Mark Twain: Die Abenteuer Tom Sawyers 4. Viertes Kapitel. Die Sonne ging über einer ruhigen Welt auf und ſchien über das Dorf wie ein Segensſpruch. Nach dem Frühſtück hielt Tante Polly Hausandacht. Sie begann mit einem aus den kräftigſten Bibelſtellen beſtehenden, mit ein bißchen eigenen Gedanken verbrämten Gebet. Und von dieſer Höhe aus gab ſie ein grimmiges Kapitel des moſaiſchen Geſetzes zum beſten — wie vom Sinai herab. Danach gürtete Tom, um dieſen Ausdruck zu gebrauchen, ſeine Lenden und machte ſich ans Werk, ſich ſeine Bibelverſe einzutrichtern. Sid hatte die natürlich ſchon am Tage vorher gelernt. Tom brachte es mit Aufbietung aller Energie auf fünf Verſe — die er aus der Bergpredigt gewählt hatte, da er keine kürzeren finden konnte. Nach einer halben Stunde hatte Tom eine unbeſtimmte, allgemeine Idee von ſeiner Lektion. Weiter kam er nicht, denn ſeine Gedanken ſpazierten durch das ganze Gebiet menſchlichen Denkens, und ſeine Finger hatten allerhand zerſtreuende Nebenbeſchäftigungen. Schließlich nahm Mary ſein Buch, um ihn zu überhören, und er machte krampfhafte Anſtrengungen, um ſeinen Weg durch den Nebel zu finden. „Selig ſind die — ä — ä — ä —“ „Die da arm ſind —“ „Ja — arm ſind; ſelig ſind, die da arm ſind — ä — ä — ä —“ „Im Geiſte —“ „Im Geiſte; ſelig ſind, die da arm ſind im Geiſte, denn ſie — ſie —“ „Ihrer —“ „Denn ihrer; ſelig ſind, die da arm ſind im Geiſte, denn ihrer — iſt das Himmelsreich!“ „Selig ſind, die da Leid tragen, denn ſie — ſie — ä — ä —“ „So — —“ „Denn ſie s — o —“ „S — o — l — l —?“ „Denn ſie ſoll —. Ach was, ich weiß nichts weiter!“ „Sollen —“ „Ach ſo: ſollen! Denn ſie ſollen — denn ſie ſollen — ä —ä — ſollen Leid tragen —, denn ſie ſollen — ä — ſollen — was? Warum ſagſt du mir's nicht. Mary! Sei doch nicht ſo eklig!“ „Ach, Tom, du armer, dickköpfiger Kerl, ich quäl' dich ja nicht. Das fällt mir gar nicht ein. Du mußt dich halt nochmal dahinter ſetzen. Nur nicht mutlos. Tom, du wirſt es ſchon zwingen — und wenn du's kannſt, Tom, geb ich dir ganz, ganz was Schönes! Na alſo, ſei ein braver Junge!“ „Meinetwegen. — Du, Mary, was iſt es denn?“ „Jetzt noch nicht, Tom. Wenn ich ſage, 's iſt was Schönes, dann iſt's was Schönes!“ „Da haſt du recht, Mary. Na alſo, ich werd's noch mal tun!“ Und er machte ſich nochmal darüber. Und unter dem doppelten Anſporn der Neugier und der Erwartung des Gewinnes machte er ſich mit ſolcher Vehemenz darüber, daß er einen ſchönen Erfolg hatte. Mary gab ihm ein nagelneues Taſchenmeſſer, zwölf und einen halben Pence mindeſtens im Wert; ein Schauer des Entzückens fuhr ihm durch die Glieder. Es iſt wahr, zum Schneiden war das Meſſer nicht gerade zu brauchen, aber es war ein echtes „Barlow“ und von unausſprechlicher Pracht; und wenn unter den Burſchen des „Wild-Weſt“ die Behauptung aufgeſtellt worden iſt, dieſes Meſſer trage ſeine Bezeichnung als „Waffe“ durchaus zu Unrecht, ſo iſt das eine koloſſale Lüge; ſo iſt's, mögen ſie ſagen, was ſie wollen. Tom verſuchte die Tiſchkante damit anzuſchneiden, und war eben in voller Tätigkeit, als man ihn abrief, um zur Sonntagsſchule Staat zu machen. Mary gab ihm einen Zinneimer und Seife, und er ging zur Tür hinaus und ſetzte den Eimer auf eine kleine Bank; dann tauchte er die Seife ins Waſſer und legte ſie daneben; krempelte ſich die Ärmel auf, ließ das Waſſer auslaufen, ging in die Küche zurück und begann hinter der Tür ſich das Geſicht mit dem Tuch eifrig abzutrocknen. Aber Mary entriß ihm das Tuch und ſagte: „Schämſt du dich nicht, Tom? Du ſollſt nicht immer ſo ſchlecht ſein. Ein bißchen Waſſer ſchadet dir wahrhaftig nicht.