Weihnachtsabend im Hauſe des Hofrates Franz Spineder. Weit draußen in Grinzing, außerhalb der Endſtation der Straßenbahn, lag das kleine, gelbe Backſteinhäuschen, das der Hofrat noch von ſeinem Großvater ererbt hatte. Von außen ſah das einſtöckige Haus mit dem großen grün geſtrichenen Holztor und den grünen Jalouſien faſt primitiv aus, aber wenn man das Tor öffnete und in den Hof mit dem altertümlichen Ziehbrunnen trat, blieb man überraſcht und entzückt ſtehen. Der Hof ging in einen ſanft anſteigenden Garten über, der ſchier endlos war. Im Sommer leuchteten die Levkojen, Tulpen, Roſen und Nelken in ſüdlicher Pracht, hinter dem Ziergarten kamen Hunderte von Bäumen, die unter der Laſt der Aepfel, Birnen, Aprikoſen, Pflaumen und Kirſchen ſich tief zur Erde beugten, und wenn man auch die Obſtbäume hinter ſich hatte, ſo war man noch immer nicht am Ende des Gartens, ſondern ging ſteil durch einen Weinberg, um endlich ganz oben auf ein altwieneriſches Luſthäuschen mit bunten Scheiben zu ſtoßen.
Köſtlich wie der unvermutete Garten war auch die Einrichtung der Wohnzimmer. Uralte, behagliche, ſteife und graziöſe Möbel aus der Barock-, Kongreß- und Biedermeierzeit, koſtbare Stiche und Bilder an den Wänden, zwei echte Waldmüller, ein Schwind im Salon, bunte, ſchöne Gläſer, Altwiener Porzellan, funkelndes Silbergerät in den Vitrinen und Kredenzen, und man brauchte nur die Augen zu ſchließen, um die Männer und Frauen im Koſtüm der Maria Thereſianiſchen Zeit und Biedermeierrock vor ſich zu ſehen.
Franz Spineder war Beamter, wie es ſein Vater und ſein Großvater geweſen, aber er war auf den Gehalt eines Hofrates im Unterrichtsminiſterium nicht angewieſen, ſondern recht vermögend, und ſchon das Haus mit dem rieſigen Garten und der koſtbaren Einrichtung repräſentierte heute einen nach vielen Millionen zählenden Wert. Außerdem aber war ſeine Frau eine geborene Halbhuber, deren Urgroßväter ſchon als Gerber und Lederfabrikanten ſoliden Reichtum erworben hatten. Und da das Ehepaar Spineder nur mehr ein Kind, die jetzt knapp achtzehnjährige Lotte, beſaß, ſo konnte es inmitten der Wirrniſſe einer zerriſſenen Zeit und aller Teuerung zum Trotz ſein behagliches Leben führen.
Schweigend ſchmückten Lotte und Frau Spineder den Weihnachtsbaum, befeſtigten an den duftenden Zweigen die Schokoladekringel, Bonbons, Glaskugeln und Kerzen. Frau Spineder, noch immer eine hübſche, runde Frau, ſah die blonde, ſchlanke, auffallend ſchöne und liebreizende Tochter von der Seite an.
„Lotte, nun haſt du ſchon wieder Tränen in den Augen! Bedenk' doch, daß Papa heute wenigſtens fröhliche Geſichter ſehen will und mach' dem armen Leo das Herz nicht noch ſchwerer.“
Lotte ließ einen kleinen Rauchfangkehrer aus Schokolade fallen, daß ſein Kopf fortrollte, ſchlug die Hände vor das Geſicht, lehnte ſich an die Schulter der Mutter und begann bitterlich zu ſchluchzen.
„Mutter, mir bricht das Herz! Du wirſt ſehen, ich werde es nicht überleben, daß Leo in die Fremde fort muß! Mutter, laßt mich doch mit ihm ziehen!“
Frau Spineder, der ſelbſt das Waſſer in den Augen ſtand, ſtreichelte zärtlich das weiche, wie Gold leuchtende Haar der Tochter.
