Mark Twain: Die Abenteuer Tom Sawyers 34. Vierunddreißigſtes Kapitel. Wenige Minuten genügten, um die Neuigkeit bekannt zu machen, und ein Dutzend Bootsladungen Männer war unterwegs nach der Douglas-Höhle, denen bald das vollgeſtopfte Dampfboot folgte. Tom Sawyer befand ſich im gleichen Boot mit dem Richter Thatcher. Als die Tür zur Höhle geöffnet wurde, bot ſich in der ungewiſſen Dämmerung des Ortes ein trauriger Anblick. Der Indianer-Joe lag auf der Erde ausgeſtreckt, tot, das Geſicht feſt an eine Lücke in der Tür gepreſſt, als wenn ſeine Augen bis zum letzten Augenblick an den Anblick der hellen, freien Welt dort draußen geheftet geweſen wären. Tom fühlte ſich gerührt, denn aus eigener Erfahrung wußte er, was der Schuft gelitten haben mußte. Sein Mitleid war erregt, aber trotzdem empfand er ein überwältigendes Gefühl der Freiheit und Sicherheit, das ihm deutlich zeigte, was er bisher nur dunkel in ſich getragen hatte; wie groß ſeine Furcht vor einem gewaltſamen Tode bei ihm geweſen ſei, ſeit er vor Gericht gegen den Blutmenſchen Zeugnis abgelegt hatte. Joes Meſſer lag dicht bei ihm, die Klinge war abgebrochen; mit grenzenloſer Ausdauer hatte er den eichenen, ſtarken Grundbalken der Tür durchſchnitten. Freilich war es vergebliche Ausdauer geweſen, denn der Felſen bildete eine natürliche Schwelle, und an der Härte {dieſes} Hinderniſſes mußte ſein Meſſer machtlos abgleiten; eine Wirkung zeigte ſich auch nur an dieſem ſelbſt. Aber auch ohne dieſen Steinwall würde alle Mühe umſonſt geweſen ſein, denn hätte der Indianer auch den Balken ganz entfernen können, ſo konnte er ſich doch unmöglich durch dieſen engen Spalt durchzwängen — und er wußte das. So hatte er denn die Arbeit nur verrichtet um etwas zu tun, um die fürchterliche Zeit totzuſchlagen, um ſeinen Geiſt abzulenken. Gewöhnlich konnte man ein halbes Dutzend Kerzenreſte in den Niſchen des Eingangs finden, die von Beſuchern dort zurückgelaſſen waren. Jetzt war nicht eine einzige da. Der Gefangene hatte ſie zuſammengeſucht und ſie gegeſſen. Auch hatte er ein paar Fledermäuſe gefangen und ſie verzehrt, nichts als die Flügel übrig laſſend. Der arme, unglückliche Menſch war Hungers geſtorben. In der Nähe hatte ſich durch undenkliche Zeiten ein Tropfſteingebilde vom Boden herausgebildet — infolge beſtändigen Waſſertropfens von der Decke. Er hatte die Spitze dieſer Säule abgebrochen und einen etwas ausgehöhlten Stein darauf gelegt, worin er die von zwanzig zu zwanzig Minuten regelmäßig wie durch ein Uhrwerk herunterfallenden Tropfen auffing — einen Teelöffel voll in vierundzwanzig Stunden! Dieſer Tropfen fiel ſchon, als die Pyramiden neu waren, als Troja ſank, als Rom gegründet wurde, bei der Kreuzigung Chriſti, als der Eroberer nach England kam, als Columbus ausſegelte, als das Blutbad von Lexington „neu“ war. Er fällt noch; er wird noch fallen, wenn all die jetzigen Dinge durch Vergangenheit Geſchichte geworden, durch die Dämmerung der Sage in die Nacht der Vergeſſenheit verſunken ſein werden. Hat alles einen Zweck und eine Beſtimmung? Mußte dieſer Tropfen durch fünftauſend Jahre fallen, weil er einmal für dieſes menſchliche Inſekt nötig werden ſollte, und hat er vielleicht in zehntauſend Jahren