Der Faſching dieſes Jahres konnte die Laune der Wiener nicht verbeſſern. Grimmige Kälte, viel Schnee, ungeheizte Zimmer, weil der Meterzentner Kohle hunderttauſend Kronen koſtete, eine Pleite nach der anderen, der Zuſammenbruch eines großen Bankkonzerns, bei dem viele ihr Geld liegen hatten.
Die Bälle und Redouten ſtanden vollſtändig unter dem Zeichen des Dirndlkoſtüms. Da der Toilettenluxus fehlte, machte man aus der Not eine Tugend, veranſtaltete faſt nur Bauernbälle, ſo daß Wien eher einem „Kirtag“ glich als einer Großſtadt.
Dazu kam, daß Wien vollſtändig aufgehört hatte, eine Theaterſtadt zu ſein. Die erſten Kräfte der Staatsoper gaſtierten unaufhörlich im Ausland, die Philharmoniker abſolvierten eben eine Tournee in Südamerika, die Privattheater hatten ſich in Provinzſchmieren mit unzulänglicher Regie, minderen Kräften und veralteten Spielplänen verwandelt, von auswärts kamen längſt keine Konzertgäſte mehr, weil ihnen Wien die großen Gagen nicht zahlen konnte, Zeitungen waren neuerdings eingegangen, weil die Zahl der Leſer immer mehr abnahm und plötzlich ertönte wieder der Alarmruf: „Die Krone fällt!“
An den ausländiſchen Börſen fanden enorme Kronenabgaben ſtatt, ſo daß Zürich ſie bald nur mehr auf ein Dreißigtauſendſtel Centime bewertete. Demgemäß ſtiegen alle Preiſe und die Bevölkerung begann in Verzweiflung zu geraten. Als das Kilogramm Fett eine Viertelmillion Kronen koſtete, erſchien wieder das geheimnisvolle kleine Plakat des Bundes der wahrhaftigen Chriſten mit den Worten:
„Wie lange noch, Wiener, werdet Ihr dieſe Regierung dulden? Wann endlich wollt Ihr die Nationalverſammlung auseinandertreiben und Neuwahlen erzwingen?“
In den Morgenſtunden des nächſten Tages kam es zu Plünderungen auf den Märkten, die erbitterten Hausfrauen ſtürmten die Stände, verprügelten die Marktfrauen und bemächtigten ſich der Waren. In Favoriten nahm der Tumult einen revolutionären Charakter an, es mußte die Reichswehr aufgeboten werden, die ſich aber weigerte, gegen die Frauen vorzugehen.
In der Nationalverſammlung, die eben tagte, richteten nicht nur die Sozialdemokraten, ſondern auch einzelne Chriſtlichſoziale und Großdeutſche Interpellationen an die Regierung, in denen gefragt wurde, was man zu tun gedenke, um der verzweifelten Bevölkerung zu helfen. Die Sozialdemokraten ſtellten einen Dringlichkeitsantrag, die Regierung möge ſofort Neuwahlen ausſchreiben, damit das Volk ſelbſt entſcheiden könne, ob es bereit ſei, die herrſchenden Zuſtände noch länger zu dulden.
Totenbleich erhob ſich der Bundeskanzler zu einer Entgegnung:
„In dieſem Augenblick der allgemeinen Verwirrung Neuwahlen ausſchreiben, hieße das Geſchick des Landes den radikalen Elementen ausliefern und den Juden wieder Tor und Türe öffnen! Das ſtolzeſte und größte Werk, das die öſterreichiſche Legislatur jemals geſchaffen, würde zuſammenbrechen, weil wir nicht genug Geduld und Aufopferungsfähigkeit haben, um auszuhalten und die gegenwärtigen Schwierigkeiten zu überwinden. Ich weiß, daß das internationale Judentum am Werke iſt und ſicher arbeiten Agitatoren, von jüdiſchem Gelde beſtochen, daran —“
Die weiteren Worte des Kanzlers gingen in dem ungeheuren Tumult verloren, der nun folgte. Die Sozialdemokraten klopften mit den Pultdeckeln, die Galerie tobte und ſchrie, ſogar aus den Reihen der Geſinnungsgenoſſen kamen Zurufe, wie: „Haben Sie Beweiſe für Ihre Behauptungen?“
Um ſechs Uhr abends wurde noch immer über den Dringlichkeitsantrag der Sozialdemokraten geſprochen, die erſichtlicherweiſe alles taten, um die Sitzung in die Länge zu ziehen. Jeder Redner ſprach ſtundenlang; hatte der eine geendet, ſo meldete ſich ein anderer zum Wort, die meiſten Abgeordneten hörten längſt nicht mehr zu, ſondern ſtärkten ſich am Büfett, auch die Miniſterbank war leer geworden, nur Schwertfeger ſaß mit verſchränkten Armen ſtarr und düſter auf ſeinem Sitz.
