Die großen Fenſter in Hardas Zimmer ſtanden weit offen. Durch die herabgelaſſenen Jalouſien drang der würzige Odem der warmen Nacht. Er durchhauchte den Raum mit dem feinen Dufte der blühenden Gartenſträucher.
Die brennende Lampe über dem Bett beleuchtete nur die nächſte Umgebung, während der roſige Schimmer ihres Schirms alles Übrige in ein ſchwaches Dämmerlicht hüllte. Auf dem Teppich vor dem Bett lag ein Buch, aufgeſchlagen, wie es herabgefallen war.
Es war jetzt ſtill, ganz ſtill im Hauſe. Man konnte das ferne Rauſchen der Helle vernehmen.
Unhörbar öffnete ſich die Tür und lautlos trat Harda herein. Das lange volle Haar hing aufgelöſt über dem weißen Nachtgewand. Sie ſchloß und verriegelte die Tür und lauſchte noch einmal ängſtlich.
Als alles ſtill blieb, ging ſie langſam nach dem Bett zu und hob mechaniſch das Buch auf. Sie ſetzte ſich auf den Bettrand und hielt es in den Händen, aber ihre Augen ſtarrten in die Ferne. So ſaß ſie lange regungslos. Dann ſchauerte ſie zuſammen, ſprang auf, ſchleuderte das Buch auf das Bett und drehte die Lampe aus. Im Dunkeln ſchritt ſie auf den Diwan zu, der an der gegenüberliegenden Wand nahe am Fenſter ſtand. Hier warf ſie ſich hin und hüllte ſich in die Decke, mit der ſie ein leiſes Schluchzen erſtickte. Oh, ſie hatte es ja gefürchtet — dieſe Nacht wird wieder eine von den ſchlimmen.
Sie war es geworden.
Als Harda mit Sigi vom Tennisſpiel nach Hauſe kam, fand ſie wieder Beſuch vor, der ziemlich lange ſitzen blieb. Nach dem Aufbruch der Gäſte hatte ſich die geſamte Familie ſofort zurückgezogen. Ermüdet ſuchte Harda ihr Bett auf, und nur, um ihren Gedanken eine andere Richtung zu geben, hatte ſie ein Buch ergriffen, das naturwiſſenſchaftliche Eſſais enthielt.
Sie hatte kaum zu leſen angefangen, als ſie zuſammenſchrak.
Ein leiſes Wimmern ertönte, das in ein weinerliches Schluchzen überging — dann wieder aufs neue einſetzte. Es kam aus dem Nebenzimmer, dem Schlafzimmer von Tante Minna. Jedes der Zimmer beſaß ſeinen eigenen Zugang vom Flure her, aber es klang durch die Verbindungstür, die allerdings verſchloſſen und durch eine Kommode verſetzt war. Harda kannte das. Minna bekam einen ihrer nervöſen Anfälle. Sie durfte dann nicht allein gelaſſen werden, ſonſt geriet ſie in eine Aufregung, die das Äußerſte befürchten ließ. Aber auch fremde Bedienung mochte man nicht zu Hilfe ziehen, denn Minna wußte dann nicht immer, was ſie ſprach, und in der höchſten Steigerung ihres Anfalls führte ſie mitunter Reden, für die man fremde Ohren nicht brauchen konnte. So war Harda die einzige, der die Nachtwache zufiel. Sie litt unendlich unter dieſem Jammer. Oft drohte ihre Kraft zu verſagen; denn ſie mußte immer auf den Gedankengang der Erkrankten eingehen, wenn ſich die Wutausbrüche nicht ſteigern ſollten.
Eilig ſprang Harda empor und hatte nur Zeit, ihr Nachtkleid überzuwerfen, denn das Weinen im Nebenzimmer wurde lauter, und Harda fürchtete, daß Sigi es hören könne. Sie lief über den Flur in das Zimmer der Tante und ſuchte ſie zu beruhigen.
Jetzt erſt erfuhr ſie durch Minnas rückſichtsloſe Anklagen, was den Anlaß zu den heutigen Aufregungen gegeben hatte. In ihrem eiferſüchtigen Mißtrauen fürchtete Minna ſtets, daß Hermann auf ſeinen Geſchäftsreiſen Zuſammenkünfte mit jener Dame habe, von der ſie wußte, daß er einmal mit ihr in intimen Beziehungen geſtanden hatte. Seine Verſuche, ſich von dieſen Einflüſſen zu befreien, hielt ſie wohl nicht für ganz ernſthaft, jedenfalls ſchienen ſie nicht erfolgreich.
