Mark Twain: Die Abenteuer Tom Sawyers 35. Fünfunddreißigſtes Kapitel. „Tom, wenn wir 'n Seil finden, können wir famos durchbrennen,“ ſagte Huck, „die Fenſter ſind nicht hoch!“ „Unſinn — wozu denn durchbrennen?“ „Na, ſo 'ne Menge Menſchen kann ich nicht aushalten. Kann ich nicht! Ich will raus, Tom!“ „Ach was 's iſt ja gar nichts! Fürcht' mich nicht 'n bißchen. Will ſchon für dich mit aufpaſſen.“ Sid erſchien. „Tom,“ ſagte er, „Tante hat den ganzen Nachmittag auf dich gewartet. Mary hatte deine Sonntagskleider zurecht gelegt, alles wartete nur auf {dich}. — Sag' mal, iſt das da nicht Lehm und Talg auf deinen Kleidern?“ „Na, Mr. Siddy, möcht' dir raten, nach deinen eigenen Sachen zu ſehen! — Wozu iſt die ganze Geſchichte da unten?“ „'s iſt einfach ſo 'ne Geſellſchaft, wie die Witwe Douglas ſie ja immer mal gibt. Diesmal iſt's für den Walliſer und ſeine Söhne, von wegen heut nacht. Und dann — kann auch noch was ſagen, wenn ihr's wiſſen wollt —“ „Na, was denn?“ „Der alte Jones wollt' der Geſellſchaft heut abend 'ne große Sache erzählen, aber ich hört 's ihn heut morgen Tante Polly als großes Geheimnis anvertraun, denk' aber, 's iſt kein großes Geheimnis mehr. Jedermann weiß es — auch die Witwe, obwohl ſie alles tut, um 's nicht merken zu laſſen. Oho, Mr. Jones wollte dafür ſorgen, daß Huck hier wäre — konnt' mit ſeinem großen Geheimnis nicht ohne den Huck fertig werden, wißt ihr!“ „Geheimnis — wovon?“ „Na, daß Huck die Räuber angezeigt hat. Denk', Mr. Jones wird 'ne große Sache aus ſeinem Geheimnis machen, aber, könnt' euch denken, 's wird ins Waſſer fallen.“ „Sid, {wer} hat's verraten?“ „Na — wer weiß? Irgend jemand hat's geſagt, das iſt doch genug.“ „Sid, 's gibt im ganzen Dorf nur {einen}, der gemein genug iſt, ſo was zu tun, das biſt {du}! Wärſt du an Hucks Stelle geweſen, du hätteſt dich ſchleunigſt davongemacht und niemand von den Räubern geſagt. Du kannſt nichts tun, was nicht gemein iſt, und kannſt's nicht vertragen, wenn andere für was Gutes gelobt werden. Da — keinen Dank — wie die Witwe ſagt!“ Und Tom packte Sid an den Ohren und half ihm unter Püffen aus der Tür. „Jetzt geh, ſag's Tante Polly und morgen rechnen wir dann ab!“ Wenige Minuten danach ſaßen die Gäſte an einer langen Speiſetafel; nach guter, alter Sitte waren die Kinder — ein Dutzend — an einem kleinen Seitentiſchchen zuſammengeſteckt. Zur rechten Zeit hielt Mr. Jones ſeine Anſprache, worin er der Witwe für ihre Dankbarkeit dankte, und ſagte dann, es gäbe einen anderen, deſſen Beſcheidenheit — Und ſo weiter und ſo weiter. Da alles die Geſchichte kannte, ſo war die Überraſchung etwas mäßig, nur die Witwe ſelbſt machte verzweifelte Anſtrengungen, zu tun, als wiſſe ſie noch von nichts. Sie bewies Huck ihre Dankbarkeit auf ſo ſtürmiſche und zärtliche Manier, daß ihm ſein jetziger Zuſtand noch weit entſetzlicher erſchien als der Zwang der neuen Kleider und des geſitteten Benehmens. Die Witwe erklärte, Huck unter ihrem Dach aufnehmen und ihm eine ſorgfältige Erziehung geben zu wollen; und wenn ſie ſo viel Geld zurücklegen könne, wolle ſie ihm ſpäter ein anſtändiges Geſchäft übergeben. Toms Zeit war gekommen. „Huck braucht's gar nicht — Huck iſt reich,“ ſagte er. Nur die gute Lebenſart der Geſellſchaft konnte bei dieſem vermeintlichen Witz ein allgemeines Gelächter hintanhalten. Aber das Schweigen war doch ein wenig drückend. Tom brach es. „Huck {hat} Geld! Wenn Sie's nicht glauben — Huck kann's beweiſen. O, Sie brauchen nicht zu lächeln, denk', ich kann's beweiſen. Warten Sie nur 'ne Minute.“ Tom rannte hinaus. Die Geſellſchaft ſchaute ſich überraſcht an und drang in Huck, der ſtumm zu ſein ſchien. „Sid, was iſt's mit Tom?“ fragte Tante Polly. „Er — na, werd' ein anderer klug aus dem Jungen. Ich kann's nicht —“ Tom erſchien, ſich mit den Säcken abſchleppend, und Tante Polly ließ ihren Satz unbeendet. Tom ſchüttete das Geld auf den Tiſch und meinte trocken: „Da — was hab' ich geſagt? Halb Huck ſeins — halb meins!“ Dieſer Anblick machte alle atemlos. Alles ſchaute nur, niemand konnte ſprechen. Dann folgten unartikulierte Laute des Entzückens. Tom ſagte, er könne es erklären, und tat's. Die Erzählung war lang, aber mächtig ſpannend. Niemand unterbrach ihn, außer durch Ausrufe, wie ſie hier angebracht waren. Als er geendet hatte, meinte Mr. Jones: „Dachte 'ne kleine, beſondere Überraſchung für dieſe Gelegenheit in Hinterhalt zu haben, aber jetzt denk' ich, 's war nichts. Dies da läßt meins furchtbar lumpig erſcheinen — kann's nicht leugnen.“ Das Geld wurde gezählt. Die Summe belief ſich auf etwas über zwölftauſend Dollar. Das war mehr, als irgend einer der Anweſenden jemals beiſammen geſehen hatte, obwohl verſchiedene unter ihnen waren, die über viel mehr als das in Grundbeſitz verfügten. 36. Sechsunddreißigſtes Kapitel.