens half. Nun, den Kaſten konnte Gregor im Notfall noch entbehren, aber ſchon der Schreibtiſch mußte bleiben. Und kaum hatten die Frauen mit dem Kaſten, an den ſie ſich ächzend drückten, das Zimmer verlaſſen, als Gregor den Kopf unter dem Kanapee hervorſtieß, um zu ſehen, wie er vorſichtig und möglichſt rückſichtsvoll eingreifen könnte. Aber zum Unglück war es gerade die Mutter, welche zuerſt zurückkehrte, während Grete im Nebenzimmer den Kaſten umfangen hielt und ihn allein hin und her ſchwang, ohne ihn natürlich von der Stelle zu bringen. Die Mutter aber war Gregors Anblick nicht gewöhnt, er hätte ſie krank machen können, und ſo eilte Gregor erſchrocken im Rückwärtslauf bis an das andere Ende des Kanapees, konnte es aber nicht mehr verhindern, daß das Leintuch vorne ein wenig ſich bewegte. Das genügte, um die Mutter aufmerkſam zu machen. Sie ſtockte, ſtand einen Augenblick ſtill und ging dann zu Grete zurück. Trotzdem ſich Gregor immer wieder ſagte, daß ja nichts Außergewöhnliches geſchehe, ſondern nur ein paar Möbel umgeſtellt würden, wirkte doch, wie er ſich bald eingeſtehen mußte, dieſes Hin— und Hergehen der Frauen, ihre kleinen Zurufe, das Kratzen der Möbel auf dem Boden, wie ein großer, von allen Seiten genährter Trubel auf ihn, und er mußte ſich, ſo feſt er Kopf und Beine an ſich zog und den Leib bis an den Boden drückte, unweigerlich ſagen, daß er das Ganze nicht lange aushalten werde. Sie räumten ihm ſein Zimmer aus; nahmen ihm alles, was ihm lieb war; den Kaſten, in dem die Laubſäge und andere Werkzeuge lagen, hatten ſie ſchon hinausgetragen; lockerten jetzt den ſchon im Boden feſt eingegrabenen Schreibtiſch, an dem er als Handelsakademiker, als Bürgerſchüler, ja ſogar ſchon als Volksſchüler ſeine Aufgaben geſchrieben hatte, — da hatte er wirklich keine Zeit mehr, die guten Abſichten zu prüfen, welche die zwei Frauen hatten, deren Exiſtenz er übrigens faſt vergeſſen hatte, denn vor Erſchöpfung arbeiteten ſie ſchon ſtumm, und man hörte nur das ſchwere Tappen ihrer Füße. Und ſo brach er denn hervor — die Frauen ſtützten ſich gerade im Nebenzimmer an den Schreibtiſch, um ein wenig zu verſchnaufen — , wechſelte viermal die Richtung des Laufes, er wußte wirklich nicht, was er zuerſt retten ſollte, da ſah er an der im übrigen ſchon leeren Wand auffallend das Bild der in lauter Pelzwerk gekleideten Dame hängen, kroch eilends hinauf und preßte ſich an das Glas, das ihn feſthielt und ſeinem heißen Bauch wohltat. Dieſes Bild wenigſtens, das Gregor jetzt ganz verdeckte, würde nun gewiß niemand wegnehmen. Er verdrehte den Kopf nach der Tür des Wohnzimmers, um die Frauen bei ihrer Rückkehr zu beobachten. Sie hatten ſich nicht viel Ruhe gegönnt und kamen ſchon wieder; Grete hatte den Arm um die Mutter gelegt und trug ſie faſt. »Alſo was nehmen wir jetzt?«, ſagte Grete und ſah ſich um. Da kreuzten ſich ihre Blicke mit denen Gregors an der Wand. Wohl nur infolge der Gegenwart der Mutter behielt ſie ihre Faſſung, beugte ihr Geſicht zur Mutter, um dieſe vom Herumſchauen abzuhalten, und ſagte, allerdings zitternd und unüberlegt: »Komm, wollen wir nicht lieber auf einen Augenblick noch ins Wohnzimmer zurückgehen?« Die Abſicht Gretes war für Gregor klar, ſie wollte die Mutter in Sicherheit bringen und dann ihn von der Wand hinunterjagen. Nun, ſie konnte es ja immerhin verſuchen! Er ſaß auf ſeinem Bild und gab es nicht her. Lieber würde er Grete ins Geſicht ſpringen. Aber Gretes Worte hatten die Mutter erſt recht beunruhigt, ſie trat zur Seite, erblickte den rieſigen braunen Fleck auf der geblümten Tapete, rief, ehe ihr eigentlich zum Bewußtſein kam, daß das Gregor war, was ſie ſah, mit ſchreiender, rauher Stimme: »Ach Gott, ach Gott!« und fiel mit ausgebreiteten Armen, als gebe ſie alles auf, über das Kanapee hin und rührte ſich nicht. »Du, Gregor!