Plötzlich kam neues Leben in das Haus. Das Gerücht verbreitete ſich, daß Arbeitermaſſen im Anzuge ſeien, gleich darauf hörte man aus weiter Ferne die Klänge des Arbeiterliedes, das Jauchzen und Toben erregter Menſchenmaſſen, bis plötzlich ein einziger Ruf von ungeheurer Stärke durch die geſchloſſenen Fenſter drang:
Nieder mit der Regierung! Fort mit der Nationalverſammlung! Wir wollen Neuwahlen!
Und ſchon umzingelten dichte Menſchenmaſſen mit ihren Fahnen und Standarten das Abgeordnetenhaus und immer neue Züge kamen an, die geſamte Arbeiterſchaft Groß-Wiens, die Angeſtellten und Beamten waren von den Fabriken und Werkſtätten, Bureaus und Aemtern in geſchloſſenen Gruppen anmarſchiert.
Schon donnerten mächtige Schläge gegen die Tore des Hauſes, die raſch geſchloſſen worden waren, ſchon praſſelte ein Steinhagel gegen die Fenſter, ſchon hatte ſich eine Deputation der Arbeiter gewaltſam Einlaß verſchafft. Ihr Führer, ein Eiſenarbeiter namens Stürmer, ein gewaltiger Kerl mit klugen Augen und rieſigem Schädel, ſtellte ſich mitten unter die Abgeordneten, die, von Panik ergriffen, wie die Schafe beim Gewitter einen geſchloſſenen Haufen bildeten, und erklärte kurz und bündig:
„Das Militär hält zu uns, die Jungmannſchaft unter den Poliziſten ebenfalls! Entweder die Regierung löſt innerhalb zehn Minuten das Haus auf und erklärt, daß ſofort Neuwahlen ausgeſchrieben werden, oder die Maſſen gehen mit Gewalt vor. Die Erbitterung der Leute kennt keine Grenzen, hinter den Arbeitern ſteht diesmal das Bürgertum, es handelt ſich um keine politiſche Angelegenheit, ſondern um Taten der Verzweiflung. Am wildeſten ſind die Frauen, hören Sie nur, wie ſie ſchreien, man möge das Parlament anzünden! Gibt die Regierung nicht nach, ſo können wir für nichts garantieren!“
Und es geſchah, was geſchehen mußte. Die Miniſter erklärten nach kurzer Beratung mit den chriſtlichſozialen und großdeutſchen Parteiführern, ſich dem Terror zu fügen, das Haus auflöſen und Neuwahlen ſofort ausſchreiben zu wollen. Der Bundeskanzler bot gleich ſeine Demiſſion an, aber ſeine Kollegen und die Parteigrößen beſchworen ihn, ſie in dieſem kritiſchen Augenblick nicht zu verlaſſen und ſo willigte er denn ein, die Zügel der Regierung noch bis zu den Wahlen in ſeinen Händen zu behalten.
Als dem erregten Volke Mitteilung von der Auflöſung der Nationalverſammlung gemacht wurde, löſte ſich die Spannung in ungeheuren Jubel auf und in der kommenden Nacht wurden die Weinvorräte Wiens ganz erheblich gelichtet.
Sogar der Franzoſe Henry Dufresne, der der denkwürdigen Sitzung auf der Galerie beigewohnt hatte, trank ſich allein in ſeinem Atelier einen ordentlichen Rauſch an. Am nächſten Morgen aber war er wieder friſch und munter, entwarf eine geniale Skizze, die das Titelbild des Warenhausromanes von Zola bilden ſollte und ſchwenkte Lotte, die vormittags ſchneebedeckt mit kalten roten Backen zu ihm kam, in ſeinen Armen durch die Luft.
Lotte war in ausgelaſſener Laune wie er, denn ihr Papa hatte nach der Lektüre der Morgenblätter ſehr ernſt geſagt:
„Mein Kind, ich ſehe ſchwere Konflikte für dich kommen! Wenn nicht alles trügt, ſo wird Leo Strakoſch bald die Möglichkeit haben, nach Wien zurückzukehren und dann wirſt du dich entſcheiden müſſen: Entweder er, den du ſo ſehr geliebt haſt und der mir ein willkommener Sohn wäre oder dieſer myſteriöſe Franzoſe, den wir noch immer nicht kennen gelernt haben!“
Als Lotte darauf lächelnd erwidert hatte, ſie würde am liebſten beide, Leo und den Franzoſen nehmen, da war Hofrat Spineder ernſtlich böſe geworden und hatte ſie für frivol und unmoraliſch erklärt. Sie mußte ihre ganze Verführungskunſt aufwenden, um ihn zu beſänftigen.
Und nun ſaß ſie auf dem Schoß ihres Geliebten und küßte Henry Dufresne und Leo Strakoſch in einer Perſon mit Feuereifer ab.