“ Tom war einen Augenblick in Verwirrung. Der Eimer wurde wieder gefüllt, und diesmal blieb er eine Weile darüber gebeugt ſtehen, Mut ſammelnd. Ein tiefer Seufzer — und los! Als er dann wieder in die Küche zurückkam, beide Augen geſchloſſen, und nach dem Tuch griff, tropften Schmutz und Waſſer von ſeinem Geſicht herunter — ein ehrenvolles Zeichen ſeines Mutes. Aber als er hinter dem Tuche wieder auftauchte, ſah er durchaus noch nicht einwandfrei aus; das reine Gebiet hörte an Mund und Ohren auf. Jenſeits dieſer Linie breitete ſich eine undurchdringlich ſchwarze Fläche bis in den Nacken aus. Mary nahm ihn jetzt in die Mache und als ſie mit ihm fertig war, ſah er wie ein tadelloſer Gentleman aus, fleckenlos und mit hübſchen Sonntagslocken in gleichmäßiger Verteilung. (Er ſelbſt haßte dieſe Locken von Herzen und verſuchte, ſie auf den Kopf niederzubürſten; denn er hielt Locken für weibiſch, und ſie erfüllten ſein Leben mit Bitterkeit.) Dann kam Mary mit einem Anzuge, den er während zweier Jahre nur an Sonntagen getragen hatte und der allgemein nur als die „anderen Kleider“ bezeichnet wurde — woraus man auf den Stand ſeiner Garderobe ſchließen kann. Das Mädchen ſchubſte ihn noch ein bißchen zurecht, nachdem er ſich ſelbſtändig angezogen hatte. Sie verlieh ihm einen gewiſſen (ganz ungewohnten) Schein von Zierlichkeit, zog den Hemdkragen herunter, bürſtete ihn ab und krönte ihn mit ſeinem farbigen Strohhut. So ſah er außerordentlich ſanftmütig und behaglich aus. Und er fühlte ſich auch ſo. Sein Widerwillen gegen ganze und ſaubere Kleider war unverwüſtlich. Er hoffte, Mary werde wenigſtens die Stiefel vergeſſen, aber dieſe Hoffnung wurde zunichte. Sie beſtrich ſie, wie es ſich gehört, mit Talg und brachte ſie ihm. Jetzt verlor er die Geduld und ſagte, er ſolle immer tun, was er nicht möchte. Aber Mary ſagte überredend: „Na, komm, Tom, ſei ein braver Burſche!“ So fuhr er brummend in ſeine Stiefel. Mary war bald fertig, und die drei Kinder gingen zur Sonntagsſchule, ein Ort, der Tom gründlich verhaßt war. Aber Sid und Mary gingen ſehr gern hin. Die Zeit der Sonntagsſchule war von neun bis halb zehn Uhr; dann kam der Gottesdienſt. Zwei der Kinder blieben ſtets mit Vergnügen zur Predigt da, das dritte blieb auch — ja, aber aus anderen Gründen. Die hochlehnigen, ſchmucken Kirchenſtühle konnten über dreihundert Perſonen faſſen; das Gebäude ſelbſt war klein, vollgeſtopft — mit einer Art fichtenem Kaſten als Turm darauf. An der Tür blieb Tom ein bißchen zurück und hielt einen ſonntäglich gekleideten Kameraden an: „Sag, Bill, haſt du ein gelbes Billett?“ „M — ja!“ „Was willſt du dafür haben?“ „Was willſt du geben?“ „Ein Stück Zuckerſtange und einen Angelhaken.“ „Zeig her.