Minna hatte am frühen Morgen, als ſie ſich in Hardas Abweſenheit an Hermanns Koffer zu tun machte, zum Unheil einen vielſagenden Brief gefunden, der ſie äußerſt erregte. Damit trieb ſie dann Hermann in die Enge und quälte ihn bis zur Verzweiflung. Bald erklärte ſie ihm ihre Verachtung, bald wieder drang ſie auf Erfüllung ſeines Verſprechens, ſie zu heiraten.
Alles dies brachte die Unglückliche jetzt unter Klagen und Zornausbrüchen Harda gegenüber aufs neue vor. Dabei verlor ſie immermehr ihre Selbſtbeherrſchung. Zuletzt verſtieg ſie ſich zu Vorwürfen gegen Harda, die den Vater in ſeinen Heimlichkeiten unterſtütze, gegen ſie intrigiere, ihre Rechte im Hauſe ſchmälere, nur den eigenen Vergnügungen nachjage, den Männern die Köpfe verdrehe — —
Harda kannte das ſchon, ja ſie war froh, daß es ſo weit kam. Denn dann pflegte der Paroxysmus ſich ſeinem Ende zu nahen.
Die Kranke wurde ſchwächer, und es gelang Harda, ſie zu bewegen, daß ſie das für dieſe Anfälle vom Arzte vorgeſchriebene Mittel nahm. Dann endlich verfiel ſie in Schlaf, und am andern Morgen wußte ſie nur noch wenig davon, wie ſchrecklich die Nacht geweſen war.
Endlich, endlich gingen die Atemzüge ruhiger. Minna ſchlief.
Es waren drei Stunden vergangen, als Harda in ihr Zimmer zurückkehrte, wo ſie ſich jetzt auf den Diwan hingeworfen hatte.
Das Zimmer war nun völlig dunkel. Der Himmel hatte ſich leicht umzogen, die Jalouſien ließen nur einen ſo ſchwachen Schimmer ein, daß man gerade die Stelle erraten konnte, wo ſich der weiße Kopf der Büſte vor dem Efeu befand, ganz nahe zu Häupten Hardas.
Sie ſchloß die Augen, aber der Schlaf kam nicht, trotz ihrer Erſchöpfung. Sie hatte noch nicht Zeit gefunden, ihre Gedanken zu ordnen. Ja, wenn das ginge!
Freiheit, Freiheit! Das häusliche Elend, das ſie vor jedermann verbergen mußte! Dieſe Angſt, daß es zu einem Unglück kommt! Dieſe furchtbaren Nächte! Der arme Vater, die bemitleidenswerte Tante! Und die ſtete Unruhe, die Unregelmäßigkeit des Lebens, die der große Haushalt und die fortwährende geſchäftliche Repräſentation mit ſich brachten!
Freilich, während ſie in dieſem geſelligen Leben ſchwamm, bei Beſuchen und Feſten, Tanz und Spiel, da war ſie mit dem vollen Genuß der Jugend dabei, da war ſie luſtig und übermütig, ſie wollte es ſein. Aber ſie wußte auch, warum. Vergeſſen, vergeſſen! Das alles war ja nur ein Betäubungsmittel, um ſich der Gedanken an den eignen Zuſtand zu entſchlagen. Eine ſtille Beſchaulichkeit lag ihrem Weſen näher, eine Betrachtung der Dinge, eine Teilnahme am Geheimnis und am großen Geſetze der Natur. Deshalb ſehnte ſie ſich danach, ſich einem Studium in dieſer Richtung zu widmen. Gewiß, ſie intereſſierte ſich ſehr für die Hellbornwerke, für die umſichtige, raſtloſe Tätigkeit des Vaters. Hier zog ſie das eigentlich Techniſche an, das Gelingen, das in dieſem großen Organismus des induſtriellen Schaffens lag, und es wurde ihr verklärt durch die Verehrung für den geliebten Vater, deſſen eigenſtes Werk ſie darin ſah. Denn die Hellbornwerke waren nicht urſprünglich mit dem Millionenkapital gegründet, das ſie jetzt repräſentierten, ſondern aus ein paar Sägemühlen im Tale der Helle war durch Kerns Energie die blühende chemiſche Fabrik entſtanden, die jetzt keine Schwierigkeit mehr fand, über große Geldmittel zu verfügen.
