„Ja, ſehen Sie nu, Fräulein, da konnt' ich doch nicht dafür, weil ich halt drüben am Friedhof in den Graben gefallen bin, und ich mußte doch oben an dem Park lang gehen, da konnt' ich die Uhr halt nicht ſtechen —“
„Aber, Gelimer,“ ſagte Harda zu dem alten Nachtwächter der Villa, der den königlichen Namen Gelimer führte, „das iſt nun ſchon das dritte Mal in den acht Tagen, ſeit der Vater verreiſt iſt, daß Sie die Kontrolluhr nicht geſtochen haben —“
„Ich mußte mir doch mein Bein verbinden, ſehen Sie, Fräulein, hier unten, da iſt die ganze Hoſe zerriſſen, weil ich doch in den Graben gefallen bin —“
„Und warum ſind Sie in den Graben gefallen? Das wiſſen Sie ganz genau! Weil Sie wieder betrunken waren —“
„Wegen dem Biſſel Schnaps, Fräulein Kern, das werden Sie doch nicht erſt dem Herrn Direktor melden. Denn, ſehen Sie, Fräulein, der Herr Direktor hat doch geſagt —“
„Wenn Sie wieder den Dienſt verſäumen, daß Sie nicht länger Wächter ſein können —“
„Ja, das hat er ſchon vielemal geſagt — aber wegen dem Biſſel Schnaps — ich will Ihnen mal erzählen, Fräulein —“
„Nein, nein, ich weiß ſchon, ich habe gar keine Zeit! Aber das muß ich Ihnen ſagen, Gelimer, wenn Sie wieder nicht zur rechten Zeit ſtechen, kann ich kein gutes Wort für Sie einlegen. Adieu!“
Ohne weiter auf den Alten zu hören, der ſie vor der Haustür abgepaßt hatte, ſprang Harda die Treppe hinauf in ihr Zimmer.
Sie kam von der jungen Frau des Chemikers, Doktor Emmeyer, der das Häuschen am Eingang zu den Hellbornwerken bewohnte. Ihr Kindchen war Hardas Patchen. Die Mutter mußte das Bett hüten und auf das junge Dienſtmädchen war wenig Verlaß. Da lief Harda alle Vormittage hinüber, ſah nach dem Rechten und badete das Kleine, nachdem ſie die eigne umfangreiche Wirtſchaft kontrolliert hatte. Nun endlich hoffte ſie eine Stunde für ſich zu haben. Denn ſeit der Abreiſe des Vaters war ſie noch weniger zur Ruhe gekommen als ſonſt.
Kern war nicht, wie er ſich vorgenommen hatte, in der zweiten Nacht nach ſeiner Abreiſe zurückgekehrt. Er hatte von Berlin aus durchs Telephon gemeldet, daß er noch einige Tage bleiben müſſe. Das war Freitag. Am Sonntag kamen von Hamburg ausführliche Inſtruktionen an die Werke und die Nachricht, daß er noch in Hamburg und dann in Hildenführ zu tun habe; er hoffe aber beſtimmt, am Mittwoch wieder in Wiesberg einzutreffen. Das war heute. Inzwiſchen gab es fortwährend Beſuche, geſellſchaftliche Verpflichtungen, Fürſorgen in den gemeinnützigen Einrichtungen der Fabrik. Am meiſten aber machte ihr Tante Minna zu ſchaffen, die um ſo nervöſer wurde, je länger Kern ausblieb. Da hatte Harda ſtets zu beruhigen und den Vater zu verteidigen. Wenn ſie darauf rechnete, ſich einmal zu ihren Büchern zu ſetzen oder Briefe zu ſchreiben, da ließ ſie gewiß die Tante herunterbitten, die in ihrer unglücklichen Stimmung das Bedürfnis fühlte, ſich von ihr tröſten zu laſſen.