“ Tom zeigte ſeine Tauſchobjekte. Sie waren befriedigend, und das Geſchäft wurde gemacht. Dann erhandelte Tom einige blaue und rote Zettel gegen ähnliche Kleinigkeiten. Er ſtellte die anderen Jungen, wie ſie ihm in den Weg kamen, und verkaufte, indem er Zettel der verſchiedenen Farben dagegen kaufte. Dann ging er in die Kirche, inmitten eines Schwarmes geputzter, lärmender Knaben und Mädchen, ſchlängelte ſich auf ſeinen Platz und fing mit dem erſten beſten Streit an. Der Lehrer, ein würdiger, bejahrter Mann, trat dazwiſchen. Dann wandte er ſich einen Augenblick um, und Tom riß einen Knaben in der vorderen Bank an den Haaren und war vertieft in ſein Buch, als der Knabe herumfuhr. Darauf ſtach er einen anderen mit einer Nadel, dieſer ſchrie auf, und Tom erhielt abermals einen Verweis. Toms ganze Klaſſe war eine Muſterklaſſe — nach {ſeinem} Muſter — unruhig, vorlaut und lärmend. Als es ans Aufſagen der Lektion ging, wußte nicht ein einziger ſeine Verſe gründlich, alles ſtümperte und war unſicher. Indeſſen — ſie kamen durch, und jeder erhielt ſeine Beſtätigung in Form eines blauen Zettels, jeder mit einem Bibelſpruch darauf; jeder ſolcher Zettel galt für zwei aufgeſagte Verſe. Zehn blaue Zettel waren gleich einem roten und konnten gegen einen ſolchen umgetauſcht werden; zehn rote machten einen gelben aus, und für dieſen gab der Superintendent eine ſehr einfach gebundene Bibel (heutzutage gewiß vierzig Cents wert). Wie viele meiner Leſer würden Fleiß und Aufmerkſamkeit genug haben, um zweitauſend Verſe auswendig zu lernen, und handelte es ſich um eine Doréeſche Bibel? Und doch hatte Mary auf dieſe Weiſe zwei Bibeln erworben; es war das Werk zweier Jahre; ein Knabe deutſcher Abkunft hatte es gar auf vier oder fünf gebracht. Einmal hatte er dreitauſend Verſe hergeſagt, ohne zu ſtocken. Aber die geiſtige Anſtrengung war zu groß geweſen, und er war von dem Tage an nicht viel beſſer als ein Idiot — ein böſes Mißgeſchick für die Schule, denn vor dieſem Ereignis hatte der Superintendent bei beſonderen Gelegenheiten den Knaben vortreten und „ſich blähen“ laſſen (wie Tom das nannte). Nur die geſetzteren Schüler gaben ſich die Mühe, ihre Zettel aufzubewahren, und ihr langweiliges Werk ſolange fortzuſetzen, bis ſie Anſpruch auf eine Bibel hatten. So war die Erlangung eines ſolchen Preiſes ein ſeltenes und bemerkenswertes Ereignis; der Sieger war an ſeinem Ehrentage eine ſo große, hervorragende Perſon, daß heiliger Ehrgeiz die Bruſt eines jeden Schülers erfüllte und oft mehrere Wochen anhielt. Es iſt möglich, daß Toms Streben niemals auf einen ſolchen Preis gerichtet war, zweifellos aber ſehnte ſich ſein ganzes Sein nach dem Ruhm und Aufſehen, die ein ſolches Ereignis mit ſich brachten. Der Geiſtliche ſtand jetzt vor der Verſammlung, einen geſchloſſenen Pſalter in der Hand und den vierten Finger zwiſchen die Blätter geſchoben. Er befahl Ruhe. Wenn nämlich ein Sonntagsſchullehrer ſeine gewohnte kleine Rede vom Stapel laſſen will, iſt ein Pſalterbuch in ſeiner Hand ſo notwendig, wie die Notenblätter in der Hand eines Sängers, der im Konzert vom Podium aus ein Solo vortragen ſoll — wer weiß, warum? Denn niemals werden Pſalterbuch oder Notenblätter beim Vortrag geöffnet. Der Superintendent war ein ſchmächtiger Mann von fünfunddreißig Jahren, mit ſandgelbem Ziegenbart und kurzgeſchorenem ſandgelbem Haar. Er trug einen ſteifen Stehkragen, deſſen oberer Rand ſeine Ohren ſtreifte und deſſen ſcharfe Ecken bis zu den Mundwinkeln vorſprangen — eine Planke, die ihn zwang, den Kopf ſtets vorzuſtrecken und den ganzen Körper zu drehen, wenn er zur Seite blicken wollte. Sein Kinn war in eine rieſige Krawatte gezwängt, die ſo breit und lang war, wie eine Banknote und ſpitze Enden hatte. Mr. Walter war äußerſt ernſthaft von Ausſehen und ſehr gutmütig und ehrenhaft von Charakter. Und er