Als Harda mit dem Reifezeugnis des Realgymnaſiums zurückkam, hatte ſie gedacht, bald eine Univerſität beziehen zu können. Aber die Verhältniſſe, die ſie vorfand, hielten ſie nun ſchon über ein Jahr hier feſt. Sie hatte ſich ihnen ſchnell gewachſen gezeigt; nur zu dem ſtillen Genuſſe ihrer Seele kam ſie überhaupt nicht mehr. Bis jetzt hatte ſie ſich dem Vater zu Liebe in Geduld gefaßt, immer in der Hoffnung, daß bald, bald doch die Tante den nunmehr erwachſenen Töchtern das Haus räumen würde.
Seit heute wußte ſie, daß ſie darauf nicht rechnen dürfe. Die Tante ging nicht. Bleiben konnte es ſo nicht. Aber zugleich hatte ſie erkannt, daß auch ihr der Weg verſchloſſen war, das Haus zu verlaſſen.
Äußerlich hätte ſie ja nichts gehindert. Im letzten Winter war ſie mündig geworden. Sie beſaß von ihrem Großvater mütterlicherſeits ein ausreichendes Vermögen, um ſelbſtändig leben zu können, wenn auch in beſcheidener Weiſe. Freilich war ſie verwöhnt, aber doch erſt in den letzten Jahren, und ſie wußte ſehr wohl von früher her, wie einfach man beſtehen kann. Auch hätte der Vater nie einen äußeren Zwang auf ſie ausgeübt, und der Rat und die Fürſorge von ihrem Paten Solves, ſchlechthin Onkel Geo genannt, war ihr ſicher. Sie konnte morgen abreiſen.
Konnte! Ja, konnte! Das war das dumme vieldeutige Wort! Sie konnte eben nicht, weil ſie nicht durfte. Ein inneres Geſetz hinderte ſie, eine Pflicht.
Der Vater bat nicht nur, er brauchte ſie wirklich. Seine Tätigkeit für die Hellbornwerke war aufs engſte mit dem Beſtande ſeiner Häuſlichkeit verknüpft. Seine raſtloſe Tätigkeit war nur möglich, wenn er daheim ſtets die Erholung zu kurzem Aufatmen fand und zugleich ein gaſtliches Haus, das zu jeder Stunde unerwarteten Beſuchern, wichtigen und anſpruchsvollen Geſchäftsfreunden offenſtand. Tante Minna leiſtete darin allerdings Außerordentliches. Sie war in Geſellſchaft in höchſtem Grade liebenswürdig und anregend, ſie bildete einen geſuchten Mittelpunkt des Verkehrs und der gemeinnützigen Tätigkeit. Aber niemand hatte eine Ahnung von den Schwierigkeiten, unter denen dieſer Schein des Behagens aufrecht erhalten wurde. Und daß dies möglich war, daß dies ſo blieb, das konnte allein Harda bewirken, Hardas Aufopferung.
So ſollte ſie denn unlösbar gebunden ſein? War es nicht des Vaters Pflicht, das zu tragen, was er verſchuldet hatte, die Folgen ſeines Leichtſinns auf ſich zu nehmen? Mochte er doch die Tante heiraten! Dann würde ſie gewiß wieder ruhig, vernünftig und geſund werden. Dann fand das Haus ſeine natürliche Repräſentation. Dazu den Vater zu beſtimmen, ſollte jetzt ihre Aufgabe ſein. Dann konnte auch ſie getroſt auf die Univerſität gehen — —
Aber Sigi! Sigi — nein, nein — ihr konnte ſie nicht zumuten, ſich in dieſe neuen Zuſtände zu fügen, die ſicher zu ſchwierigen Konflikten führen würden. Sigi ſollte nicht darunter im Genuſſe ihrer Jugend leiden oder ſich aus dem Hauſe getrieben fühlen. Um ihretwillen hatte ſie ja jetzt alle Sorge und Qual allein getragen. Sigi bedurfte ihrer. Sie konnte nicht fort.