Harda trat vor ihren Schreibtiſch. Durch das große Fenſter zu ihrer Linken überblickte ſie dann einen Teil des Weges, der vom Gartentor nach der Villa führte, und darüber hinaus ein anmutiges Stück der Landſchaft. An der Seitenwand zur Rechten ſtand ein Diwan und in der Ecke zwiſchen dieſem und dem Schreibtiſch ein Korbgeſtell, das dicht mit dunkelgrünem Efeu überzogen war. Das war Kitto, der Ableger von Ebah unter der Buche am Rieſengrab. Vor dieſem Hintergrund, noch mit anderen Pflanzen umgeben, hob ſich wirkungsvoll die Porträtbüſte von Geo Solves ab. Unter dem Schutze des Efeus hatte Harda auch einen Ableger des Sterntaus aufgezogen, der einige der ſchönen blauen Blümchen, oder, wie ſie jetzt ſagte, einige Sporenträger entwickelt hatte.
Die ſeltſame neue Pflanze beſaß für Harda außer dem äſthetiſchen Gefallen, das ſie daran hatte, das perſönliche Intereſſe des eigenſten Beſitzes. Es war etwas, wovon niemand in der Welt etwas wußte und was ihr ganz allein gehörte, wie ihre geheimſten und liebſten Gedanken, und damit hatte ſie auch den Sternentau verknüpft. Und nun war ihr das Geheimnis geſtört worden! Aber der lange Doktor war ein artiger und beſcheidner Mann. Sie hatte den Eindruck, daß ſie ihm vertrauen könne. Und ſo fühlte ſie ſich eigentlich nicht geſtört in ihrem Beſitze, ſondern die Pflanze hatte ein neues Intereſſe für ſie gewonnen durch die Aufklärung, die ihr Eynitz über die Eigentümlichkeiten des Sternentaus gegeben hatte. Was ſie an botaniſchen Lehrbüchern und Nachſchlagwerken beſaß, hatte ſie ſchon hervorgeſucht, es war freilich nicht viel und konnte ihr nur geringe Anleitung zum Studium der Pflanze geben. Sie hatte, wenn auch mit ſchwerem Herzen, eines der Blümchen geopfert, um es zu zerſchneiden und mit der Lupe, die ſie noch vom naturwiſſenſchaftlichen Unterricht im Realgymnaſium her beſaß, die Struktur des Sporangiums zu ſtudieren. Aber ſie konnte nichts damit erreichen. Und ſie hatte ja auch keine Ruhe — auch nicht zum Leſen — heute früh war ſie wieder mitten in dem ſchwierigen Kapitel über den Generationswechſel der Mooſe unterbrochen worden.
Sie nahm das Buch in die Hand, als ihr einfiel, noch einmal nach ihren Pflanzen zu ſehen. Denn ſie hatte bemerkt, daß die Blümchen des Sternentaus ſich in den letzten Tagen zu verändern anfingen, indem ſie ſich weiter öffneten und die weißen Fäden ſich ſtärker entwickelten. Beſonders das eine hatte geſtern am Tage den Eindruck gemacht, als ob die Fäden ſich geradezu wie ein Büſchel herausdrängten. Als ſie die Blätter des Efeus auseinanderbog, fand ſie zu ihrem Schrecken ſtatt ihrer fünf Sporenbecher nur noch vier vor. Das Blümchen mit der vorgeſchrittenen Entwicklung hing mit vertrockneter Hülle herab. Von den ſilberglänzenden Fäden aber war jede Spur verſchwunden. Vergeblich ſuchte Harda unter dem Efeu nach dem fehlenden Inhalt der Kapſel. Sie ſagte ſich, das alles müßte ſich wohl in unſichtbar kleine Sporen aufgelöſt haben. Aber vielleicht würden doch noch Reſte davon in der Hülle oder an den Blättern in der Nähe zu entdecken ſein. Wenn ſie nur ein Mikroſkop hätte!
Mußte ſie nicht Eynitz benachrichtigen? Aber wie? Er war weder an dem Abend gekommen, wozu ſie ihn eingeladen hatte, noch hatte er ſich ſonſt ſehen laſſen. Ihm telephonieren oder ſchreiben? Das wollte ihr nicht gefallen. Sie mußte ſchon warten, bis er ſich ſelbſt meldete, dann würde ſie ihm ihre Beobachtungen mitteilen. Vielleicht war es auch gar nicht ſo wichtig.
