Hugo Bettauer: Die Stadt ohne Juden // Ein Roman von übermorgen 29. Abſchnitt Leo war von der Redaktion der „Arbeiter-Zeitung“ aus tatſächlich direkt nach Grinzing gefahren. Lotte, die ebenſo wie ihre Eltern von dem Verlauf der Parlamentsſitzung bereits unterrichtet war, erwartete ihren Bräutigam am offenen Fenſter im Parterregeſchoß. Und als das Auto vorgefahren war und Leo ſie erblickte, erſchien ihm der Weg durch den Hausflur zu weitläufig, mit einem Satz ſchwang er ſich auf das Fenſterbrett und ſchon hielten die beiden jungen Leute einander lachend und weinend umſchlungen. Da Leo aber trotz ſeiner turneriſchen Gewandtheit bei ſeinem abgekürzten Eintrittsverfahren eine Fenſterſcheibe eingeſchlagen hatte, was ein hörbares Klirren und Schmettern verurſachte, kamen der Hofrat und ſeine Gattin aus dem nebengelegenen Wohnzimmer beſtürzt herbei und blieben angeſichts ihrer Tochter, die von einem fremden, knebelbärtigen Herrn unaufhörlich abgeküßt wurde, überraſcht ſtehen. Bis der Hofrat ſo energiſch zu huſten begann, daß Lotte es vernahm und ſich blutrot aus den Armen des Geliebten befreite, um ihn ihren Eltern vorzuſtellen: „Papa, Mama, dies iſt mein Bräutigam, Henry Dufresne...!“ „[Recte] Leo Strakoſch“, lautete die Ergänzung und Leo warf ſich auch ſchon dem Hofrat und dann ſeiner zukünftigen Schwiegermutter in die Arme. Nachdem ſich die erſte Freude und Verwirrung gelegt, tat Herr Spineder das, was ein Hofrat in ſolcher Situation zu tun hatte. Er ſagte: „Nun, Kinder, erzählt mir einmal alles ordentlich der Reihe nach.“ Frau Spineder aber tat das, was jede andere ordentliche Hausfrau an ihrer Stelle getan hätte. Sie weinte, erklärte vor Aufregung nicht ſtehen und gehen zu können und lief nach der Küche, um für ein ordentliches Souper zu ſorgen. Die Unterhaltung zwiſchen dem Hofrat, Lotte und Leo ſpielte ſich indeſſen im Badezimmer ab, wo Leo ſich zuerſt mit einer Papierſchere den Knebelbart abſchnitt, um ſich dann zu raſieren und gleichzeitig zu erzählen. Und das war ſehr gut ſo, denn gerade als er raſiert und wieder ein ſchöner, glatter junger Mann war, ereignete ſich ganz Unerwartetes. Ein Automobil mit Herrn Habietnik, einem ſozialdemokratiſchen Nationalrat und einem bekehrten Gemeinderat fuhr vor und die Herren teilten Leo mit, daß er unbedingt mit ihnen zum Rathauſe fahren müſſe, um ſich der dort verſammelten Menſchenmenge zu zeigen und eine Anſprache des Bürgermeiſters zu erdulden. Sträuben nützte nichts, Leo mußte mit, aber Lotte, die die Garantie dafür übernahm, daß ſie rechtzeitig zum Abendeſſen zurück ſein würden, fuhr mit ihm. Bis zum Schottentor verlief die Fahrt ganz glatt, dann ſtellte ſich ein Hindernis ein. Die Menſchenmaſſen ſtanden hier ſo dicht aneinandergedrängt, daß das Auto nicht vorwärts kam. Worauf ſich der Gemeinderat hinausbeugte und in beſter Abſicht, wenn auch mit wenig Zartgefühl den Leuten zuſchrie: „Laßt's uns durch! Der Herr Leo Strakoſch, der erſte Jud, der wieder in Wien iſt, muß zum Rathaus!“ Dieſe Worte waren das Signal zu einem ſtürmiſchen Jubelſchrei, und das Auto konnte zwar nicht durch, ſondern mußte hier mit Lotte warten, aber Leo ſaß auch ſchon auf den Schultern zweier handfeſter Männer und wurde unter dem Jauchzen und Johlen und Hurra-Geſchrei der Maſſen zum Rathaus getragen. Das ſchöne Rathaus war wieder illuminiert, ſah wieder wie eine brennende Fackel aus und mühſam nur konnten ſich die Männer mit Leo auf den Schultern Bahn machen. Fanfarenklänge, Trompetentöne, der Bürgermeiſter von Wien, Herr Karl Maria Laberl, betrat den Balkon, ſtreckte ſegnend ſeine Arme aus und hielt eine zündende Anſprache, die mit den Worten begann: „Mein lieber Jude!_—_—“ {Ende.}