Und es mußte doch einen Weg geben! Wann konnte eine Pflicht gelöſt werden? Konnte ſie es? Ja, gewiß, aber nur durch eine höhere Pflicht. Und wo gab es eine ſolche? Die Pflicht gegen ſich ſelbſt? Sich ſelbſt zu erhalten, ſich den Lebensberuf, die Tätigkeit zu wählen, die allein ihrem Weſen gemäß ſchien, das Studium? Genügte das nicht?
Harda war nicht ſicher, ob das ausreiche. Ihr Gefühl ſprach dagegen. Es handelte ſich dabei doch nur um ihr eigenes Wohl und Wehe, es lag etwas Egoiſtiſches darin. Ja, wenn noch eine weitere Rückſicht mitſpielte, nicht allein auf ſich, auf jemand, der nicht geringeres Recht hatte als die Schweſter? Wenn ſie nun heiratete? Das war doch das Natürliche in ihrem Alter. Ja, das fühlte ſie, wenn ſie liebte und geliebt wurde, dann würde ſie nicht zögern — — Und doch, wie konnte ſie dem, der ſie liebte, das geſtehn, was ſie von ihrem Hauſe zu verbergen hatte? Das ſchien ihr unmöglich — Aber wozu auch darüber grübeln? Der Fall lag ja gar nicht vor, ſie liebte nicht — — Sie wollte darüber nicht nachdenken.
Und trotz alledem, der Gedanke verließ ſie nicht. Fort wollte ſie. Da war doch wohl nur der eine Ausweg — heiraten. Wenn ſie wollte, Anträge konnte ſie genug haben. Aber — konnte ſie wollen? Wen denn? Sollte ſie ſich das wirklich überlegen?
Eigentlich war ihr die Frage in der letzten Zeit ſehr ſtark entgegengetreten. Den niedlichen Ingeling und auch den ſtattlichen Elzer hatte ſie beizeiten abfallen laſſen, als ſie ihr Geſtändniſſe zu machen begannen. Randsberg? Sie lächelte nur, wenn ſie an ihn dachte; das hatte ſie noch nie bekümmert.
Aber es gab eine ernſtere Frage, die ſie nicht gern in Erwägung zog — ſie fürchtete ſich davor. Und doch wurde ſie wahrſcheinlich ſehr bald vor die Entſcheidung geſtellt. Geſtern abend — es war gar nicht mißzuverſtehen. Eigentlich mochte ſie ihn gern, den Kommerzienrat. Er war ihr ſehr ſympathiſch, obwohl er reichlich fünfundzwanzig Jahre älter als ſie war. Aber ſie hatte überhaupt eine Vorliebe für ältere Herren. Und Frickhoff war trotz ſeines leicht ergrauten Haares eine glänzende Erſcheinung, groß und kräftig, mit vornehmer Haltung, hoher Stirn, elegantem Bart und lebhaften Augen. Und er ſchwärmte für ſie; immer rückſichtsvoll und zartfühlend machte er doch keinen Hehl aus ſeiner aufrichtigen Zuneigung. Sie wußte das ganz genau, daß er nichts Sehnlicheres wünſchte, als ſie in ſeine prächtige Villa im Gebirge zu führen und in ſein glänzendes Haus in der Hauptſtadt.
