Hugo Bettauer: Die Stadt ohne Juden // Ein Roman von übermorgen 25. Abſchnitt Die Wahlen vollzogen ſich unter einer Beteiligung, wie ſie kaum jemals auf der Welt erlebt worden. Greiſe, Kranke, Lahme kamen zu den Urnen, und nachmittags, als die Wahllokale geſchloſſen wurden, wußte man, daß in Wien 99 Prozent der Wahlberechtigten ihre Bürgerpflicht getan. Dann begann im ganzen Lande die Zählung der Stimmen, die bis in die frühen Morgenſtunden währte, und vormittags verkündeten Extra-Ausgaben der „Arbeiter-Zeitung“ und der „Weltpreſſe“ das ſtaunenswerte Reſultat. Den Chriſtlichſozialen und Großdeutſchen waren nur die Landbewohner treu geblieben, Wien hatte faſt ausſchließlich die Kandidaten der Sozialiſten und der Bürgervereinigung gewählt, ebenſo die kleinen Städte und das öſterreichiſche Induſtriegebiet. Und ſo ſetzte ſich denn das neue Parlament folgendermaßen zuſammen: Siebzig Sozialdemokraten, ſechsunddreißig Mitglieder der Vereinigung der tätigen Bürger, dreißig Chriſtlichſoziale und vierundzwanzig Großdeutſche. Das ergab 106 Stimmen für die Aufhebung des Ausnahmsgeſetzes gegen die Juden, vierundfünfzig für die Aufrechterhaltung. Und damit ſchien der ſchöne Traum Leos, der freiſinnigen Bürger und Sozialdemokraten zerſtört, denn es fehlte ihnen genau eine Stimme zur Zweidrittelmajorität, ohne die eine Aenderung der Verfaſſung nicht vorgenommen werden konnte. Trotz ihrer vernichtenden Niederlage, trotz der Tatſache, daß die Regierung ſofort demiſſionieren und einer ſozialiſtiſch-demokratiſchen weichen mußte, jubelten die Antiſemiten, ſie veranſtalteten Kundgebungen unter der Parole „Die Juden bleiben draußen!“ Eine einzige Angſt beherrſchte die beſiegten Sieger: Die Mehrheit hatte verkündet, daß ſie ſchon in der zweiten Sitzung des neugewählten Hauſes, die in acht Tagen ſtattzufinden hatte, den Dringlichkeitsantrag auf Aufhebung des Judengeſetzes und Wiederherſtellung der Freizügigkeit für jedermann ſtellen würde. Wie nun, wenn ein Chriſtlichſozialer oder großdeutſcher Nationalrat der Sitzung fernbleiben würde? An ein beabſichtigtes Fernbleiben war nicht zu denken, aber ſchließlich konnte einer der Abgeordneten vom Lande krank werden oder einen Unfall erleiden und dieſer eine würde den Gegnern die Zweidrittelmajorität ſichern. Die unterlegenen Parteien ließen daher für ſämtliche gewählte Nationalräte aus ihrem Lager am Tage vor dem Zuſammentritt des Hauſes Extrazüge mit je einem begleitenden Arzt bereitſtellen. Auf dieſe Weiſe glaubten ſie ſich vor jedem verhängnisvollen Zwiſchenfall ſicher. Für Wien ſelbſt waren Vorſichtsmaßregeln nicht notwendig, denn in Wien war einzig und allein der Häuſeragent Herr Wenzel Krötzl von den Weinbauern und Wirten des neunzehnten Bezirkes, denen es in dem judenreinen Wien ſehr gut ging, gewählt worden. Seiner war man in jeder Beziehung ſicher und er erfreute ſich einer vorzüglichen Geſundheit. Dieſer Herr Krötzl bildete nun die einzige und letzte Hoffnung Leos, während Lotte unter der ſchweren Enttäuſchung faſt zuſammenbrach. Sie weinte den ganzen Tag, kaum daß ſie noch die Energie aufbrachte, täglich zu Leo zu eilen, der ſich vergebens bemühte, ihr Mut und Hoffnung einzuflößen. Hofrat Spineder, der ſelbſt durch den Fortbeſtand des Judengeſetzes ſchwer gekränkt und enttäuſcht wurde, kannte ſich in ſeiner Tochter nicht mehr aus und begann ernſtlich an ihrem Verſtand zu zweifeln. Sorgenvoll beſprach er ihr merkwürdiges Verhalten mit ſeiner Gattin. „Was ſoll das alles heißen? Hat Leo vergeſſen, verbringt halbe Tage mit einem neuen Verlobten, dieſem Franzoſen, den ich zu haſſen beginne, ohne ihn zu kennen, läßt ſich von ihm beſchenken, erklärt plötzlich, daß ſie am liebſten beide, den Leo und den Dufresne, nehmen würde, und nun, da Leo nicht zurückkommen kann, ſitzt ſie da und weint ſich die Augen aus dem Kopf. Ich glaube, das Mädel iſt übergeſchnappt!“ Frau Spineder ſeufzte tief. „Mein Lieber, ich kenne ſelbſt mein Kind nicht mehr und habe keine Ahnung, was in ſeinem Herzen vorgeht. Jedenfalls müſſen wir, wenn ſich zeigt, daß das Judengeſetz beſtehen bleibt, darauf dringen, dieſen Herrn Dufresne kennen zu lernen.“ Hofrat Spineder nickte. „Jawohl! Und ſollte ſich Lotte abermals weigern oder die Sache hinauszuſchieben verſuchen, ſo ſchicken wir ſie zu Tante Minna nach Klagenfurt!“ Leo überlegte Tag und Nacht und hatte ſchließlich einen feſten Plan gefaßt, einen Plan, der entſcheiden ſollte, ob er weiterhin mit offenem Viſier in Wien bleiben konnte oder zurück nach Paris mußte. Fiel das Geſetz nicht, ſo wurde ſeine Rückreiſe zwingende Notwendigkeit, da ſein Freund Henry Dufresne, deſſen Namen er führte, jetzt ſelbſt aus Südfrankreich wieder nach Paris überſiedeln wollte und von da an die Gefahr einer Aufdeckung ſeines verwegenen Spiels vorlag. 26. Abſchnitt