Hugo Bettauer: Die Stadt ohne Juden // Ein Roman von übermorgen 21. Abſchnitt Bei Spineders war der heilige Abend in der gewohnten patriarchaliſchen Weiſe gefeiert worden. Die Stimmung war aber nicht die beſte. Der Hofrat begann ernſtliche Sorgen materieller Art zu haben, die ihm die Entwertung ſeines Vermögens bereitete; Frau Spineder konnte ſich noch immer von dem Schrecken nicht erholen, den ihr die Tatſache eingejagt, daß ſie für den Weihnachtskarpfen fünfzigtauſend Kronen und für die Weihnachtsgans hunderttauſend hatte zahlen müſſen, und Lotte war unruhig, weil ſie ohne Nachricht von Leo war und doch gehofft hatte, daß er ſich irgendwie wenigſtens mit einem Glückwunſch melden würde. Gerade als mit Andacht der koſtbare Fiſch verzehrt wurde, läutete die Haustorglocke und das Stubenmädchen meldete, ein Mann ſei da, der dem gnädigen Fräulein etwas perſönlich zu überbringen habe. Lotte ſtürzte hinaus, und der in einen Pelz gehüllte Mann, der ihr etwas zu übergeben hatte, küßte ſie im dunklen Hausflur wie verrückt ab, um ihr dann ein winziges Päckchen in die Hand zu drücken und eilends wieder zu verſchwinden. Im Speiſezimmer wickelte Lotte das kleine Paket aus und entnahm einem Lederetui einen Ring mit einer köſtlichen, haſelnußgroßen Perle. „Ein Weihnachtsgeſchenk von Herrn Henry Dufresne“, ſagte Lotte, die purpurrot geworden war, und ein unendliches Glücksgefühl durchſtrömte ihr junges Herz, als ſie den Ring über den Finger zog. Der Herr Hofrat aber war betreten und erklärte kategoriſch: „Lotte, nun aber muß dieſer Herr Dufresne ſich uns doch endlich vorſtellen und um deine Hand anhalten. Denn ein ſolcher Ring, den man einem Mädchen ſchenkt, iſt einfach ein Verlobungsring.“ Lachend küßte Lotte ihren Vater. „Habt noch ein wenig Geduld! Leo — Henry ſagt, daß er ſehr bald zu euch kommen werde.“ Die Mama aber ſchüttelte wieder den Kopf und dachte: „Seltſame Zeiten, ſeltſame Jugend! Liebt einen, vergißt ihn und verwechſelt dann ſeinen Namen mit dem des Nachfolgers!“ Im Januar vereinigten ſich mehrere große Konſumentenorganiſationen zu einer Maſſenverſammlung in der Volkshalle des Rathauſes unter der Deviſe: „Wir können nicht weiter!“ Zehntauſende von Menſchen waren der Einladung gefolgt und trotz der außerordentlichen Kälte ſtanden vor dem Rathaus ungeheure Menſchenmaſſen, die in der Volkshalle nicht mehr Platz gefunden hatten. Die Verſammlung bot ein merkwürdiges Bild. Leo Strakoſch, der ſich ebenfalls eingefunden hatte, konſtatierte, noch niemals ſo viele vollbärtige Männer geſehen und noch nie ſo viele Heilrufe gehört zu haben. Eine andere Staffage und man hätte an eine Tiroler Bauernverſammlung zur Zeit des Andreas Hofer denken können. Auch Weiblichkeit war maſſenhaft vertreten, aber wahrhaftig nicht die lieblichſte, die Wien aufzuweiſen hat. Unter allgemeinem Heil-Gebrüll eröffnete der Apotheker Doktor Njedeſtjenski die Verſammlung mit der Feſtſtellung, daß es ſo nicht weitergehen könne. Er vermied es ſorgfältig, die Notlage und Teuerung mit der Judenausweiſung in Zuſammenhang zu bringen, ſondern gab ſich höchſt deutſchnational und behauptete, nur die Tatſache, daß Oeſterreich ſich nicht an Deutſchland anſchließen könne, ſei ſchuld an dem jammervollen Niedergang Wiens. Worauf ein Arbeiter unter ſchallender Heiterkeit dazwiſchen rief: „Wir können uns ja gar nicht mehr anſchließen, oder glauben Sie, daß die Deutſchen auch ſolche Trotteln wie wir ſind und ihre Juden hinausſchmeißen werden?“ Das brachte den Apotheker aus dem Konzept, er ſtammelte noch etwas von deutſcher Einheit und deutſchem Volksbewußtſein, ſchrie „Heil“ und gab den Rednern das Wort. Worauf faſt nur mehr über die Juden geſprochen wurde. Und zwar ſo, daß ein Unkundiger hätte glauben müſſen, Wien ſei die judenfreundlichſte Stadt der Welt. Als ein Weinhändler antiſemitiſche Töne anſchlug, wurde er direkt niedergeſchrieen und ein Zwiſchenruf: „Hätten wir lieber von den Juden gelernt, als ſie hinauszujagen!