Die Wolken, von denen Harda auf ihrem nächtlichen Spaziergange geſprochen hatte, waren wirklich aufgezogen, der ganze Donnerstag verlief regneriſch und erſt am Freitag klarte das Wetter auf. Gegen Abend konnte dann Harda ihr Vorhaben ausführen, nach dem Sternentau zu ſehen, den ſie unter dem Efeu auf dem Friedhof angepflanzt hatte. Zu ihrem großen Erſtaunen fand ſie, daß hier eine Anzahl von Sporenbechern bereits verwelkt waren wie der eine in ihrem Zimmer, daß aber auch noch zahlreiche jüngere in der Entwicklung begriffen waren.
Das Leben in der Villa und in den Werken war an beiden Tagen ſo unruhig wie gewöhnlich. Die Tante ſchwankte zwiſchen Liebenswürdigkeit und Verſtimmung, der Haushalt erforderte mehrfach Hardas Eingreifen, Beſuche kamen und gingen, und die Mitglieder des weiblichen „Vergnügungskomitees“ hielten jeden Nachmittag einige Stunden lang ihre Sitzung auf Hardas Zimmer ab. So war ſie auch nicht dazu gekommen, ihren Studienplan auszuführen und ſelbſt am Sternentau etwas zu entdecken.
Vom Vater war keine Nachricht mehr gekommen. Eigentlich beabſichtigte Harda, ihn in der Nacht vom Freitag zu Sonnabend zu erwarten, aber ſie ſah wieder davon ab, da es der Vater nicht liebte, wenn ſie ſeiner Ankunft wegen ihre Ruhe aufgab. Dafür war ſie am Sonnabend Morgen ſchon um halb ſechs Uhr am Frühſtückstiſche; ſie hatte Gelimer beauftragt, ſie rechtzeitig zu wecken, falls der Vater in der Nacht zurückgekehrt ſei.
Und pünktlich wie immer erſchien der Vater um dreiviertel auf ſechs Uhr zum Frühſtück, das im Sommer in der Veranda eingenommen wurde. Da pflegte es ſehr haſtig herzugehen; denn um ſechs Uhr zeigte ſich Kern mit abſoluter Sicherheit irgendwo in den Werken und machte ſeinen Rundgang durch die Fabrik.
Er freute ſich ſehr, daß Harda da war, und begrüßte ſie aufs herzlichſte, konnte aber doch nur flüchtige Worte mit ihr wechſeln. Mit dem Erfolg ſeiner Reiſe war er ſehr zufrieden, die Maſchinen ſeien unterwegs.
„Ich hoffe, in acht Tagen laufen ſie. Dieſer Waſſerſchlag war eine dumme Geſchichte. Wie geht's dem Blomann? Alſo der Geheimrat Brunnhauſen war ſchon hier? Famos. Das habt ihr recht gemacht, daß ihr ſo nett wart. Was macht denn der Ponny? Wie, ein großes Waldfeſt wollt ihr loslaſſen? Na, immer zu!“ Dazwiſchen nur kurze Auseinanderſetzungen von Harda. Da hatte er ſchon in großer Eile, aber ſorgfältigſt, mit der Serviette ſeinen Schnurrbart geputzt und ſeine Fabrikmütze ergriffen.
„Laß dir's gut gehen, Herzel!“ Ein flüchtiger Kuß und ſchon war er im Garten. Von dort rief er noch zurück.
„Eure Pakete ſind im Koffer. Nimm ſie bald heraus und ſeht zu, ob ich's richtig mit den Farben getroffen habe.“
Nach einigen häuslichen Beſorgungen ging Harda in das Zimmer des Vaters, um den Koffer auszupacken und wieder friſch zu füllen. Es war eine ſtehende Aufgabe für ſie, die Sachen, die der Vater zu einer ſeiner plötzlichen Reiſen bedurfte, ſtets gebrauchsfertig vorbereitet zu halten, und das überließ ſie keiner Bedienung; auch gegen Minna verteidigte ſie ihr Gewohnheitsrecht ſtandhaft.