hielt geiſtige Dinge und Angelegenheiten ſo ſehr in Ehren und wußte ſie ſo ſtreng von allem Weltlichen zu trennen, daß ſeine Sonntagsſchulſtimme ihm ſelbſt unbewußt einen gewiſſen Klang angenommen hatte, von dem ſie an Wochentagen vollkommen frei war. Er begann alſo: „Nun, Kinder, ſitzt einmal ſo ruhig und geſittet, als es euch nur immer möglich iſt, und paßt einmal ein paar Minuten tüchtig auf, denn {darauf} kommt es vor allem an! {Das} ſollten alle braven Knaben und Mädchen ſtets tun! Ich ſehe ein kleines Mädchen, das zum Fenſter hinausſchaut — ich fürchte, ſie bildet ſich ein, ich wäre irgendwo draußen, vielleicht in einem Baum und hielte den Vögeln meine Rede?! (Unterdrücktes Kichern.) Ich möchte euch ſagen, daß es mich glücklich macht, ſo viele friſche, helle Kindergeſichter an dieſem Ort verſammelt zu ſehen, um zu lernen, recht tun und gut ſein.“ In dieſem Stil ging's immer weiter. Es iſt nicht nötig, den Reſt der Rede hierherzuſetzen. Sie war ganz nach bekanntem Muſter — wir alle haben ſie mal gehört. Das letzte Drittel der Rede wurde durch die Wiederaufnahme des Kampfes zwiſchen gewiſſen böſen Buben geſtört und durch Unruhe und Geſchwätz hier und dort, deren Wellen ſogar an den Grundlagen ſolcher Felſen der Folgſamkeit und Bravheit, wie Sid und Mary, nagten. Aber mit dem Schwächerwerden von Mr. Walters Stimme wurde auch das allgemeine Summen ſchwächer, und der Schluß der Rede wurde mit ſtiller Heiterkeit begrüßt. Zum guten Teil war die Unaufmerkſamkeit hervorgerufen worden durch ein ziemlich ſeltenes Vorkommnis: das Erſcheinen von Beſuchern: Richter Thatcher, begleitet von einem ſehr ſchwachen, alten Mann, einem vornehmen, mittelalterlichen Gentleman mit eiſengrauem Haar, und einer würdevollen Dame, zweifellos der Frau des letzteren. Die Dame führte ein Kind an der Hand. Tom war bis dahin unruhig und ſchuldbewußt geweſen — er konnte den Blick aus Amy Lawrences Augen nicht ertragen — es ſprach {zu viel} Liebe aus dieſem Blick! Aber als er dieſen kleinen Ankömmling ſah, war ſeine Beklommenheit auf einmal vorbei. Im nächſten Augenblick ließ er wieder ſeine Künſte ſpielen — er knuffte andere Knaben, riß ſie an den Haaren, ſchnitt Fratzen, mit einem Wort, tat alles, was nur irgend eines Mädchens Aufmerkſamkeit erregen und ihren Beifall gewinnen kann. Aber ſeine Exaltation wurde raſch gedämpft, er erinnerte ſich ſeiner Erlebniſſe im Garten dieſes Engels; aber dieſe Erinnerung wurde raſch durch das Glücksgefühl, von dem ſein Herz plötzlich erfüllt war, fortgeſchwemmt. Den Beſuchern wurden die höchſten Ehrenbezeugungen erwieſen, und nach Beendigung von Mr. Walters Anrede führte er ſie in der Schule herum. Der mittelalterliche Mann ſchien ein bedeutender Mann zu ſein. Er war der oberſte Richter des Kreiſes — gewiß die erhabenſte Perſönlichkeit, die dieſe Kinder bis jetzt geſehen hatten; und ſie grübelten darüber, aus welchem Stoff der wohl gemacht ſein könne; und dann waren ſie begierig auf ſeine Stimme und dann zitterten ſie wieder davor, ſie zu hören. Er war aus Konſtantinopel — zwölf Meilen entfernt, — er war alſo durch die ganze Welt gekommen und hatte {alles} geſehen; dieſe Augen hatten das Staatshaus geſehen, von dem man ſagte, es habe ein wirkliches Zinndach! Die ſcheue Ehrfurcht, welche dieſe Vorſtellungen hervorriefen, war aus dem abſoluten Schweigen und den ſtarr auf ihn gerichteten Augen deutlich zu leſen. Das alſo war der große Richter Thatcher, der Bruder ihres Bürgermeiſters. Von Jeff Thatcher hieß es ſogleich, er ſei mit dem großen Mann verwandt, und {den} beherbergte die Schule! Es würde Muſik für Jeffs Ohren geweſen ſein, hätte er gehört, was man von ihm flüſterte. „Sieh nur, Jim, er iſt wahrhaftig vorgegangen! Donnerwetter, er will ihm die Hand geben. Er hat ihm die Hand gegeben. Bei Jingo, möchtet wohl auch Jeff ſein, he?