Aber hübſch wäre es doch, wenn ſie ſelbſt etwas finden könnte. Und — — warum war ihr das noch nicht eingefallen — drüben im Laboratorium hatten ſie ja mehrere gute Mikroſkope, da konnte ſie ſich eines entleihen. Freilich, der Vater hatte es nicht gern, wenn ſie ſich dort etwas holte, aber der war ja nicht da, die Herren würden es ihr nicht abſchlagen, und bis zum Abend — eher kam der Vater keinesfalls — da hatte ſie das Inſtrument wieder hinübergeſchickt. Mit den feinen Methoden, mit Präparieren, Färben und ſo weiter bei ſtarken Vergrößerungen, damit wußte ſie nicht Beſcheid, darauf konnte und wollte ſie ſich ja auch nicht einlaſſen. Aber einen einfachen Schnitt machen, unter das Deckgläschen bringen und einſtellen, das hatte ſie gelernt — vielleicht reichte das aus — jedenfalls wollte ſie es probieren.
Alſo ſchnell den Sonnenſchirm genommen und hinüber! Schon war ſie aus dem Hauſe.
„Nein, nein, Diana! Du bleibſt hier!“ Der große Hund ging gekränkt nach ſeinem Platze zurück.
„Fräulein, Fräulein!“ rief eine rundliche Frau aus der Waſchküche. „Sind denn das hier die Sachen, die noch zurückbleiben ſollen?“
Harda lief hin und ſah in den Korb. „Ja, ja! Ich komme übrigens gleich wieder.“
Das Laboratorium lag in dem älteren Teile der Fabrik. Sie mußte an den Kreisſägen vorüber, die in voller Arbeit heulten. Es war ein hölliſcher Lärm, aber ſie konnte nicht vorbei, ohne einen Augenblick zuzuſehen. Wenn das Kreiſchen nicht geweſen wäre, wie ein kurzer Schmerzensſchrei der ſterbenden Baumſtämme, man hätte geglaubt, nur ein Spiel vor ſich zu ſehen. Denn die Rundhölzer glitten durch die Sägen ebenſo ſchnell hindurch wie vorher durch die bloße Luft und fielen in Stücke geſchnitten herab in die Transportwagen. Die blanken Sägeblätter aber rotierten ſo raſch, daß ſie ſtill zu ſtehen ſchienen. Es war wie ein Zauber.
Oben über dem Wagen ſtand ein Werkmeiſter. Er grüßte Harda und rief ihr etwas zu. Gerade heulten die Sägen auf, ſie konnte kein Wort verſtehen, aber ihr Blick folgte der Armbewegung des Mannes. Sie ſah gleich, was er meinte. Drüben aus dem Schornſtein des neuen Maſchinenhauſes kam Rauch.
„Die neue Maſchine?“ ſchrie Harda.
„Ja wohl, Fräulein. Es wird wohl gleich losgehn“, ſchrie der Werkmeiſter.
Richtig! Faſt hatte ſie das vergeſſen! Der Vater hatte ja angeordnet, daß man nicht auf ihn warten ſollte. Die neue zwölfhundertpferdige Dampfmaſchine war montiert, heute ſollte ſie probeweiſe in Betrieb geſetzt werden. Da mußte ſie dabei ſein.
Harda bog von der bisherigen Richtung ab und wandte ſich nach dem neuen Teil der Werke. Hier wurde noch viel gebaut, die Straßen waren zerfahren, trotz des ſchönen Sommertages waren die ſchmutzigen Spuren des geſtrigen Gewitterregens noch ſehr merklich. Vorſichtig wand ſich Harda zwiſchen Fuhrwerken und Sandhaufen, karrenden Arbeitern und Kalkgruben hindurch. Jetzt nur noch über einen aufgeweichten Platz, dann war ſie am neuen Maſchinenhaus.
Plötzlich ſchrak ſie zurück. Ein lauter Knall, darauf ein heftiges Ziſchen, Pfeifen, Geſchrei von Menſchen. Einen Augenblick ſtutzte alles, in der Erwartung, was noch geſchehen würde. Dann ſtürzten die in der Nähe Befindlichen herbei und drängten nach der Tür. Aber von innen trat ihnen ein Vorarbeiter entgegen und rief: „Niemand nötig! Niemand herein!“
Harda hatte ihre Kleider rückſichtslos zuſammengenommen und war durch den Schmutz des Platzes geſprungen.
„Ein Unglück paſſiert?“ rief ſie atemlos.