Frickhoff war der einflußreichſte unter den Aufſichtsräten der Hellbornwerke. Durch ſeinen Reichtum und ſeine Verbindungen in der Finanzwelt war er von der größten Wichtigkeit für das Unternehmen. Niemals hatte Harda mit ihrem Vater anders als in harmloſen Neckereien über Frickhoffs Liebenswürdigkeiten geſprochen; dennoch wußte ſie, daß er glücklich ſein würde, wenn ſie durch ihre Vermählung dieſe Verbindung feſtigte. Aber immer hatte ſie mit inſtinktivem Takte Frickhoff in der Stellung des väterlichen Freundes gehalten, ſo daß er bis jetzt nicht gewagt hatte, ſich direkt auszuſprechen. Trotzdem konnte ſie jeden Tag, wenn ſie wollte, eine Entſcheidung herbeiführen; nur hatte ſie bisher im Ernſt gar nicht daran gedacht, es zu wollen. Natürlich war ihr manchmal der Gedanke aufgeſtiegen, es war auch gar kein ſo übler Gedanke, über die Frickhoff'ſchen Millionen zu verfügen, und ſie wußte von ſo mancher, die ihn ſehr beſtrickend fand — aber ihr flößte der Altersunterſchied Bedenken ein, und vor allem, ſie wollte noch gar nicht heiraten, ſie wollte noch jung ſein und — ſie hatte ſo ihre Ideale — — Er war ja ſtattlich, ritterlich, gütig, klug und wohl auch ehrlich und zuverläſſig, indeſſen, er war doch ganz und gar Geſchäftsmann. Und wenn ſie ihn heiratete, gewann ſie denn dann, was ſie ſuchte? Er ſprach von Freiheit, nun ja, aber das konnte doch nicht die Freiheit werden, die ſie ſich erträumte. Aus dieſem Hauſe kam ſie wohl heraus, aber nicht aus der Unruhe, aus dem Kreiſe des großinduſtriellen Getriebes, aus der Haſt des Geſchäftslebens und den Pflichten ausgedehnteſter Geſelligkeit — denn den Pflichten ihrer Stellung wollte ſie ſich nicht entziehen, um irgendwo ihren Privatneigungen zu leben — an ihr Studium würde alſo dann auch nicht zu denken ſein. Nein, ſie wollte nicht das große Leben, ſie wollte — wenn ſie überhaupt heiratete, ſo ſollte es jemand ſein, deſſen Arbeitskreis und deſſen Neigungen mit dem übereinſtimmten, was ihre ſtille Freude war —
Warum hatte ſich denn eigentlich der Doktor Eynitz gar nicht mehr ſehen laſſen? War ſie mit der Einladung etwas voreilig geweſen? Wenn ſie ihn nicht zufällig getroffen hätte, wäre wohl die Aufforderung unterblieben. Immerhin, er hätte doch ſeinen Beſuch machen müſſen. Daß er bei der flüchtigen Begegnung am Maſchinenhauſe ſich nicht aufhalten konnte, war ja ſelbſtverſtändlich. Vielleicht hatte er auch noch gar nichts über den Sternentau mitzuteilen.
Warum fiel ihr das überhaupt jetzt ein? Dieſe Unterhaltung unter der Buche am Rieſengrab! Ach ja, das war einmal ſo etwas anderes, das war ein ſich Erſchließen, ſich Verſtehen in einem Gemeinſamen, in dem Ganzen, Großen, Göttlichen des Lebens, wo die Rätſel wunſchlos ſind, im Frieden der Natur und Seele. Es war faſt wie das Liebſte und Schönſte, das ſie kannte, wie ein Sprechen und Schauen, ein Wandern und Fühlen mit ihm, mit dem beſten, dem teuerſten Freunde.
Sie öffnete die müden Augen und ſuchte die Dunkelheit zu durchdringen. Ganz nahe, in der Ecke vor ihr, ſchimmerte der weiße Marmor. Die Züge konnte ſie nicht erkennen, aber die ſah ſie ja vor ſich, wenn ſie wollte. Du Lieber, Guter! Dich habe ich ja immer — was würdeſt du mir ſagen, wenn ich dich fragte? Warum frage ich dich nicht? Noch iſt die Zeit nicht gekommen. Ich weiß, was du ſagen würdeſt: „Wage zu denken, vertraue dir ſelbſt!“ Ja, das will ich. Aber wenn ich nicht weiter weiß, dann wirſt du mir das Rechte ſagen — darauf will ich warten. Ich habe ja dich!
Noch einmal ſuchte ihr Blick die Büſte. Doch was war das?
Dort in der Ecke, unter dem Laube des dichten Efeus, wo ſie wußte, daß ſich die Sporenbecher des Sternentaus weiter entwickelt hatten, dort glimmten zwei mattleuchtende Flecke, einer deutlich hellblau, der andere etwas dunkler. Und wirklich, was jetzt ſichtbar wurde, waren zwei der Glöckchen, bei denen Harda ſchon am Tage ein ſtärkeres Hervordringen der ſilbernen Fädchen beobachtet hatte. Sie befanden ſich ganz nahe an Hardas Platze; wenn ſie ſich aufgerichtet und vorgebeugt hätte, konnten ihre Finger ſie berühren.