« rief die Schweſter mit erhobener Fauſt und eindringlichen Blicken. Es waren ſeit der Verwandlung die erſten Worte, die ſie unmittelbar an ihn gerichtet hatte. Sie lief ins Nebenzimmer, um irgendeine Eſſenz zu holen, mit der ſie die Mutter aus ihrer Ohnmacht wecken könnte; Gregor wollte auch helfen — zur Rettung des Bildes war noch Zeit — , er klebte aber feſt an dem Glas und mußte ſich mit Gewalt losreißen; er lief dann auch ins Nebenzimmer, als könne er der Schweſter irgendeinen Rat geben, wie in früherer Zeit; mußte dann aber untätig hinter ihr ſtehen; während ſie in verſchiedenen Fläſchchen kramte, erſchreckte ſie noch, als ſie ſich umdrehte; eine Flaſche fiel auf den Boden und zerbrach; ein Splitter verletzte Gregor im Geſicht, irgendeine ätzende Medizin umfloß ihn; Grete nahm nun, ohne ſich länger aufzuhalten, ſoviel Fläſchchen, als ſie nur halten konnte, und rannte mit ihnen zur Mutter hinein; die Tür ſchlug ſie mit dem Fuße zu. Gregor war nun von der Mutter abgeſchloſſen, die durch ſeine Schuld vielleicht dem Tode nahe war; die Tür durfte er nicht öffnen, wollte er die Schweſter, die bei der Mutter bleiben mußte, nicht verjagen; er hatte jetzt nichts zu tun, als zu warten; und von Selbſtvorwürfen und Beſorgnis bedrängt, begann er zu kriechen, überkroch alles, Wände, Möbel und Zimmerdecke und fiel endlich in ſeiner Verzweiflung, als ſich das ganze Zimmer ſchon um ihn zu drehen anfing, mitten auf den großen Tiſch. Es verging eine kleine Weile, Gregor lag matt da, ringsherum war es ſtill, vielleicht war das ein gutes Zeichen. Da läutete es. Das Mädchen war natürlich in ihrer Küche eingeſperrt und Grete mußte daher öffnen gehen. Der Vater war gekommen. »Was iſt geſchehen?« waren ſeine erſten Worte; Gretes Ausſehen hatte ihm wohl alles verraten. Grete antwortete mit dumpfer Stimme, offenbar drückte ſie ihr Geſicht an des Vaters Bruſt: »Die Mutter war ohnmächtig, aber es geht ihr ſchon beſſer. Gregor iſt ausgebrochen.« »Ich habe es ja erwartet«, ſagte der Vater, »ich habe es euch ja immer geſagt, aber ihr Frauen wollt nicht hören.« Gregor war es klar, daß der Vater Gretes allzu kurze Mitteilung ſchlecht gedeutet hatte und annahm, daß Gregor ſich irgendeine Gewalttat habe zuſchulden kommen laſſen. Deshalb mußte Gregor den Vater jetzt zu beſänftigen ſuchen, denn ihn aufzuklären hatte er weder Zeit noch Möglichkeit. Und ſo flüchtete er ſich zur Tür ſeines Zimmers und drückte ſich an ſie, damit der Vater beim Eintritt vom Vorzimmer her gleich ſehen könne, daß Gregor die beſte Abſicht habe, ſofort in ſein Zimmer zurückzukehren, und daß es nicht nötig ſei, ihn zurückzutreiben, ſondern daß man nur die Tür zu öffnen brauche, und gleich werde er verſchwinden. Aber der Vater war nicht in der Stimmung, ſolche Feinheiten zu bemerken; »Ah!« rief er gleich beim Eintritt in einem Tone, als ſei er gleichzeitig wütend und froh. Gregor zog den Kopf von der Tür zurück und hob ihn gegen den Vater. So hatte er ſich den Vater wirklich nicht vorgeſtellt, wie er jetzt daſtand; allerdings hatte er in der letzten Zeit über dem neuartigen Herumkriechen verſäumt, ſich ſo wie früher um die Vorgänge in der übrigen Wohnung zu kümmern, und hätte eigentlich darauf gefaßt ſein müſſen, veränderte Verhältniſſe anzutreffen. Trotzdem, trotzdem, war das noch der Vater? Der gleiche Mann, der müde im Bett vergraben lag, wenn früher Gregor zu einer Geſchäftsreiſe ausgerückt war; der ihn an Abenden der Heimkehr im Schlafrock im Lehnſtuhl empfangen hatte; gar nicht recht imſtande war, aufzuſtehen, ſondern zum Zeichen der Freude nur die Arme gehoben hatte, und der bei den ſeltenen gemeinſamen Spaziergängen an ein paar Sonntagen im Jahr und an den höchſten Feiertagen zwiſchen Gregor und der Mutter, die ſchon an und für ſich langſam gingen, immer noch ein wenig langſamer, in ſeinen alten Mantel