Eben betrachtete Harda mit mädchenhaftem Entzücken die beiden prächtigen Bluſen, die der Vater für die Töchter ausgeſucht hatte, als ſie abgerufen wurde. Es galt erſt eine lebhafte Meinungsdifferenz über die Güte von Salat und Erdbeeren zwiſchen der Köchin und dem Gärtner zu ſchlichten, dann im Hühnerhofe eine Entſcheidung zu treffen und ein entbehrliches Kleidungsſtück für eine arme Frau herauszuſuchen, ſo daß längere Zeit verſtrich, ehe Harda in das Zimmer des Vaters zurückkehrte. Als ſie die Tür öffnete, fand ſie zu ihrem Erſtaunen Minna in dem Zimmer.
„Guten Morgen, Tante,“ ſagte Harda freundlich. „Schon ſo früh auf?“
„Ich wollte nur ſehen, ob Hermann dieſe Nacht gekommen iſt,“ antwortete Minna.
Damit wandte ſie ſich ſchnell an Harda vorüber.
„Haſt du denn die reizende Broſche geſehen, die Vater dir mitgebracht hat?“ Sie hielt das geöffnete Etui der Tante entgegen. Dieſe warf einen unwilligen Blick darauf, ohne die Hand danach auszuſtrecken, zuckte mit den Schultern, drehte ſich um und verſchwand eilend durch die Tür.
Harda ſah ihr erſchrocken nach.
„Da iſt wieder etwas paſſiert,“ ſagte ſie ſich. „Sie hat irgend etwas gefunden. Das wird ſchlimm.“
Seufzend ging ſie daran, ihr Werk zu vollenden und den Kofferinhalt zu ordnen. Da merkte ſie gleich, daß ſich die Tante inzwiſchen damit beſchäftigt hatte. Sorgfältig prüfte Harda ſämtliche Taſchen der Anzüge; denn der Vater war darin ſehr zerſtreut und ließ manchmal wichtige Briefe ſtecken. Sie fand aber nichts Bemerkenswertes.
Am Vormittage hatte Harda dringend in der Stadt zu tun und ſah die Ihrigen erſt wieder, als ſie im letzten Momente zu Tiſche kam. Sie bedankte ſich herzlich beim Vater für das ſchöne Geſchenk, Sigi ſcherzte, der Vater erzählte allerlei von Hildenführ, Hamburg und Oberſchleſien. Man unterhielt ſich ſehr eifrig. Aber Harda ſah es am nervöſen Zittern der Hand des Vaters und an den rotgeweinten Augen der Tante, daß eine heftige Szene ſtattgefunden haben mußte.
Als Harda gegen Abend allein zum Tennisplatze ging — denn Sigi war immer ſchon bedeutend früher verſchwunden — trat ihr im Park die ſchlanke Geſtalt des Vaters haſtig entgegen.
„Kind,“ ſagte er, „ich will's nur geſtehen, ich hab' dich abgepaßt. Du haſt's ja doch ſchon gemerkt. Ich muß mit dir reden.“
„Ja, Vater,“ antwortete ſie leiſe, „ich hab's gemerkt.“
Er faßte Harda, gegen die er klein erſchien, unter dem Arm und führte ſie nach einem abgelegenen Plätzchen des Parkes; hier ließen ſie ſich auf einer Bank nieder.
Harda ſah zu Boden und ſpielte mit ihrem Racket. Kern hatte ſeinen Strohhut neben ſich gelegt, er preßte ſeine ſeinen Hände zuſammen und ſtarrte geradeaus. Da er weiter ſchwieg, wendete Harda beſorgt den Kopf nach ihm. Sie ſah, wie ſich die kleinen Falten in ſeinem energiſchen Geſicht vertieft hatten, die Enden ſeines Schnurrbarts zuckten, und in ſeinem Auge ſtand eine Träne.
