Nicht lange Zeit nach dem glänzend verlaufenen Waldfeſte der Erholungsgeſellſchaft war Sigi eines Tages unerwartet vor den Vater getreten und hatte ihn mit einem Geſtändnis überraſcht. Unter Küſſen und Tränen erklärte ſie ihm, daß ſie und Konrad Tielen ſich liebten und daß ſie ſich unbedingt heiraten würden. Vergeblich ſetzte ihr Kern auseinander, warum das nicht anginge; daran könnten ſie vor vielen Jahren nicht denken, denn der Leutnant hatte nichts, und er ſelbſt ſei durchaus nicht in der Lage, das nötige Vermögen herzugeben. Sigi blieb bei ihrem Vorſatz. Dann würden ſie eben warten. Und außerdem, behauptete ſie in ihrer entſchiedenen Weiſe, hätte der Vater neulich ſelbſt erklärt, daß er bei dem Aufſchwung, den die Hellbornwerke infolge der Reſinitfabrikation nähmen, vorausſichtlich in drei Jahren ein reicher Mann ſein werde. Das müſſe man abwarten, meinte der Vater.
Nun gab es lange Familienkonferenzen mit Harda und der Tante, zu denen auch Hardas Bräutigam zugezogen wurde. Dieſe führten wieder dazu, daß zwiſchen Kern und Minna vertrauliche Ausſprachen ſtattfanden.
Seit der definitiven Erledigung der Breslauer Angelegenheit, die zeitlich mit Hardas Verlobung zuſammenfiel, war in Minnas Geſundheitszuſtand eine erfreuliche Beſſerung eingetreten. Sie war ruhiger und gleichmäßiger geworden, ihre natürliche Liebenswürdigkeit wurde nicht mehr durch plötzliche Verſtimmung unterbrochen, ihr ganzes Weſen verjüngte ſich. Harda ſtand jetzt ausgezeichnet mit ihr, zumal ſeit feſtgeſetzt war, daß Hardas Vermählung mit Eynitz im Herbſt ſchon ſtattfinden ſolle. Es hatte ſich durch Kerns und Solves' Verbindungen Gelegenheit geboten, daß Eynitz in der Hauptſtadt der Provinz, die zugleich Univerſitätsſtadt war, eine ſehr günſtige Stellung übernehmen konnte.
Schließlich kam es zu einem wohlüberlegten Entſchluſſe, der für alle Beteiligten eine glückliche Löſung verſprach. Kern und Minna einigten ſich endgültig, ihre Verbindung zu vollziehen. Wenn die Töchter nicht mehr im Hauſe waren, ſo fielen alle die übrigen Rückſichten fort, die Kern bisher in dieſer Beziehung zurückgehalten hatten.
Sigi und Tielen ſahen ein, daß es berechtigt war, wenn der Vater von den jungen Leuten noch eine Probezeit für ihre Liebe verlangte, ehe ihre Verlobung öffentlich anerkannt wurde. Zunächſt verließ Sigi mit Minna zuſammen das Haus und begleitete die Tante in ein Bad, wo dieſe bis zum Herbſt lediglich ihrer Erholung lebte. Im September reiſte dann, nachdem alle Vorbereitungen getroffen waren, Kern von Harda begleitet nach dem Aufenthaltsorte Minnas, und ſeine Vermählung mit ihr wurde in aller Stille vollzogen. Hierauf kehrte Harda mit Sigi nach Hauſe zurück, und nach einer Woche etwa wollten die Eltern nachkommen, um Hardas Hochzeit in Wiesberg zu feiern, wozu in der Fabrik ſchon die eifrigſten Vorbereitungen ſtattfanden.
Leichte Herbſtnebel liegen über Park und Wald. Vom Gebirge ſind ſie herabgeſunken, immer tiefer und tiefer ins Tal. Der Waldrand ſchimmert zwiſchen den dunkeln Fichten in bunten Farben der Laubbäume, noch ruht ein geheimnisvoller Schleier darüber. Aber mehr und mehr hellt er ſich auf, wie die ſteigende Sonne die Nebel über der Wieſe verzehrt. Dort, vor dem Walde, flammt ein noch vollbelaubter Ahorn mit ſeiner gelben Krone wie leuchtendes Gold, ein Freudenfeuer der Siegerin Sonne.
Da rollt der Wagen in raſcher Fahrt vom Bahnhofe durchs Gartentor auf die Villa Kern zu. Das Fräulein und die Köchin ſtehen vor der Tür und winken mit Tüchern, der alte Gelimer grinſt vergnüglich und verbirgt ſeine Flaſche ſorgfältig in der Taſche. In Freudenſprüngen umkreiſt Diana den Wagen, aus dem Harda und Sigi herabſpringen. Mit dem Frühzug waren ſie in Wiesberg angelangt.
Am Nachmittag ſtieg Harda den Weg zur Buche am Rieſengrab empor. Sie ſetzte ſich auf die Bank. Heute brauchte ſie keine Störung durch die Idonen zu fürchten. Freilich, auch keiner mehr vermittelte ihr die Rede des Efeus.
Ob er wohl nun blühen mochte?
Da oben hinauf in die Krone der Buche reichen ihre Blicke nicht.
Aber der Wald ſpricht jetzt noch ganz anders zu ihr als vor der Ankunft der Elfen. Harda kann ihnen nicht zürnen, daß ſie feindlich geweſen waren, hatten ſie ſich doch nur ſelbſt verteidigt. Ja, ſie waren holde Weſen, die Boten einer lichten Welt, wo die Freiheit wohnt. Dieſe Freiheit hatte ſie nun auch ſelbſt gefunden mitten im haſtenden Treiben der Menſchheit, die ſich ihr verlorenes Erbe in rüſtiger Arbeit erkämpft, die wieder mitfühlen will mit der heiligen Mutter Natur, wieder mitleben in ihrer großen Einheit. Überall begegnet ihr der Gruß der Genoſſen, die ſich in immer höheren und reiferen Formen heraufringen zum gleichen Verſtändnis. Und leiſe ſagt ſie ſich die Worte des Dichters:
„Du führſt die Reihe der Lebendigen
Vor mir vorbei und lehrſt mich meine Brüder
Im ſtillen Buſch, in Luft und Waſſer kennen.“
Hoch oben aber im Buchengipfel rührt der Efeu zärtlich an die Zweige und flüſtert in ſeiner Sprache:
„Schattende, ich blühe, blühe!“
Es waren nicht mehr die breiten, fünflappigen, tief ausgebuchteten Blätter, ſondern eine längliche Eiform hatten die Blätter des Lichttriebs angenommen, die ſich hier zum freien Lichte ſtreckten. Zwiſchen ihnen ſproßten in Dolden grüne Sternchen hervor, die Blüten des Efeus. Und eine Weſpe flog eilig im Sonnenſchein und trug die Boten der Liebe von Blüte zu Blüte.
„Schattende, ich blühe, und die Weſpe fliegt! Wie ein ſeliges Heil wächſt es in mir. Ich bin bei dir, ich bin mit euch allen, ich bin im Walde! Aber ich ganz allein bin noch einmal für mich, für mich ſelbſt. Ich bin die Welt, darin der Gott erwacht iſt; jetzt weiß ich es, denn ich blühe.“
Unten am Stamme der Buche erhebt ſich Harda. Ein Leuchten des Glückes verklärt ihr Auge. Sie löſt eine Ranke des Sternentaus vom Efeu und ſchlingt ſie in ihr Haar.