„Lotte, es geht nicht! Bedenk' doch, Papa iſt ſechzig und er hat, ſeit uns der unſelige Krieg den Sohn genommen, niemanden als dich. Du kannſt es ihm nicht zumuten, daß er dich in die ungewiſſe Zukunft ziehen läßt, ſo gern er ja auch den Leo hat. Schau nur, Leo wird nach Paris ziehen; bei der Entwertung der Krone könnten wir euch unmöglich mit Francs unterſtützen und ihr würdet vielleicht ins Elend kommen, ohne daß Papa helfen kann. Leo wird ſich allein ſchon durchſchlagen und ihr ſeid ja noch beide ſo jung, daß ihr auf andere, beſſere Zeiten warten könnt'. Still jetzt, der Vater kommt! Und es klingelt, der Leo wird auch ſchon da ſein.“
Herr Spineder, der jetzt eintrat, um die Kerzen anzuzünden, war der Typus des alten öſterreichiſchen Hofrates in ſeiner beſten Art. Muſik liebend und ausübend, voll innerlicher Kultur, gepflegt von außen und innen, ein Schönheitsſucher, Lebensfreund und Lebensbejaher, rechtlich, gewiſſenhaft, tolerant und dabei doch ein wenig beſchränkt, bedächtig und zögernd. Er trug auch jetzt noch den veralteten Kaiſerbart, weil er es unter ſeiner Würde hielt, dem Umſchwung der Verhältniſſe an ſeiner Perſon Konzeſſionen zu machen, er war Demokrat durch und durch, ein treuer Diener der Republik, aber das ſchöne Kaiſerbild von Angeli hing noch immer über ſeinem Schreibtiſch. Wie er jetzt eintrat, war der alte Herr mit den ſchlohweißen Haaren und den milden, graublauen Augen der echte Altöſterreicher, den man bald nur mehr aus Büchern kennen wird.
„Leo iſt draußen und kratzt ſich den Schnee von den Sohlen ab“, ſagte Hofrat Spineder, während er die Kerzen bedächtig anzündete. „Geht hinauf zu ihm, ich werde die Beſcherung machen und klingeln, wenn es ſo weit iſt.“
Frau Spineder ſah noch raſch in die Küche nach dem Karpfen, der Sachertorte und den Krapfen; Lotte hing aber ſchon am Halſe Leos und ſchluchzte wortlos an ſeiner Bruſt.
Leo Strakoſch, ſchlank, dunkelhaarig, glattraſiert, mit lebhaften braunen Augen, aus denen Klugheit und Humor blitzten, war um zehn Jahre älter als Lotte. Im letzten Kriegsjahre war er als Einjähriger eingerückt und im Felde hatte er den gleichaltrigen Rudolf Spineder, den Sohn des Hofrates, kennen und als Freund lieben und ſchätzen gelernt. In der letzten Piaveſchlacht hatte Rudolf einen Kopfſchuß bekommen und in den Armen des Freundes ſeine junge Seele ausgehaucht, nachdem er ihn gebeten, die Eltern und das Schweſterchen zu grüßen. So war Leo in das Haus des Hofrates gekommen, der arme Sohn eines kleinen Agenten, fühlte ſich in dem vornehm-bürgerlichen Milieu unendlich wohl, und als Lotte aus einem Kinde ein blühendes, ſchönes Mädchen wurde, ſtand es in ihm feſt: Dieſe oder keine! Lotte erwiderte die Liebe des lebhaften, geiſtvollen, begabten jungen Mannes von ganzem Herzen.
Hofrat Spineder ſah die Entwicklung dieſer Liebe und hatte nichts einzuwenden. Leo Strakoſch war Radierer, in jungen Jahren ſchon ganz außerordentlich erfolgreich, man begann ſich um ſeine Zeichnungen zu reißen, eine vor einem Jahr erſchienene Leo Strakoſch-Mappe erregte Aufſehen auch im Ausland, und der Hofrat wie ſeine Frau ſagten ſich mit Recht, daß ſie ihr Kind in keine beſſeren Hände würden geben können, als in die Leos, den ſie nach und nach liebten wie ihren eigenen Sohn. Daß Leo Jude war, focht den Hofrat nicht im mindeſten an. In ſeinem Hauſe verkehrten viele Muſiker, Literaten, Maler, die Mehrzahl von ihnen waren Juden, und der verſtorbene Rechtsanwalt Viktor Roſen war ſogar der intimſte Freund Spineders geweſen.
Als vor Jahresfriſt zuerſt in politiſchen Kreiſen von dem Plan des Führers der Chriſtlichſozialen, ein Antijudengeſetz durchzubringen, geraunt wurde, hatte Hofrat Spineder daran nicht glauben wollen und können. Und als er daran glauben mußte, war ſeine Empörung maßlos geweſen. Und noch größer ſein Schmerz über den Schickſalsſchlag, den die bevorſtehende Ausweiſung Leos für ſeine Tochter bedeutete. Den Gedanken aber, ſeine Lotte mit Leo ins Exil ziehen zu laſſen, wies er weit von ſich, die Liebe zu ſeinem einzigen Kind und der Egoismus des Alternden vereinigten ſich hier und machten ihn abſolut unerbittlich.