Harda konnte den Anblick nicht ertragen, wie der ſtarke Mann mit ſich kämpfte. Sie ſchlang die Arme um ſeinen Hals und lehnte ſich an ihn. Er faßte ihre Hand und ſtreichelte ſie.
„Herzel,“ ſagte er mit erzwungener Stimme, „kannſt du nicht hierbleiben? Du willſt durchaus fort, behauptet ſie.“
„Ja, Vater. Ich kann's hier nicht mehr ertragen. Und es iſt auch Zeit. Du haſt mir's doch verſprochen.“
„Ich habe ja nicht gewußt, daß es mit Minna ſo ſchlimm werden würde. Heute wieder —“
„Ach Vater! Ich kann mir's denken. Die Depeſche aus Breslau, ſie hat den Ort erraten. Aber Vater, warum mußteſt du auch — du haſt die — die Perſon doch wieder geſehn?“
„Mein liebes gutes Kindel! Es iſt mir ſchrecklich, zu dir davon zu ſprechen. Ja — ich mußte — aber gegen meinen Willen. Sie hat mich gezwungen, ſie läßt mich nicht los. Und ich, ich bin ſchwach. Ich bin ja doch ſchuld daran — ihr gegenüber. Es iſt eine ſchwere Laſt — jetzt nur Laſt, eine fortwährende Aufſaugung. Doch man würde wohl ſchließlich einmal fertig damit — wenn nicht das andre wäre! Nein, Harda, du darfſt mich nicht verlaſſen!“
„Vater, ich hab' dich ja ſo lieb, ich — wenn es ſein muß, ſo müßte ich eben auf meinen innigſten Wunſch verzichten —“ die Tränen traten ihr in die Augen — „aber zuſammen mit der Tante, bei all der Unruhe, die ich ſonſt durchmachen muß, auch noch dieſe Qual — nein, Vater, das mußt du nicht verlangen. Alſo laß mich fort, oder veranlaſſe die Tante, fortzugehen.“
„Das tut ſie nicht.“
„Die Tante dauert mich gewiß von Herzen, ſie leidet ſelbſt ſo darunter. Aber Vater, ſchließlich biſt du Herr in deinem Hauſe und mußt es ſein. Wenn ſie ſo eiferſüchtig iſt, das iſt doch krankhaft. Sie muß eben anderswohin ziehn. Mit uns beiden erwachſenen Töchtern geht das nicht mehr. Soll ich hierbleiben, ſo darf mir nicht immer noch jemand hineinreden wollen.“
„Ja, liebes Kindel, ich wünſchte mir ja gar nichts anderes, als dich und Sigi für mich zu haben, aber das gibt ſie nie zu.“
„Sie muß.“
„Ach, Harda, du weißt ja nicht —“
„Vater, ich weiß es, ſie will, daß du ſie heirateſt — ſie ſchreit es ja heraus, wenn ſie ihren Anfall hat. Aber das eben, meine ich, iſt doch nur eine bedauernswerte krankhafte Einbildung, ſie verliert ſich vielleicht in einer Heilanſtalt —“
„Harda, du weißt nicht, wie unglücklich ich bin — unglücklich um euretwillen. Du haſt ſchon ein gut Teil deiner Jugend verloren, und Sigi — nein, nein, ſie ſoll nicht auch darunter leiden.“
„Sie ſoll nichts erfahren, ſo lange ich hier bin. Aber eben darum mußt du dafür ſorgen, daß Tante ſich zu einem andern Aufenthalt entſchließt, wenigſtens zeitweiſe.“
Der Vater ſchüttelte traurig den Kopf:
„Du Armes, du opferſt dich auf. Das iſt der Vorwurf, der mich quält, daß ich durch meinen Leichtſinn euch unglücklich mache —“
„So entſchließe dich doch.“
„Ja, ich muß dir's ſagen. Ich hatte mir's ſchon öfter vorgenommen, nur fand ich nicht den Mut. Aber da du geſtern ſo beſtimmt erklärteſt, fortzugehen, ſo mußt du wiſſen, warum ich gegen Minna nichts vermag, ganz abgeſehen von aller Teilnahme. Ich bin ihr gegenüber nicht frei. Ich habe — eine Schuld auf mich geladen.“
Harda ſah den Vater erſchrocken an, ſie wußte gar nicht, was ſie denken ſollte.