„Nicht ſchlimm. Ein Rohr geplatzt.“
„Jemand verletzt?“
„Der Blomann wird wohl was verbrüht ſein. Der dumme Kerl iſt ganz allein ſchuld, er muß doch wiſſen, welchen Hahn er nicht zudrehen darf. Es iſt ſchon nach dem Krankenwagen telephoniert, Fräulein.“
„Laſſen Sie mich hinein. Verbandzeug iſt doch drin?“
„Selbſtverſtändlich. Sie ſind ſchon beim Verbinden.“
Harda trat ein. Man brachte eben den Verwundeten in beſſere Lage. Der eine Arm war verbrüht, die Stirn blutete.
Harda wuſch vorſichtig das Blut von der Stirn. Der Mann öffnete die Augen und ſtöhnte. Dann ſagte er:
„Das mit der Stirn iſt nichts, ich bin nur angerannt, als ich im Schreck zurückſprang. Aber der Arm tut hölliſch weh.“
Harda legte einen Verband um die Stirn, während ein Werkführer den Ärmel vorſichtig aufſchnitt. Da rief der Arbeiter von draußen herein: „Hier kommt zufällig der Herr Doktor. Soll ich ihn vielleicht holen?“
Er wartete keine Antwort ab, ſondern lief hinaus.
Vorſichtig ſteckte Harda die Sicherheitsnadel in die Binde und richtete ſich dann auf. Sie nickte allen freundlich zu, wünſchte baldige Beſſerung und ging hinaus. Vor der Tür traf ſie auf Eynitz. Da hatte ſie ihn nun, aber jetzt war keine Zeit für Sternentau. Er zog den Hut. Einen Augenblick ſchien er in ſeinem eiligen Schritt zu zögern, aber er fragte nur:
„Iſt es ſchlimm?“
„Ich hoffe, nicht lebensgefährlich.“
Da war er auch ſchon in dem Raume verſchwunden.
Harda ging langſam am Maſchinenhauſe entlang. Sie überlegte. Sollte ſie nicht hier warten, bis Eynitz ſeine ärztlichen Anordnungen getroffen hatte? Dann war es doch natürlich, daß ſie ihn befragte, und daran hätte ſich dann das Übrige geknüpft. Sie drehte um und ging langſam zurück. Ehe ſie noch die Tür wieder erreicht hatte, ſah ſie den Maſchineningenieur heraustreten und ihr entgegenkommen. Er ſah beſtürzt aus.
„Wie ſteht es?“ fragte ſie.
Er zögerte mit der Antwort, er war offenbar ganz mit ſeinen Gedanken beſchäftigt.
„Mit dem Blomann?“ fragte ſie weiter.
„Ach, der kann von Glück ſagen, daß er ſo davon gekommen iſt,“ antwortete jetzt der Ingenieur. „Aber —“
„Aber?“ rief Harda erſchrocken, „die Maſchine?“
„Der Blomann iſt dran ſchuld, dreht den Hahn zu — Es war ein Waſſerſchlag. Alles konnte zum Teufel gehn. Das geplatzte Rohr hat nicht viel zu ſagen, aber —“
„Nun was denn?“
„Ach, gnädiges Fräulein, ich glaube, die Kolbenſtange iſt verbogen.“
„O weh!“
„Ja, das kann lange dauern, ehe wir das wieder erſetzen können. Und wir brauchen die Maſchine ſo nötig. Auch die zweite neue Maſchine iſt noch nicht da. Sie behaupten ja in Nikolai, daß ſie fertig ſei und verladen werde, aber wer weiß, ob das nicht eine Ausrede iſt. Und nun iſt Herr Direktor nicht hier, aus Hamburg iſt er ſchon abgereiſt — wenn ihn ein Telegramm unterwegs treffen könnte, würde er ſelbſt noch disponieren können, aber auch Herr Milke weiß keine weitere Adreſſe.“
Milke war der ſtellvertretende Direktor.
„Was wollen Sie telegraphieren?“ fragte Harda.
„Den Tatbeſtand. Ich glaube, dann würde Herr Kern ſofort ſelbſt nach Oberſchleſien fahren, und dann bekommen wir die Sachen gleich hierher. Ja, gnädiges Fräulein, ſie wiſſen ja, ſo iſt es immer geweſen. Wenn Ihr Herr Vater den Herren auf die Bude rückt, da iſt auf einmal alles fix und fertig.“
Harda lächelte. Dann verfinſterte ſich ihre Stirn, ſie dachte nach.