Jetzt bemerkte ſie deutlich, daß ſich die ſilberglänzenden Fäden kranzförmig hervorwölbten; von ihnen ging das Licht aus, das die blauen Kelche farbig ſichtbar machte. Die ganze Erſcheinung war in unverkennbarer Bewegung; die Entwicklung ſchritt merklich fort. Wie eine von feinſten Fäden geſponnene Krone wölbte ſich eine Kuppel über dem Kelche und wurde zuſehends größer.
Harda wollte aufſpringen, Licht machen, näher hinblicken, nur fürchtete ſie, etwas an der merkwürdigen Erſcheinung zu verſäumen. Doch ſie hatte ja einen Einſchalter unmittelbar zur Hand, da brannte die Wandbeleuchtung — ſo — es wurde hell. Die blauen Kelche blickten unter dem Efeu hervor, die Blätter waren auseinandergedrängt, aber die leuchtenden Fäden und die glänzenden Perlen im Innern waren überhaupt verſchwunden, es war nichts weiter zu ſehen. Sie drehte das Licht ab, und die Erſcheinung war wieder vorhanden. Offenbar war die Bildung ſo fein und durchſichtig, daß ſie nur im Dunkeln durch ihr Eigenlicht ſichtbar wurde.
Harda ſtreckte die Hand aus, zog ſie jedoch wieder zurück, ſie fürchtete durch ihre Berührung den offenbar äußerſt zarten Prozeß zu ſchädigen. Und jetzt klopfte ihr das Herz, als ſie ſah, was weiter geſchah.
Aus den Kelchen ſtieg es wie ein leichter, kaum ſichtbarer, weißlicher Nebel; wie ein ſchwach ſchimmerndes Wölkchen zog es hervor, ohne beſtimmte Geſtalt zunächſt. Nun aber wuchs es allmählich zu länglich runder Form und gliederte ſich beweglich, ſchleierverhüllt. Die Erſcheinung zeigte ſich bei beiden Blüten, nur bei der dunkelblauen etwas ſpäter, ſo daß Harda die aufeinander folgenden Stufen wohl vergleichen konnte. Doch waren eben nur Umriſſe wahrnehmbar.
Und nun — iſt es möglich — die leichten Geſtalten löſen ſich ab von den Kapſeln und frei, in ſanfter Bewegung, ſchweben ſie durch die Luft. Und während ſie ſo dahingleiten, ſtreckt es ſich aus ihnen hervor wie zierliche Arme, die das feine Fadengeſpinſt der Hülle abſtreifen, und es zeigen ſich kleine, faſt menſchenartige Figuren. Sie ergreifen das abgeſtreifte Geſpinſt, ziehen es auseinander und werfen es in neuer Form um ſich wie einen Schleier. So anmutig ſchwebend ziehen ſie im Zimmer umher, langſam, hierhin und dorthin, als wollten ſie ſich in dem unbekannten Raum orientieren.
Ihre Geſtalt war durch den phosphoreszierenden Schleier ſo verhüllt, daß ſie nicht deutlich erkennbar war. Wie gebannt folgten Hardas Augen ihren Bewegungen — gab es wirklich einen Reigen der Blumenelfen in der Nacht? Stiegen ſolche ätheriſche Weſen aus den Sporenkapſeln des Sternentaus? Was würde Eynitz dazu ſagen? Aber — jetzt werden die Elfen größer — nein, die Dunkelheit täuſcht nur — ſie ſchweben gerade auf Harda zu! Sie will aufſpringen, ſie kann es nicht; doch ihr iſt gar nicht ängſtlich zumute, nein — wie ein ſanfter, wohltätiger, kühler Hauch geht es von den fremden Weſen aus — ſie fühlt ſich ſo ruhig, ſo ſtill — die Augen fallen ihr zu — —
Und die Elfen ſchweben weiter und laſſen ſich auf das Haupt des Mädchens nieder, dort ruhen ſie in der weichen, elaſtiſchen Seide des Haares. Sie reden zu einander in einer Sprache, die von Menſchen nirgends geſprochen wird, und doch, was ſie ſagen, bebt nach im Gehirn der Schlummernden und wirkt darin Gedanken nach Menſchenart. Stimmen des Waldes glaubt ſie zu vernehmen, und unbekannte Welten öffnen geheimnisvolle Pforten vor großleuchtenden Augen. Des Tages Haſt und Unruhe ſinkt hinab ins Reich des Überwundenen, und freundliche Hoffnungen ſteigen ſiegreich empor.