“ Mr. Walter ſuchte ſich jetzt in Geltung zu bringen durch möglichſte Geſchäftigkeit, erteilte Befehle, fällte Urteile, gab Winke hier und dort und überall, und zeigte, daß er am rechten Platz ſei. Darauf „zeigte“ ſich der Bücherverwalter, rannte mit Stößen von Büchern herum, klapperte mit den Bücherbrettern und vollführte einen Spektakel, daß es für jeden Vorgeſetzten eine wahre Luſt ſein mußte. Die jungen Lehrerinnen „zeigten“ ſich auch, taten ſchön mit Kindern, die ſie eben geprügelt hatten, hoben warnend ihre niedlichen Finger gegen böſe Buben und ſtreichelten brave, kleine Mädchen. Die jungen Lehrer „zeigten“ ſich mit kleinen Ermahnungen und anderen Beweiſen ihrer Autorität und ihrer Sorgfalt. Und alle Lehrenden beiderlei Geſchlechts machten ſich mit Vorliebe am Klaſſenpult zu tun, und es ſchienen Geſchäfte zu ſein, die fortwährend wiederholt werden mußten (und wie ſie dabei ärgerlich waren!). Die kleinen Mädchen „zeigten“ ſich auf verſchiedene Weiſe, und die Knaben „zeigten“ ſich mit ſolchem Nachdruck, daß die Luft mit Papierkugeln und halb unterdrücktem Gezänk angefüllt war. Und bei alledem ſaß der große Mann da, hatte ein erhabenes Richterlächeln für die ganze Schule und wärmte ſich im Glanze ſeiner eigenen Größe, denn er „zeigte“ ſich erſt recht. Aber eins fehlte, was Mr. Walters Glück vollgemacht hätte, das war die Gelegenheit, einen Bibelpreis auszuteilen und eins ſeiner Wunderkinder zu zeigen. Mehrere Schüler hatten eine Menge kleinerer Zettel, aber niemand hatte genug. Er hätte die Welt darum gegeben, ſeinen kleinen Deutſchen für eine einzige Stunde wiederzuhaben. Da — trat Tom Sawyer vor, neun gelbe Zettel, neun rote und zehn blaue, und verlangte eine Bibel! Das wirkte wie ein Blitz aus heiterm Himmel! So etwas hätte Walter nicht erwartet — in den nächſten zehn Jahren ſicher nicht. Aber es war nichts auszuſetzen — da lagen die nötigen Zettel beiſammen und nahmen ſich hübſch genug aus. Tom erhielt alſo ſeinen Platz beim Richter und den anderen Auserwählten, und die unerhörte Neuigkeit wurde nach allen Himmelsgegenden auspoſaunt. Es war zweifellos die ſtaunenswerteſte Tatſache des Jahrzehnts; und ſo tief war die Erregung, daß ſie den neuen Helden auf die Höhe des Kreisrichters hob und die Schule zwei Weltwunder aus einmal zu beſtaunen hatte. Die Jungen waren durch die Bank von Neid erfüllt. Aber die am tiefſten Beleidigten waren diejenigen, welche zu ſpät einſahen, daß ſie ſelbſt zu dieſem unerhörten Glanz beigetragen hatten, indem ſie Tom Billetts verkauften für die Schätze, welche er durch Übertragung der Anſtreich-Gerechtſame erworben hatte. Sie verachteten ſich ſelbſt, da ſie ſich durch einen liſtigen Betrüger hatten anführen laſſen. Der Preis wurde Tom überreicht, mit ſo viel Salbung, als der Superintendent unter ſolchen Umſtänden auftreiben konnte. Aber es war doch nicht der rechte Schwung darin, denn ſein Inſtinkt ſagte ihm, hierbei müſſe ein Geheimnis walten, das