“ fand großen Beifall. Leo konnte ſich nicht länger beherrſchen. Mit bedenklichem Herzklopfen meldete er ſich bei dem Vorſitzenden zum Wort und beſtieg die Rednertribüne, während er dachte: Nun, Frechheit, ſteh' mir bei! Er tat, als würde er die deutſche Sprache nur unvollkommen beherrſchen, betonte immer wieder, daß er als Franzoſe eigentlich nicht befugt ſei, ſich in die Angelegenheiten Oeſterreichs zu miſchen, aber von Wohlwollen für dieſe unvergleichlich ſchöne und liebreizende Stadt, der ſchönſten nach oder mit Paris, erfüllt, doch nicht umhin könne, ſeiner Meinung Ausdruck zu geben. Worauf die anweſenden Vollbärte geſchmeichelt und die Frauen, von dem ſchlanken, hübſchen Mann trotz des Knebelbartes entzückt „Heil!“ ſchrieen. Und dann fuhr Leo mit franzöſiſchem Akzent fort: „Auch wir in Paris haben ſehr viele Juden, gute und ſchlechte, wertvolle und ſchädliche. Jedenfalls ſind viele darunter, die alle Hochachtung verdienen und dem Land von großem Nutzen ſind. Niemandem aber würde es bei uns einfallen, die Juden ausweiſen zu wollen, ſondern jeder verſucht, ihre guten Eigenſchaften auszunützen. Ich bin hier nicht zu Hauſe und kenne daher die Wiener Juden nicht ſo genau, kann aber ſagen, daß ich in Paris mit ſehr vielen aus Wien Ausgewieſenen verkehrt habe, die einen vortrefflichen Eindruck gemacht haben und ſicher ſehr bald gute Franzoſen ſein werden. Es iſt möglich, daß zwiſchen den öſterreichiſchen Chriſten und den Juden ein größerer Unterſchied iſt, als zwiſchen den leichtbeweglichen und temperamentvollen Franzoſen und den Juden. Aber gerade deshalb müßte doch eine gute Ergänzung möglich ſein. Ich höre, daß man den Juden hierzulande den Vorwurf gemacht hat, das Kapital zu beherrſchen und relativ mehr Geld zu beſitzen als die chriſtlichen Bürger. Ja, meine Verehrten, daraus geht doch nur hervor, daß ſie raſcher im Denken und Handeln ſind, und eine kluge Regierung müßte ſolche Eigenſchaften für die Allgemeinheit zu benutzen verſtehen.“ Stürmiſche Zurufe von allen Seiten: „Jawohl, eine geſcheite Regierung, aber wir haben eben eine blöde! Recht hat er! Heil! Heil!“ „Meine Verehrten,“ ſagte Leo lächelnd, „ob einem die Juden ſympathiſch ſind oder nicht, iſt eigentlich gleichgültig. Der Sauerteig, der dem Brotmehl beigegeben wird, ſchmeckt an ſich recht abſcheulich und doch kann ohne ihn kein Brot gemacht werden. So müßte man auch die Juden betrachten. Sauerteig, an ſich wenig erfreulich und in zu großen Quantitäten ſchädlich, aber in der richtigen Miſchung unentbehrlich für das tägliche Brot. Und ich glaube, daß Ihr Brot ſitzen bleibt, weil ihm der Sauerteig fehlt! Nun heißt es aber nicht räſonieren und das, was geſchehen iſt, beklagen, ſondern zuſehen, wie Abhilfe geſchaffen werden kann. Wie das in Oeſterreich möglich ſein wird, weiß ich nicht. In Frankreich würde in ſolchem Falle die Bevölkerung auf Neuwahlen dringen, die zeigen müßten, ob das Volk mit den herrſchenden Zuſtänden zufrieden iſt oder ſie ändern will!“ Damit trat Leo ab, um raſch in der Menge zu verſchwinden. Der Verſammlung hatte ſich eine ungeheure Aufregung bemächtigt. Wie ein Funke in ein Dynamitfaß, ſo hatte das Wort „Neuwahlen“ in die Menſchenmaſſen eingeſchlagen, die rieſige Halle erdröhnte von dieſem aus dreißigtauſend Kehlen geſchrieenen Wort, das ſich auf die Straße fortpflanzte und zum Schlagwort der kommenden Zeit wurde. Am folgenden Tage fand in der Redaktion der „Arbeiter-Zeitung“ eine Konferenz der Hauptredakteure und der Vertrauensmänner der Partei ſtatt, in der zum erſtenmal ſeit Jahren wieder beſchloſſen wurde, aktive, energiſche Politik zu machen und mit dieſer Politik aus den geſchloſſenen Räumen auf die Straße zu gehen. Der Chefredakteur der „Arbeiter-Zeitung“, der ehemalige Federnſchmücker Wunderlich, der nach beſtem Gewiſſen das Erbe Viktor Adlers verwaltete, kam zu folgender Konkluſion: „Wir müſſen das Schlagwort dieſes merkwürdigen franzöſiſchen Malers, der unmöglich Diefreß heißen kann, wie ihn der Trottel von Vorſitzenden niedergeſchrieben hat, aufgreifen. Von heute an werden wir in unſeren Blättern, in unſeren Verſammlungen und Beratungen immer wieder Neuwahlen fordern. Und nun werden wir unſere Freunde in Frankreich, Holland, der Tſchechoslowakei, in England und Amerika in Aktion ſetzen und ſie veranlaſſen, alles zu tun, damit große Kronenbeträge auf den Markt geworfen werden. Fällt die Krone neuerdings empfindlich, ſteigt die Teuerung, die derzeit ſtagniert, wieder an, ſo iſt die Lage reif für uns und wir werden, wenn es ſein muß, die Auflöſung der Nationalverſammlung mit Gewalt erzwingen.“ 22. Abſchnitt