„Es iſt ſehr wichtig?“ fragte ſie noch einmal.
„Das ſehen Sie ſelbſt. Wir können Wochen verlieren, und ſo reichen vielleicht wenige Tage aus.“
„Dann, bitte, ſetzen Sie mir das Telegramm auf. Ich habe noch eine Adreſſe, allerdings nur für Privatangelegenheiten. Aber ich will es in dieſem Falle verantworten. Vielleicht erreicht ihn dort noch das Telegramm.“
Der Ingenieur verſchwand im Hauſe, und kam nach wenigen Minuten mit einem Blatt Papier zurück, das er Harda überreichte.
„Ich werde die Depeſche ſofort ſelbſt aufgeben,“ ſagte ſie. Denn ſie wollte die Adreſſe nicht mitteilen.
Als ſich der Ingenieur unter Dankſagungen entfernt hatte, blickte ſich Harda wieder um. Von dem Doktor war nichts zu ſehen. Länger durfte ſie nicht warten. Sie eilte nach dem Bureau, dort übermittelte ſie die Depeſche telephoniſch nach dem Telegraphenamt.
Jetzt gedachte ſie, ſich noch einmal nach dem Befinden des Verwundeten zu erkundigen, aber ſie war nicht weit gekommen, als ein Schreiber ſie einholte, der ihr eiligſt nachgeſchickt worden war. Eben hätte Fräulein Blattner aus der Villa herübergeſprochen und gefragt, ob Fräulein Kern vielleicht in der Fabrik ſei. Sie möchte ſo freundlich ſein und ſogleich nach Hauſe kommen, es hätten ſich Gäſte angemeldet.
Harda ſeufzte. Aber was wollte ſie tun? Sie konnte die Tante nicht im Stich laſſen. Alſo nach Hauſe.
Auf der Veranda erkannte ſie bald den Landrat von Spachtel in lebhaftem Geſpräch mit der Tante.
Der alte Herr ſprang auf und kam ihr entgegen.
„Ach, mein liebes gnädiges Fräulein,“ ſagte er unter vielem Händeſchütteln, „ich bin ganz unglücklich, daß ich die unſchuldige Urſache bin, wenn Sie in Ihrem Vergnügen geſtört worden ſind —“
„O bitte —“
„Doch, doch! Junge Damen ſind immer vergnügt; waren wir auch als junge Mädchen! Ha, ha! Na — ſehen Sie mal das Telegramm — ſagt ſich da ein alter Studienfreund bei mir an, Brunnhauſen, war früher Geheimer Regierungsrat, iſt jetzt Aufſichtsrat bei den Pechwerken in Hildenführ, A.-G. —“
Harda warf der Tante einen Blick zu.
„Ja, ja,“ fuhr der Landrat fort, „klingt bischen klebrig, was? Aber großartige Firma. Mein Freund fährt zufällig hier durch, war mit ſeiner Frau auf einer Erholungsreiſe, meldet ſich bei mir an, heute, zu Tiſch. Ja, und nun, meine Frau, gerade großes Reinemachen!“
„Aber lieber Herr Landrat,“ unterbrach ihn Minna, „das verſteht ſich doch ganz von ſelbſt. Sie ſind mit Ihrer lieben Frau bei uns zu Tiſch eingeladen, ganz einfach, in Familie, und da bringen Sie Ihre Gäſte mit, da iſt doch kein Wort weiter zu verlieren.“
„Nun ja, ich habe ja ſchon angenommen, aber daß ich nun Fräulein Harda inkommodieren ſoll —“
„Nicht doch,“ ſagte Harda. „Ich mußte ſo wie ſo jetzt einmal nach der Küche ſehen.“
„Bitte, daß Sie ja keine Umſtände machen!“
„Gar nicht,“ ſagte die Tante. „Nur eins dürfen wir zufügen, Herr Landrat, Ihre Lieblingsſpeiſe.“
„Doch nicht etwa Ihre berühmte Pfirſichtorte?“
„Selbſtverſtändlich, wird gemacht,“ rief Harda.