noch einmal einen Zweck zu erfüllen? Aber genug. Es ſind viele, viele Jahre vergangen, ſeitdem dieſer hilfloſe Indianer den Stein aushöhlte, um ein paar unſchätzbare Waſſertropfen aufzufangen; aber bis zum heutigen Tage betrachtet jeder Reiſende, der die Wunder der Douglas-Höhle kennen zu lernen kommt, am längſten von allem dieſen merkwürdigen Stein und den langſam fallenden Tropfen. „Der Becher des Indianer-Joe“ ſteht unter den Sehenswürdigkeiten der Höhle an erſter Stelle; ſelbſt „Aladins Palaſt“ kann nicht mit ihm verglichen werden. Der Indianer wurde nahe der Mündung der Höhle begraben. Das Volk ſtrömte dahin aus dem Dorfe und aus allen Farmen und Niederlaſſungen ſieben Meilen in der Runde zuſammen; man ſchleppte die Kinder und eine Menge Lebensmittel heran und war ſchließlich von dem Begräbnis ſo befriedigt, als wäre Joe gehängt worden. Die Beerdigung machte einer äußerſt wichtigen Sache ein Ende — der Petition an den Gouverneur für des Indianer-Joes Begnadigung. Sie trug eine endloſe Menge Namen; mehrere gerührte, redſelige Verſammlungen hatten getagt, ein Komitee weiſer Frauen lag dem Gouverneur mit Murren und Klagen in den Ohren und beſtürmte ihn, eine mächtige Eſelei zu begehen und ſeine Pflicht mit Füßen zu treten. Der Indianer galt als Mörder von fünf Bürgern des Dorfes — aber was tat das? Wäre er der Teufel ſelbſt geweſen, es hätte ſich doch eine Anzahl Schwächlinge gefunden, die ihre Namen unter ein Begnadigungsgeſuch gekritzelt und eine Träne aus ihren beſtändig übervollen Waſſerwerken darauf fallen gelaſſen hätten. Am Morgen nach dem Begräbnis zog Tom Huck zu einer wichtigen Unterredung an einen geheimen Ort. Huck hatte bereits durch den Walliſer und die Witwe Douglas von Toms Abenteuern gehört, aber Tom meinte, es gäbe wohl noch etwas, wovon jene ihm nichts geſagt haben dürften; darüber eben wollten ſie jetzt ſprechen. Hucks Geſicht verfinſterte ſich. „Weiß ſchon, was es iſt,“ ſagte er. „Warſt in Nummer Zwei und fandſt nichts als Schnaps. 's hat mir zwar niemand geſagt, daß du's warſt, aber ich wußte wohl, daß du's ſein mußteſt, ſobald ich von dieſer Schnaps-Geſchichte hörte; und wußte, du hättſt das Geld nicht erwiſcht, weil du ſonſt auf irgend 'ne Weiſe zu mir gekommen wärſt und mir's geſagt hätteſt, auch wenn du ſonſt gegen alle ſtumm geweſen wärſt. Tom, ich glaub' faſt, wir kriegen nie was von dem Schatz zu ſehen.“ „Was, Huck, kein Wort red' ich von dem Schnapswirt. Du weißt doch, den Sonntag, als ich zum Picknick ging, war in ſeiner Schenke noch alles in Ordnung. Erinnerſt du dich nicht, daß du in der Nacht wachen ſollteſt?“ „O, ſicher. Zwar, 's kommt mir vor, als wär's ein Jahr her. 's war dieſelbe Nacht, wo ich dem Joe zur Witwe nachſchlich.“ „Du ſchlichſt ihm nach?“ „Freilich — aber reinen Mund halten! Denk' doch, der Joe hat Freunde hinterlaſſen. Möcht' ſie doch nicht auf mich hetzen! Wär' ich nicht geweſen, ſäß' er jetzt in Sicherheit unten in Texas!“ Dann erzählte Huck Tom ſein ganzes Abenteuer im Vertrauen, der bisher nur von des Walliſers Anteil an der Sache wußte. „Aber,“ unterbrach er ſich plötzlich, auf die Hauptfrage zurückkommend, „wer den Schnaps in Nummer Zwei entdeckt hat, hat auch's Geld in die Finger bekommen, denk' ich — auf jeden Fall iſt's für uns verloren, Tom.