Leiſe fuhr er fort: „Ich habe ihr die Ehe verſprochen.“
„Du, Vater, du haſt — — Wann?“
„Ihr wart beide in der Penſion. Sigi war eben hingekommen, du trateſt gerade ins Gymnaſium ein — vor ſieben Jahren etwa. Wir lebten allein hier. Es waren ſchwere Jahre voller Sorgen. Minna war ſo teilnehmend, ſo gut und lieb — wir — Kind, ich kann nicht davon reden! Kurzum, ich gab ihr das Verſprechen, ſie zu heiraten, ſobald die geſchäftliche Gefahr vorüber ſei — es war damals eine große Kriſis. Nachher kam die Überlegung zurück, ich ſchob die Erfüllung hinaus — immer wieder. Ich konnte mich nicht entſchließen, ich genierte mich, vor den Menſchen, vor euch — — und jetzt — — Verzeihe mir, Harda!“
Er war aufgeſprungen.
Sie ſtand ſchweigend auf und küßte ihn.
„Armer, armer Vater,“ ſagte ſie dann. „Du konnteſt einmal nicht anders, du biſt ſo. Es iſt gut, daß ich nun alles weiß.“
Sie gingen ſchweigend ein Stück neben einander her. Dann blieb Harda ſtehen und legte den Arm um ſeine Schulter.
„Vater,“ ſagte ſie, „ſei ruhig, es wird Rat werden. Aber eins muß ſogleich geſchehen, unbedingt, es koſte, was es wolle. Oder haſt du etwa auch dort — —“
„Nein, nein, niemals.“
„Dieſe Sache in Breslau muß aus der Welt. Übergib ſie deinem Anwalt. Haſt du nicht genügend flüſſig, nimm es von mir, ich weiß, du gibſt mir's wieder —“
„Herzel, ich danke dir, aber ſoviel Kredit habe ich jetzt, daß ich nicht von dir zu borgen brauche. Du haſt recht. Es ſoll geſchehen. Und du, du denkſt nicht ſchlecht von mir, du —?“
„Wir wollen beide unſre Pflicht tun. Ich will mich zuſammennehmen. Aber auch du, Vater — Verſprechen iſt Verſprechen —“
„Du weißt ja, wie ich Minna zu ſchätzen weiß, ja, wie lieb ich ſie habe. Doch unter den jetzigen Umſtänden iſt es unmöglich.“
„Wenn du in Breslau frei biſt, wird es beſſer werden. Und wir — nun — — leb wohl, Vater!“
Sie küßte ihn nochmals und ſchritt dann langſam weiter, während Kern den Weg nach der Fabrik nachdenklich einſchlug.
Noch einmal blieb Harda ſtehen, ihre Stirn faltete ſich. Dann richtete ſie ſich energiſch in die Höhe und eilte dem Tennisplatz zu.
Als ſie ſichtbar wurde, ſtürzten ihr Aſſeſſor Ingeling und Leutnant von Randsberg entgegen.
„Ich bitte um den Vorzug —“
„Nein ich — ich bin um eine Naſenlänge voran!“ rief Randsberg.
„Was gibt's denn?“ fragte Harda.
„Zur großen Waldpolonaiſe natürlich.“
„Da wird überhaupt nicht engagiert. Das iſt alles Überraſchung.“
„Vorwärts doch,“ rief Sigi herüber, „wir warten!“