Hugo Bettauer: Die Stadt ohne Juden // Ein Roman von übermorgen 13. Abſchnitt Der Frühlingsbeginn, der ſeit jeher als politiſch aufgeregte Zeit gegolten hat, brachte auch diesmal den Wienern unruhige Tage. Die Arbeitsloſigkeit griff erſchreckend um ſich, eine Fabrik nach der anderen ſtellte den Betrieb ein, aber auch die Konkurſe der Detailgeſchäfte häuften ſich und allenthalben gab es lärmende Kundgebungen, nicht nur der Arbeiter, für die der Staat halbwegs ſorgte, ſondern auch der entlaſſenen Kommis und Verkäuferinnen, Buchhalter und Tippmädels, bis in bewegter Miniſterratsſitzung beſchloſſen wurde, auch dieſen Kategorien für die Zeit ihrer Stellenloſigkeit Zuſchüſſe zu gewähren. Der Finanzminiſter hatte ſich mit Händen und Füßen dagegen geſträubt, der Kanzler, Doktor Schwertfeger, aber ſchließlich ſeinen Willen durchgeſetzt. Doktor Schwertfeger, der noch ſtarrer, knochiger, härter geworden war, erklärte, daß auch dieſe neue Belaſtung getragen werden müſſe. „Wir dürfen es nicht dazu kommen laſſen, daß eines Tages der Ausweiſung der Juden die Schuld an Not und Elend gegeben wird. Wir haben bis heute die „Arbeiter-Zeitung“, die jetzt zwar von Chriſten, aber doch noch im jüdiſchen Geiſte geſchrieben wird, bewegen können, jede Kritik des Antijuden-Geſetzes zu unterlaſſen. Erfüllen wir die Forderungen der Stellungsloſen im kaufmänniſchen Betriebe nicht, ſo wird ihr die Geduld reißen und ſie wird, ſchon um dieſe Leute in ihr Lager zu drängen, eine Polemik eröffnen, die verderblich werden kann, weil wir die Uebergangszeit von der Judenherrſchaft zur Befreiung noch nicht hinter uns haben.“ „Und unſere Krone?“ wandte der Finanzminiſter Profeſſor Trumm höhniſch ein. „Wir müſſen uns an unſere chriſtlichen Freunde im Auslande wenden und ihnen unſere Bedrängnis klar machen. Am beſten, Sie fahren gleich nach Paris und London.“ Trumm lachte laut auf. „Ganz vergeblich! Schon von der erſten Bittfahrt vor drei Monaten bin ich mit leeren Händen gekommen! Die Leute geben nichts mehr, haben ja ſogar ihre feſten Verſprechungen nicht ganz gehalten. Sie unterſchätzen den Einfluß unſerer früheren Konnationalen, der öſterreichiſchen Juden, die zum Teil heute in den ausländiſchen Banken ſitzen! Und abgeſehen davon, der chriſtliche Begeiſterungstaumel iſt vorbei und man ſteht wieder auf dem kalt-geſchäftlichen Standpunkt. Sogar Miſter Huxtable hat abgewinkt. Alſo meinethalben, bewilligen wir die Forderungen der ſtellenloſen kaufmänniſchen Angeſtellten! Aber ich waſche meine Hände in Unſchuld.“ Am nächſten Tag wurde der Kabinettsbeſchluß verlautbart, es trat wieder Ruhe ein, aber am zweitnächſten Tag fiel die Krone an der Züricher Börſe um dreißig Prozent. Und die „Neue Züricher Zeitung“ veröffentlichte einen Artikel, in dem ſie ziffernmäßig nachwies, daß Wien langſam aber ſicher aufhöre, irgendwelche Bedeutung für den mitteleuropäiſchen Handelsverkehr zu haben und der Rivalität Prags und Budapeſts unterliege. „In Ungarn iſt man nach dem Ende des Horthy-Regimes ebenſo ſchlau wie in Prag geweſen. Man hat gewiſſe Kategorien von anſtändigen Juden mit offenen Armen aus Wien aufgenommen und dadurch den Handel an ſich geriſſen. Die Einkäufer der ganzen Welt können, weil ſie zum großen Teil Juden ſind, ohnedies Wien nicht mehr beſuchen, ſie gehen nach Prag, Brünn und Budapeſt, in erſter Linie natürlich nach Berlin, das reißt die chriſtlichen Einkäufer mit, die öſterreichiſchen Erzeuger von Fertigfabrikaten, wie Ledergalanterie, Schuhe, Keramik und ſo weiter, müſſen, ſtatt die Einkäufer bei ſich zu empfangen, mit dem Muſterkoffer nach dem Ausland reiſen, kurzum, es werden trotz des beiſpiellos niedrigen Standes der Krone in Wien keine nennenswerten Geſchäfte gemacht. Damit hat naturgemäß in Wien auch das Schiebertum in Valuten ſein Ende erreicht, aber wie es ſcheint, auf Koſten des öſterreichiſchen Organismus. Der geniale Bundeskanzler Doktor Schwertfeger hat mit ſeinem Geſetz keine große, ſondern eine allzugroße Tat getan!“ Und wie zur Bekräftigung der Wahrheit dieſes Artikels begann ſich in Wien eine völlige Deroutierung des Bankenweſens einzuſtellen. Die ausländiſchen Konſortien, die die Wiener Großbanken übernommen hatten, ſahen ſich in ihren Hoffnungen bitter enttäuſcht. Ihr Umſatz wurde immer geringer, mit dem Fortgang der Juden hatte auch das Börſenſpiel einen beträchtlichen Rückgang aufzuweiſen, und die Banken waren genötigt, wenn ſie nicht mit Verluſt arbeiten wollten, eine der Tauſenden von Bankfilialen, mit denen Wien überfüllt war, nach der anderen aufzulaſſen. Vergebens legte die Organiſation der Bankbeamten dagegen Proteſt ein, daß ein Teil ihrer Mitglieder brotlos gemacht wurde. Die Banken ſteckten ſich hinter ihre Geſandtſchaften, es kam zu peinlichen diplomatiſchen Interventionen, die damit endeten, daß die öſterreichiſche Regierung, ſtatt ihre eigenen Beamten abzubauen, noch die ſtellenloſen Bankangeſtellten in ihren Dienſt nehmen mußte. Und die Krone fiel auf ein Tauſendſtel Centime. 14. Abſchnitt