“ „Huck — das Geld war gar nicht in Nummer Zwei.“ „Was!?“ Huck ſtarrte ſeinen Kameraden verdutzt an. „Tom, haſt du wieder 'ne Spur von dem Geld?“ „Huck — 's iſt in der Höhle!“ Hucks Augen leuchteten. „Sag's noch mal, Tom!“ „Das Geld iſt in der Höhle!“ „Tom — Allmächtiger — jetzt — iſt das Ernſt oder Scherz?“ „Ernſt, Huck, ſo ernſt wie alles bei mir. Willſt du mitgehn und 's rausholen?“ „Denk' doch, daß ich will! — Wenn's wo liegt, wo wir's leicht finden können — ohne den Weg zu verlieren —“ „Huck, wir können's ohne die geringſte Gefahr von der Welt.“ „Iſt mal was! Aber, warum denkſt du, daß das Geld —“ „Huck, du mußt warten, bis wir drin ſind. Wenn wir's {nicht} finden, geb' ich dir meine Trommel — und alles, was ich ſonſt noch hab'; verlaß dich drauf!“ „'s iſt gut — iſt 'n Wort. Wann wolln wir?“ „Meinetwegen gleich, wenn du magſt. Biſt du ſtark genug?“ „Iſt's weit in der Höhle? Bin zwar ſchon drei bis vier Tage wieder auf den Beinen, aber mehr als 'ne Meile — Tom, ich glaub', mehr kann ich nicht.“ „'s ſind ungefähr fünf Meilen auf dem gewöhnlichen Weg, aber den wolln wir nicht gehn, Huck, ſondern 'nen ganz kurzen, den niemand kennt außer mir. Huck, ich werd' dich in 'nem Boot hinfahren. Werd' das Boot da anlegen und 's wieder zurückrudern, alles ganz allein. Brauchſt dich gar nicht drum zu kümmern.“ „Na, Tom, laß uns ſchnell hin!“ „Schon recht, aber wir brauchen Brot und Fleiſch und unſere Pfeifen, und 'nen kleinen Sack und zwei oder drei Drachenſchnüre, und dann noch 'n paar von den neuartigen Dingern, die ſie Zündhölzer nennen. Sag' dir, ich hätt' welche davon brauchen können, wie ich neulich drin war.“ Kurz nach Mittag liehen ſich die Jungen ein kleines Boot von einem Bürger, der gerade abweſend war und machten ſich auf den Weg. Als ſie ein paar Meilen unterhalb der Höhlenbucht waren, ſagte Tom: „Sieh mal hier, dies ſchroffe Ufer da ſieht genau ſo aus, wie ſonſt an 'ner beliebigen Stelle — kein Haus, kein Garten, nichts als Geſtrüpp. Aber ſiehſt du die weiße Stelle, wo ein Erdrutſch mal geweſen ſein mag? Na, das iſt eins von meinen Kennzeichen. Wollen landen.“ Sie landeten. „Jetzt, Huck — wo wir jetzt ſtehn, kannſt du das Loch berühren, aus dem ich neulich herausgekrochen bin. Schau mal, ob du's finden kannſt.“ Huck ſuchte überall herum, fand aber nichts. Tom ging ſtolz auf ein dickes Gewirr von Sumachbüſchen zu und ſagte: „{Hier} iſt's! Schau her, Huck. 's iſt die verborgenſte Höhle in dieſem geſegneten Lande. Daß du aber den Mund hältſt! Hab' ja ſchon immer Räuber ſein wollen, aber ich wußt', daß ich erſt ſo 'n Ding haben müßt', wie das da, wohin man ſich mal verſtecken kann. Jetzt haben wir's und müſſen's geheim halten; höchſtens darf's der Joe Harper und Ben Rogers wiſſen, weil's doch 'ne rechte Bande ſein muß, oder 's hat gar keinen Schick. ‚Tom Sawyers Räuberbande‘, 's klingt mächtig großartig, Huck, was?“ „Na, das will ich wohl meinen, Tom! Und {wen} wollen wir berauben?“ „Na, ſo ziemlich {alle} Leute. Auf der Straße auflauern — das iſt ſo die rechte Manier.“ „Und töten die Kerls.“ „Nein — nicht immer. Sperren ſie in die Höhle, bis ſie ſich auslöſen.“ „Aus — was iſt ‚auslöſen‘?