„Nein, meine Damen, Sie ſind zu liebenswürdig. Aber ich darf Sie nicht länger aufhalten, es geht auf zwölf Uhr. Um ein Uhr kommt der Zug, ich muß ſehen, daß ich noch einen Wagen bekomme, mein Freund kommt auf dem Oſtbahnhof an.“
„Sie nehmen natürlich unſern Wagen. Um halb eins iſt er vor Ihrer Tür. Oder am beſten, Sie warten hier noch ein Viertelſtündchen — Harda, du ſagſt es wohl einmal draußen —“
Spachtel machte abwehrende Bewegungen.
„Ich glaube, Tante“, ſagte Harda, „Heinrich wird heute Schwierigkeiten machen mit den Rappen — — Wiſſen Sie, Herr Landrat, wir ſchicken Ihnen das Automobil, da geht die ganze Sache ſchneller. Ich will's gleich beſtellen. Alſo auf Wiederſehen!“
Harda reichte ihm die Hand und eilte fort.
Man lebte in der Familie Kern ſehr einfach, beſonders wenn der Vater verreiſt war. Es waren alſo doch einige Anordnungen und plötzliche Änderungen im Küchenzettel notwendig. Sigi war mit dem Fräulein in die Stadt gefahren, um Beſorgungen zu erledigen, ſo mußte Harda ſelbſt Hand anlegen, und es war ein Uhr, ehe ſie an ihre Toilette denken konnte.
Als ſie herabkam, fand ſie Sigi bei der Tante in der Veranda. Sie hatten eben erſt von dem Unglücksfall in der Fabrik gehört. Minna erklärte, ſie wolle nach Tiſch ſelbſt nach dem Verwundeten ſehen. Dann ſagte ſie:
„Aber während die Gäſte da ſind, Kinder, wollen wir nicht davon reden. Dieſer plötzliche Beſuch bei Landrats iſt mir nicht recht geheuer. Der gute Spachtel tut ja freilich, als wäre er ganz überraſcht. Er wußte übrigens nicht, daß Hermann noch nicht zurück iſt.“
„Der Landrat iſt vielleicht auch harmlos, aber Brunnhauſen kommt ganz ſicher her, um zu kundſchaften, nur ſo im allgemeinen; denn er weiß gewiß, daß Vater noch nicht zurück ſein kann. Man wird ihm von Hildenführ telegraphiert haben, er möchte ſich einmal zufällig hier umſehen.“
„Wenn Vater nicht hier iſt, kommt er nicht in die Werke,“ bemerkte Sigi.
„Nein, das dürfen wir nicht ohne Vaters Erlaubnis zulaſſen,“ meinte Harda, „aber andererſeits müſſen wir ihn ſehr ſchonend behandeln. Deshalb wollte ich jetzt den Wagen nicht geben, da wir die Pferde nachmittags brauchen werden.“
„Da haſt du ganz recht, Harda,“ ſtimmte Minna bei. „Wir müſſen ihn beſchäftigen. Aber wir hätten ja auch nachmittags das Automobil nehmen können.“
„Das können wir immer noch, wenn du mitfahren willſt, Tante, oder Sigi.“
Beide wehrten ab.
„Ich dachte mir, daß Ihr keine Luſt haben würdet, deshalb brauchen wir eben den Wagen. Wenn Landrats und die Fremden darin ſitzen, ſo iſt er gefüllt und wir bedürfen keiner Entſchuldigung. Das wird bei Tiſch gleich feſtgemacht, um drei Uhr fährt der Wagen vor — ſie können ja nach der Wilhelmsburg fahren — und abends werden ſie doch bei Landrats ſein.“
„Abends reiſen ſie ſchon weiter,“ ſagte die Tante.
„Um ſo beſſer, ſo kommen wir hoffentlich über die Frage hinweg.“
„Redet nur nichts von Geſchäften,“ ſagte Sigi.
„Sei du nur möglichſt liebenswürdig,“ neckte Harda.
„Kennſt du mich anders?“ antwortete Sigi. „Aber bitte, für den Landrat gleich den ſchweren Rotwein. Dann fängt er an Geſchichten zu erzählen, und wir ſind entlaſtet.“
„Übrigens müſſen ſie jeden Augenblick kommen.“
„Gut prophezeit!“ rief Sigi. „Ich habe nämlich die Huppe gehört.“
Die beiden Mädchen ſprangen auf und liefen den Gäſten entgegen.