eingepackt, mit ſtets vorſichtig aufgeſetztem Krückſtock ſich vorwärts arbeitete und, wenn er etwas ſagen wollte, faſt immer ſtillſtand und ſeine Begleitung um ſich verſammelte? Nun aber war er recht gut aufgerichtet; in eine ſtraffe blaue Uniform mit Goldknöpfen gekleidet, wie ſie Diener der Bankinſtitute tragen; über dem hohen ſteifen Kragen des Rockes entwickelte ſich ſein ſtarkes Doppelkinn; unter den buſchigen Augenbrauen drang der Blick der ſchwarzen Augen friſch und aufmerkſam hervor; das ſonſt zerzauſte weiße Haar war zu einer peinlich genauen, leuchtenden Scheitelfriſur niedergekämmt. Er warf ſeine Mütze, auf der ein Goldmonogramm, wahrſcheinlich das einer Bank, angebracht war, über das ganze Zimmer im Bogen auf das Kanapee hin und ging, die Enden ſeines langen Uniformrockes zurückgeſchlagen, die Hände in den Hoſentaſchen, mit verbiſſenem Geſicht auf Gregor zu. Er wußte wohl ſelbſt nicht, was er vor hatte; immerhin hob er die Füße ungewöhnlich hoch, und Gregor ſtaunte über die Rieſengröße ſeiner Stiefelſohlen. Doch hielt er ſich dabei nicht auf, er wußte ja noch vom erſten Tage ſeines neuen Lebens her, daß der Vater ihm gegenüber nur die größte Strenge für angebracht anſah. Und ſo lief er vor dem Vater her, ſtockte, wenn der Vater ſtehen blieb, und eilte ſchon wieder vorwärts, wenn ſich der Vater nur rührte. So machten ſie mehrmals die Runde um das Zimmer, ohne daß ſich etwas Entſcheidendes ereignete, ja ohne daß das Ganze infolge ſeines langſamen Tempos den Anſchein einer Verfolgung gehabt hätte. Deshalb blieb auch Gregor vorläufig auf dem Fußboden, zumal er fürchtete, der Vater könnte eine Flucht auf die Wände oder den Plafond für beſondere Bosheit halten. Allerdings mußte ſich Gregor ſagen, daß er ſogar dieſes Laufen nicht lange aushalten würde, denn während der Vater einen Schritt machte, mußte er eine Unzahl von Bewegungen ausführen. Atemnot begann ſich ſchon bemerkbar zu machen, wie er ja auch in ſeiner früheren Zeit keine ganz vertrauenswürdige Lunge beſeſſen hatte. Als er nun ſo dahintorkelte, um alle Kräfte für den Lauf zu ſammeln, kaum die Augen offenhielt; in ſeiner Stumpfheit an eine andere Rettung als durch Laufen gar nicht dachte; und faſt ſchon vergeſſen hatte, daß ihm die Wände freiſtanden, die hier allerdings mit ſorgfältig geſchnitzten Möbeln voll Zacken und Spitzen verſtellt waren — da flog knapp neben ihm, leicht geſchleudert, irgend etwas nieder und rollte vor ihm her. Es war ein Apfel; gleich flog ihm ein zweiter nach; Gregor blieb vor Schrecken ſtehen; ein Weiterlaufen war nutzlos, denn der Vater hatte ſich entſchloſſen, ihn zu bombardieren. Aus der Obſtſchale auf der Kredenz hatte er ſich die Taſchen gefüllt und warf nun, ohne vorläufig ſcharf zu zielen, Apfel für Apfel. Dieſe kleinen roten Äpfel rollten wie elektriſiert auf dem Boden herum und ſtießen aneinander. Ein ſchwach geworfener Apfel ſtreifte Gregors Rücken, glitt aber unſchädlich ab. Ein ihm ſofort nachfliegender drang dagegen förmlich in Gregors Rücken ein; Gregor wollte ſich weiterſchleppen, als könne der überraſchende unglaubliche Schmerz mit dem Ortswechſel vergehen; doch fühlte er ſich wie feſtgenagelt und ſtreckte ſich in vollſtändiger Verwirrung aller Sinne. Nur mit dem letzten Blick ſah er noch, wie die Tür ſeines Zimmers aufgeriſſen wurde, und vor der ſchreienden Schweſter die Mutter hervoreilte, im Hemd, denn die Schweſter hatte ſie entkleidet, um ihr in der Ohnmacht Atemfreiheit zu verſchaffen, wie dann die Mutter auf den Vater zulief und ihr auf dem Weg die aufgebundenen Röcke einer nach dem anderen zu Boden glitten, und wie ſie ſtolpernd über die Röcke auf den Vater eindrang und ihn umarmend, in gänzlicher Vereinigung mit ihm — nun verſagte aber Gregors Sehkraft ſchon — die Hände an des Vaters Hinterkopf um Schonung von Gregors Leben bat. 3. Abſchnitt