“ „Na — Geld zahlen. Man zwingt ſie, daß ihre Freunde für ſie alles, was ſie auftreiben können, zuſammenſcharren; und wenn man ſie 'n Jahr feſtgehalten hat, und das Geld iſt noch nicht da — dann tötet man ſie. 's iſt allgemeine Sitte ſo. Bloß die Frauen tötet man nie. Man ſperrt ſie ein, aber man tötet ſie nicht. Sie ſind immer ganz verdammt ſchön und reich und ſchrecklich furchtſam. Man nimmt ihnen die Uhren weg und alles, was ſie ſonſt haben, aber man nimmt bei ihnen immer den Hut ab und iſt furchtbar höflich. Niemand iſt ſo höflich wie Räuber — du kannſt das in allen Büchern leſen. Und dann — dann verlieben ſich die Weiber in uns, und wenn ſie ein oder zwei Wochen in der Höhle geweſen ſind, hören ſie auf, zu heulen, und noch ſpäter kannſt du ſie gar nicht wieder los werden. Schmeißt man ſie 'raus, kehren ſie ſofort um und kommen zurück. 's iſt in allen Büchern ſo.“ „Na, das iſt aber unangenehm, Tom. Glaub' doch, Pirat ſein iſt noch beſſer.“ „Ja, 's iſt beſſer in manchen Dingen, aber Räuber ſind näher bei zu Hauſe, und dann haben ſie 'n Zirkus und all das andere.“ Inzwiſchen waren ſie herangekommen und krochen in die Höhle, Tom voran. Sie gingen bis ans andere Ende des Ganges, befeſtigten ihre Drachenſchnüre und ſetzten den Weg fort. Wenige Schritte brachten ſie an die Quelle, und Tom fühlte einen kalten Schauder. Er zeigte Huck den noch an der Wand klebenden Reſt des Kerzendochtes und beſchrieb, wie er und Becky das letzte Aufflackern und Erlöſchen der Flamme beobachtet hatten. Die Jungen verfielen jetzt unwillkürlich in Flüſterton, denn die Stille und Finſternis des Ortes laſteten ſchwer auf ihrem Geiſt. Sie gingen weiter und bogen dann plötzlich in Toms anderen Gang ein, den ſie bis zu dem „Abgrund“ verfolgten, an dem Tom hatte Halt machen müſſen. Die Lichter zeigten ihnen jetzt, daß es ein ſolcher eigentlich nicht ſei, ſondern nur ein ſteiler Lehmabhang, zwanzig oder dreißig Fuß tief. Tom flüſterte: „Jetzt will ich dir was zeigen, Huck!“ Er hielt die Kerze in die Höhe und ſagte: „Schau' ſo weit um den Felsvorſprung herum, wie du kannſt. Siehſt du? Da — auf dem großen Felsblock über dir —“ „Tom, 's iſt ein Kreuz!“ „Na, und wo iſt deine ‚Nummer Zwei‘? ‚Unter dem Kreuz‘, he? Gerade dort, wo ich den Indianer-Joe ſein Licht hinhalten ſah, Huck!“ Huck ſtarrte eine Weile auf das geheimnisvolle Zeichen und ſagte dann mit zitternder Stimme: „Tom, laß uns machen, daß wir von hier fortkommen!“ „Wa — a — as? Und den Schatz hier laſſen?!“ „Ja — hier laſſen! 's iſt ſicher, Joes Geiſt ſpukt hier herum!“ „Denkt nicht dran, Huck, denkt nicht dran! 's iſt ja nicht der Platz, wo er geſtorben iſt — der iſt weit von hier an der Mündung der Höhle — fünf Meilen von hier.“ „Nein, Tom, 's iſt nicht ſo. Er geht um, wo 's Geld liegt. Ich weiß, wie's bei den Geiſtern iſt, {ſo} machen ſie's.“ Tom begann zu befürchten, Huck könne recht haben. Mißbehagen beſchlich ihn. Aber plötzlich kam ihm eine Idee. „Schau doch, Huck, was für Schafsköpfe wir wieder mal ſind! Indianer-Joes Geiſt kann nirgends umgehn, wo 'n Kreuz iſt!