Hugo Bettauer: Die Stadt ohne Juden // Ein Roman von übermorgen 9. Abſchnitt Der letzte Jahrestag wurde für Wien zu einem Feſttag, wie ihn die luſtige und leichtſinnige Stadt noch nie erlebt hatte. Unter Aufbietung aller Verkehrsmittel, mit Hilfe von Lokomotiven, die aus den Nachbarſtaaten entliehen waren, bei Einſtellung jedes ſonſtigen Perſonen- und Güterverkehrs war es gelungen, an dieſem Tag in dreißig rieſigen Trains die letzten Juden fortzubringen. Vormittags fuhren die Direktoren und leitenden Funktionäre der Großbanken, mittags die jüdiſchen Journaliſten mit ihren Familien. Sie hatten bis zum letzten Augenblicke ausgeharrt, noch die Abendblätter waren von ihnen geſchrieben und redigiert worden, und erſt als die feuchten Blätter aus den Rotationsmaſchinen flogen, rückten die neuen Herren in die Redaktionsſtuben ein. Die Mehrzahl der Wiener Journaliſten hatte Engagements bei reichsdeutſchen und deutſchböhmiſchen Blättern gefunden, viele wanderten nach Amerika aus, einige wenige beſchloſſen, ſich anderen Berufen zuzuwenden. Der Herausgeber der großen „Weltpreſſe“ aber überſiedelte mit einem kleinen Stabe von Mitarbeitern nach London, um dort unter dem Titel „Im Exil“ eine deutſche Wochenſchrift, die ſich in erſter Linie mit Oeſterreich befaſſen ſollte, erſcheinen zu laſſen. Um ein Uhr mittags verkündeten Sirenentöne, daß der letzte Zug mit Juden Wien verlaſſen, um ſechs Uhr abends läuteten ſämtliche Kirchenglocken zum Zeichen, daß in ganz Oeſterreich kein Jude mehr weilte. In dieſem Augenblicke begann Wien ſein großes Befreiungsfeſt zu feiern. Von hunderttauſend Häuſergiebeln wurden die rot-weiß-roten Fahnen gehißt, Tücher in dieſen Farben ſchmückten alle Geſchäfte, Lampions vor allen Fenſtern wurden entzündet, und bei ſternenheller Froſtnacht zog eine Million Menſchen über den kniſternden Schnee, um ſich zu Zügen zu vereinigen. Männer, Frauen und Kinder trugen Lampions, Muſikkapellen marſchierten den einzelnen Bezirksgruppen voran, ein Jauchzen und Jubeln ertönte, und immer wieder zerriß der Ruf: „Es lebe das chriſtliche Wien“, die Luft! Treffpunkt aller Züge war das Rathaus. In feenhafter Pracht lag der ſchöne, gotiſche Bau Meiſter Schmidts da. Millionen elektriſcher Lichter ließen ihn wie eine einzige Flamme leuchten. Auf einer Tribüne ſpielten die unvergleichlichen Wiener Philharmoniker, von Juden geſäubert und daher ein wenig reduziert, volkstümliche Weiſen, und der Wiener Männergeſangverein bot ſeine beſten Lieder dar. Die Volkshalle, der große Platz vor dem Rathaus, der Ring vom Schottentor bis zur Bellaria bildeten eine einzige Menſchenmauer, und um acht Uhr war es kein Rufen mehr, ſondern ein Heulen aus einer Million Kehlen, das immer wieder erdröhnte. Endlich kam der große Moment. Bürgermeiſter Karl Maria Laberl erſchien mit dem Bundeskanzler Doktor Schwertfeger auf dem Balkon. Der Bundeskanzler ergriff zuerſt mit machtvoller Stimme, die ſich bis jenſeits des Ringes Gehör verſchaffte, das Wort. Er ſprach kurz, trocken, aber um ſo wirkungsvoller: „Mitbürger, ein ungeheures Werk iſt vollendet! Alles das, was in ſeinem innerſten Weſen nicht öſterreichiſch iſt, hat die Grenzen unſeres kleinen, aber ſchönen Vaterlandes verlaſſen! Wir ſind nun allein unter uns, eine einzige Familie, wir ſind fürderhin auf uns und unſere Eigenart geſtellt, mit eigener Kraft werden wir unſer geſäubertes Haus friſch beſtellen, morſche Mauern ſtützen, geborſtene Pfeiler aufbauen. Wiener und Brüder aus dem ganzen Bundesſtaat! Wir feiern heute ein Feſt, wie es noch nie gefeiert wurde. Morgen beginnt ein neues Jahr und für uns alle ein neues Leben. Morgen dürfen wir noch ruhen und uns beſchaulich beſinnen. Dann aber müſſen wir arbeiten, wie wir noch nie gearbeitet haben. Unſer ganzes Können müſſen wir unſerem Vaterlande widmen, jede Stunde muß genützt werden. Wir werden der ganzen Welt zeigen müſſen, daß Oeſterreich auch ohne Juden leben kann, ja daß wir eben deshalb geſunden, weil wir das Fremde aus unſerem Blutkreislauf entfernt haben. Mitbürger, ſchwört es mir in dieſer feierlichen Stunde in die Hand, daß wir alle nicht mehr ſchwelgend in den Tag hineinleben wollen, ſondern arbeiten, arbeiten und nichts als arbeiten, bis uns die Früchte unſerer Arbeit erblüht ſind.“ Und der Ruf: „Wir ſchwören es!“ brauſte auf, fremde Menſchen ſchüttelten einander die Hände, Männer und Frauen ſanken einander weinend und lachend in die Arme, die neue Volkshymne wurde intoniert und mitgeſungen und dann erklang ohne Verabredung und doch wie aus einem Munde das „Hoch unſer Doktor Schwertfeger, der Befreier Oeſterreichs!“ Als ſich der Jubel und Tumult ein wenig gelegt hatte, kam endlich auch Bürgermeiſter Herr Karl Maria Laberl zum Wort. Er begann ſeine Anſprache mit den Worten: „Meine lieben Chriſten!_—_—“ Aber viel mehr vernahm die Menge nicht, denn dem warmen Föhn, der ſeit Minuten durch die vorher noch ſo kalte Nacht fegte, folgte in dieſem Augenblick ein Regenguß, und ſchreiend, kreiſchend zerſtreute ſich die Menſchenmaſſe, um durch ein Meer von Kot und zerfloſſenem Schnee zu den Straßenbahnen zu eilen. 10. Abſchnitt