wohl nicht ganz gut das Licht der Sonne vertragen würde. Es war ganz einfach unglaublich, daß {dieſer} Knabe zweitauſend Bibelverſe in ſeinem Kopfe aufgeſpeichert haben ſollte — ein Dutzend ſchon hätte zweifellos ſeine Kräfte überſtiegen. Amy Lawrence war ganz rot vor Stolz und verſuchte, es Tom zu zeigen, aber er {wollte} nicht ſehen. Sie wunderte ſich; dann grämte ſie ſich ein bißchen; ſchließlich ſtieg ein leiſer Verdacht in ihr auf und verflog und kam wieder. Sie paßte auf. {Ein} heimlicher Blick verriet ihr Welten, und dann brach ihr Herz, und ſie wurde eiferſüchtig und wütend, und die Tränen kamen, und ſie haßte alle, alle, Tom natürlich am meiſten. Tom wurde vor den Richter geführt. Aber ſeine Zunge klebte am Gaumen, der Schweiß trat ihm auf die Stirn, ſein Herz klopfte — teils infolge der Größe des Mannes, aber mehr noch, weil er {ihr} Vater war. Er hätte, wäre es dunkel geweſen, vor ihm niederfallen und ihn anbeten mögen. Der Richter legte die Hand auf Toms Kopf und nannte ihn einen tüchtigen, kleinen Mann und fragte ihn nach ſeinem Namen. Der Junge ſtammelte, huſtete und ſtieß endlich mühſam heraus: „Tom!“ „O nein — nicht {Tom}, ſondern —“ „Thomas.“ „Richtig. Ich dachte mir doch, daß noch etwas fehlte. Gut. Aber ich glaube, du haſt noch einen Namen, und du wirſt ihn mir nennen, nicht?“ „Nenne dem Herrn deinen anderen Namen, Thomas, und ſage: Herr! Nicht vergeſſen, was ſich ſchickt!“ „Thomas Sawyer — Herr!“ „So — ſo iſt's recht! Ein guter Junge. Ein braver Junge. Ein braver, kleiner Junge. Zweitauſend Verſe ſind viel — ſehr, ſehr viel! Und Sie brauchen die Mühe, die es Ihnen bereitet hat, es ihm beizubringen, ſicher nicht zu bereuen; denn Kenntniſſe ſind gewiß mehr wert, als irgend etwas anderes in der Welt. Sie machen große Männer und große Menſchen. — Du wirſt eines Tages ein großer Mann ſein und ein großer Menſch, Thomas, und dann wirſt du zurückblicken und ſagen: Das alles verdanke ich der herrlichen Sonntagsſchule meines Heimatsdorfes; alles meinen lieben Lehrern, die mich angehalten haben, zu lernen; alles dem guten Superintendenten, der mich anfeuerte und über mir wachte und mir eine wundervolle Bibel ſchenkte, eine herrliche, prächtige Bibel, damit ich ſie immer, immer bei mir haben möge; alles meiner Erziehung! {Das} wirſt du ſagen, Thomas! Und du würdeſt dir mit {keinem} Geld deinen Schatz von zweitauſend Verſen bezahlen laſſen — nein, wahrhaftig nicht! — Und jetzt kannſt du mir und dieſer Dame eine große Freude machen und uns einige deiner Verſe aufſagen — du wirſt es {gern} tun, denn wir freuen uns ja {ſo ſehr} über einen fleißigen Knaben. Ohne Zweifel kennſt du die Namen aller zwölf Jünger. Willſt du uns alſo die Namen der beiden zuerſt erwählten Jünger nennen?“ Tom zupfte an einem Knopf und ſah möglichſt einfältig aus. Er wurde rot und ſenkte die Augen. Mr. Walters Herz ſank mit. Er ſagte ſich, es ſei gar nicht möglich, von dieſem Jungen Antwort auf die einfachſte Frage zu bekommen — und {den} gerade mußte der Richter fragen! Doch fühlte er ſich veranlaßt, zu Hilfe zu kommen und ſagte: „Antworte dem Herrn, Thomas, — fürchte dich nicht!“ Tom wurde immer röter. „Nun, ich weiß, {mir} wirſt du es ſagen,“ miſchte ſich hier die Dame ein. „Die Namen der zwei erſten Jünger waren —“ „David und Goliath!“ Decken wir den Schleier der Nächſtenliebe über das, was nun folgte! 5. Fünftes Kapitel.