“ Dieſe Beweisführung ſchlug durch. Es ließ ſich nichts dagegen ſagen. Tom machte ſich als erſter daran, rohe Stufen in die Lehmwand zu hauen. Huck folgte. Vier Gänge öffneten ſich von der kleinen Höhlung aus, in der ſich der bewußte große Felſen befand. Die Jungen unterſuchten drei ohne Erfolg. In dem der Baſis des Felſens am nächſten befindlichen fanden ſie eine kleine Niſche, in der ſich eine Anzahl Wolldecken, ein alter Gürtel, ein paar Schinkenſchwarten und die ſauber abgenagten Knochen von zwei bis drei Hühnern vorfanden. Aber keine Geldkiſte. Die Jungen durchſuchten alles wieder und immer wieder — aber vergebens. Dann meinte Tom: „Er ſagte, {unter} dem Kreuz! Na, dies iſt {beinahe} unter dem Kreuz. Unterm Felſen ſelbſt kann's nicht ſein, denn der ſitzt zu feſt.“ Sie ſuchten immer wieder und wieder und ſetzten ſich ſchließlich mutlos nieder. Huck wollte nichts einfallen. Aber Tom ſagte plötzlich: „Schau mal her, Huck! Auf der einen Seite des Felſens ſind 'n paar Fußſpuren und Kerzen-Spritzer, auf der anderen Seite ſind {keine}! Was meinſt du {nun}? Bitt' dich, das Geld iſt {unter} dem Felſen! Werd' mal gleich im Lehm nachgraben.“ „Kein übler Gedanke, Tom,“ entgegnete Huck mit Bewunderung. Toms „echtes Barlow-Meſſer“ war im Nu heraus, und er hatte noch nicht fünf Striche getan, als er auf Holz ſtieß. „Hoho, Huck, hörſt du das?“ Huck begann ebenfalls zu graben und zu wühlen. Ein paar Bretter waren bald ausgegraben und beiſeite geworfen. Sie hatten eine natürliche Spalte verborgen, die unter den Felſen führte. Tom kroch hinein und leuchtete, ſo tief er konnte, vermochte das Ende der Spalte aber nicht zu ſehen. Er ſchlug vor, noch weiter zu forſchen, kroch hinein und geradeswegs hinunter. Er folgte allen Windungen des Spalts, erſt nach rechts, dann nach links, Huck immer hinterdrein. Plötzlich machte Tom eine kurze Wendung und ſchrie: „Bei Gott, Huck, ſchau her!“ Es war die Geldkiſte in einem kleinen Loch, daneben ein Pulverbehälter, eine Menge Flinten in verſchiedenen Hüllen, zwei Paar alte Mocaſſins, ein alter Gürtel und ein paar Kleinigkeiten, alles gründlich durchnäßt durch das heruntertropfende Waſſer. „Gott im Himmel!“ ſchrie Huck, mit den Händen im Gold wühlend, „ſind wir jetzt aber reich, Tom!“ „Huck, ich hab' ja immer drauf gerechnet. 's iſt aber faſt {zu} ſchön, um dran zu glauben, aber wir haben's mal ſicher — endlich! Wollen's nicht hier liegen laſſen, ſondern mitnehmen; laß mal ſehen, ob ich die Kiſte aufheben kann!“ Die wog aber über 50 Pfund, Tom konnte ſie mit großer Anſtrengung ein bißchen heben, an Fortſchaffen aber war gar nicht zu denken. „Dacht's mir,“ meinte er. „Damals im Geſpenſterhaus trugen ſie, ſchien's, ſchwer genug daran — merkt's wohl. Denk', 's wird gut ſein, die kleinen Beutel herzunehmen.“ Bald war das Geld verpackt, und ſie ſchleppten's heraus. „Nun laß uns noch Gewehre und ſonſt ſo 'n Zeug mitnehmen.“ ſchlug Huck vor. „Nein, Huck, da laſſen! Sind gerad' Sachen, die wir brauchen, wenn wir erſt Räuber ſind. Nehmen's ſeiner Zeit zu unſern Orgien; 's iſt ein verdammt feiner Platz für Orgien.“ „Was ſind Orgien?“ „Weiß nicht. Aber Räuber halten immer Orgien. alſo müſſen wir doch auch welche halten. Nun komm' aber, Huck, wir ſind hier lang genug geweſen. 's iſt ſchon ſpät, denk' ich. Bin außerdem mächtig hungrig. Im Boot wolln wir eſſen und rauchen.“ Sie ſchlüpften alſo hinaus ins Sumachgebüſch, lugten vorſichtig herum, fanden die Luft rein und waren bald im Boot in vollem Schmauſen und Rauchen. Als die Sonne ſank, ſtießen ſie vom Ufer und machten ſich auf den Weg. Tom huſchte im Zwielicht an die Küſte heran, und kurz darauf landeten ſie in voller Dunkelheit. „Jetzt, Huck,“ ſagte Tom, „wollen wir 's Geld auf dem Boden des Holzſchuppens der Witwe verſtecken, morgen komm' ich dann, wir können's zählen und teilen, und dann ſuchen wir im Wald 'nen Platz, wo wir's ſicher vergraben können. Jetzt halt dich mal ganz ſtill und bewach das Zeug, bis ich hinlauf' und Benny Taylors kleinen Schubkarren leih'. Bin in 'ner Minute wieder da.“ Er verſchwand, kehrte ſogleich mit dem Karren zurück, legte die zwei kleinen Säcke drauf, befeſtigte zwei Drachenleinen dran und zog an, ſeinen Schatz hinter ſich. Als die Jungen das Haus des Walliſers erreichten, ſtanden ſie ſtill, um auszuruhen. Gerade, als ſie ſich wieder auf den Weg machen wollten, kam der Walliſer heraus und rief: „Hallo, wer da?“ „Huck und Tom Sawyer.“ „'s iſt gut! Kommt nur mit, Jungens, werdet ſchon überall geſucht. Na — vorwärts, ſputet euch mal! Will den Karren für euch ziehen. Alte Ziegelſteine drin oder altes Metall?“ „Altes Metall,“ ſtotterte Tom. „Dacht' mir's; alle Jungen machen ſich mehr Mühe und brauchen mehr Zeit, um für ſechs Pence altes Eiſen zuſammenzuſcharren, als ſie brauchten, um doppelt ſo viel Geld durch ordentliche Arbeit zu verdienen. Aber iſt mal die menſchliche Natur ſo!“ Die Jungen hätten gern gewußt, wozu die große Eile ſei. „Weiß nicht; werdet's ſehn, wenn wir zur Witwe Douglas kommen.“ Huck ſagte ein wenig beunruhigt — denn er war längſt daran gewöhnt, unſchuldig angeklagt zu werden: „Mr. Jones, wir haben's gewiß nicht getan!“ Der Alte lachte. „Na, weiß doch nicht, Huck, mein Junge. Weiß doch nicht, ſeid ihr mit der Witwe gut Freund?“ „J — a! Wenigſtens iſt ſie immer freundlich mit mir geweſen.“ „Na alſo! Warum dann Angſt haben?“ Die Frage war noch nicht ganz von Huck beantwortet, als er ſich mit Tom in der Witwe Beſuchszimmer geſtoßen fühlte. Mr. Jones ließ die Karre draußen und folgte. Das Zimmer war glänzend erleuchtet und alles, was irgend dazu gehörte, erſchienen. Thatchers waren da, Harpers, Rogerſes, Tante Polly, Sid, Mary, der Pfarrer, der Redakteur und viele andere, und alle mit feierlichen Gewändern angetan. Alle zeigten feierliche Mienen. Tante Polly wurde vor Verlegenheit blutrot und ſchüttelte den Kopf zornig gegen Tom. Niemand konnte indeſſen leiden wie die beiden Buben. Mr. Jones erklärte: „Tom war leider nicht zu Haus, ſo gab ich ihn auf, ſtieß aber gerade bei meiner Tür auf ihn und Huck — ſo bracht' ich ſie denn Hals über Kopf mit hierher.“ „Und 's war recht von Ihnen,“ entgegnete die Witwe. „Kommt mit, Jungen.“ Sie zog ſie in ein Schlafzimmer und ſagte: „Jetzt waſcht euch und zieht euch ordentlich an. Hier ſind zwei neue Anzüge — Hemden, Strümpfe — alles da. Sie ſind für dich, Huck, — nein, keinen Dank, Huck! — einer von Mr. Jones, der andere von mir. Denk', ſie werden euch beiden paſſen. Zieht ſie an. Wir wollen warten — kommt runter, wenn ihr ſchön genug ſeid.“ Damit ging ſie. 35. Fünfunddreißigſtes Kapitel.