Mark Twain: Die Abenteuer Tom Sawyers 31. Einunddreißigſtes Kapitel. Beim erſten Tagesgrauen am nächſten Tage, einem Sonntagsmorgen, kam Huck den Hügel hinaufgeſchlichen und klopfte leiſe an des Walliſers Tür. Die Inwohner ſchliefen, aber es war infolge der aufregenden Ereigniſſe der Nacht ein ſehr leichter Schlaf. Eine Stimme fragte durchs Fenſter: „Wer da?“ Hucks ſchüchterne Stimme antwortete in leiſem Ton: „Bitte, laß mich 'rein — 's iſt nur Huck Finn.“ „'s iſt ein Name, dem ſich die Tür bei Tag und Nacht öffnen kann, Burſche — und willkommen!“ Dies waren ungewohnte Worte für die Ohren des kleinen Herumſtreichers und die angenehmſten, die er je gehört hatte. Er konnte ſich nicht erinnern, die Schlußworte jemals vorher gehört zu haben. Die Tür wurde ſofort geöffnet und er ſchlüpfte hinein. Huck bekam einen Stuhl, und der Alte und ſeine Enaksſöhne kleideten ſich raſch an. „Nun, mein Junge, hoff', 's geht dir gut und du haſt Hunger, denn 's Frühſtück wird mit der Sonne fertig ſein und 's wird zudem tüchtig heiß ſein — brauchſt keine Sorgen zu haben. Ich und die Jungen hofften, würd'ſt letzte Nacht nochmal wieder hierher kommen.“ „Hatt' zu große Angſt,“ ſagte Huck, „und machte, daß ich fortkam. Lief davon, als die Schüſſe losgingen, und hielt erſt nach drei Meilen an. Jetzt bin ich gekommen, weil ich wiſſen möchte von — Ihr wißt ſchon! und komm' vor Tageslicht, weil ich den Teufeln nicht begegnen möcht, ſelbſt wenn ſie tot wären.“ „Glaub's, armer Kerl, ſiehſt aus, als hättſt du 'ne böſe Nacht hinter dir — na, hier iſt 'n Bett für dich, wenn du gefrühſtückt haſt. Nun — tot ſind ſie nicht, leider — tut uns wahrhaftig leid genug. Du weißt, wir wußten nach deiner Beſchreibung wohl, wo wir ſie am Kragen kriegen würden, ſo ſchlichen wir auf den Zehen bis fünfzehn Schritt von ihnen entfernt — 's war dunkel wie in 'nem Loch — und gerade da fühlt' ich, daß ich nieſen müſſe. 's war wohl grad' der rechte Augenblick! Ich verſucht', es zurückzuhalten, aber keine Möglichkeit, 's wollte kommen und 's kam! Ich war voran, die Piſtole ſchußfertig, und wie nun mein Nieſen die Schufte aufſchreckte, hört ich 'n Raſcheln vor mir, ſo rief ich: „Feuer, Jungens!“ und gab 'nen Schuß, wo die Kerle waren. Ebenſo meine Jungen. Aber wie 'n Wind waren ſie fort, dieſe Halunken; wir hinterher, runter durch den Wald. Denk, wir haben ſie nicht getroffen. Im Laufen gaben ſie noch jeder 'nen Schuß ab, aber die Kugeln fuhren vorbei und taten uns nichts. Sobald wir ſie nicht mehr hörten, gingen wir heim und weckten die Konſtabler. Sie wollten 'ne Treibjagd machen und gingen runter, die Flußufer abzuſuchen, und wenn's hell iſt, woll'n ſie und der Sheriff die Wälder vornehmen. Meine Jungen werden auch dabei ſein. Wollt' nur, wir hätten ſo was wie 'ne Beſchreibung von dieſen Galgenvögeln — 's würd 'n gut Teil helfen. Du konnteſt wohl im Dunkeln nicht ſehen, was es für Kerle waren, denk' ich?“ „Doch — ſah ſie ſchon im Dorf und folgte ihnen.“ „Famos! — Beſchreib' ſie — beſchreib' ſie, mein Junge!“ „Der eine iſt der taubſtumme Spanier, der hier 'n paarmal 'rumgeſchlichen iſt, der andere ein verdächtig ausſehender, zerlumpter —“ „'s iſt genug, Junge, kenne die Kerle ſchon! Traf ſie mal in den Wäldern hinter dem Garten der Witwe, und ſie machten ſich auch gleich davon. Fort mit euch, Burſchen, ſagt's dem Sheriff — könnt euer Frühſtück morgen eſſen!“ Sofort verſchwanden die Söhne des Alten. Als ſie das Zimmer verlaſſen hatten, ſprang Huck auf und rief: „O, bitte, ſagt's niemand, daß ich's war, der ſie aufgeſpürt hat — bitte!“ „Iſt ſchon gut, Huck, wenn du's wünſchſt, aber du ſollſt doch den Lohn für das haben, was du da getan haſt!“ „Ach, nein, nein! {Bitte}, ſagt's nicht!“ „Sie werden's nicht ſagen,“ beruhigte der Alte, „und {ich} auch nicht. Aber {warum} ſoll's keiner wiſſen?“ Huck wollte nichts weiter ſagen, als daß er ſchon zu viel über einen der Strolche wiſſe und nicht wünſchte, daß der von ſeiner Mitwiſſerſchaft Wind bekomme, nicht um die Welt, denn 's wär ſicher, daß er dafür getötet werden würde. Der alte Mann verſprach nochmals Schweigen und ſagte: „Aber, Burſche, wie kamſt du denn drauf, dieſen Gaunern zu folgen? Kamen ſie dir verdächtig vor?“ Huck ſchwieg einen Moment, während er über einer möglichſt unverfänglichen Antwort brütete. Dann ſagte er: „Na, ſeht Ihr, ich bin halt mal 'n ungehobelter Burſche — jeder ſagt's, und ich weiß nicht, was dagegen einzuwenden wäre — und manchmal kann ich nicht ſchlafen vor dem Gedanken daran, und nehm' mir vor, zu verſuchen, mich zu ändern. 's war wieder ſo letzte Nacht. Ich konnt' nicht ſchlafen und ſo kam ich um Mitternacht etwa, drüber nachdenkend, auf die Straße, und wie ich an die alte Mauer beim Temperenzler-Wirtshaus komme, lehn' ich mich ſo, ohne mir was zu denken, dran. Na, gerade in dem Augenblick kamen die beiden Strolche angeſchlichen, dicht an mir vorbei, was unterm Arm tragend; es iſt gewiß geſtohlen, denk ich. Der eine rauchte, der andere wollt' auch Feuer haben; blieben alſo gerade vor mir ſtehn, und beim Anzünden der Zigarren wurden ihre Geſichter erleuchtet, und ich ſah, daß der größere der taubſtumme Spanier war — an den weißen Haaren und dem Pflaſter aus dem Auge, — und der andere war ein roher, zerlumpter Teufel.“ „Konntſt auch die Lumpen beim Leuchten der Zigarren ſehen?“ Dies verwirrte Huck für 'nen Augenblick. Dann ſagte er: „Ja, ich weiß nicht — aber 's {ſchien} mir wenigſten ſo.“ „Dann gingen ſie weiter, und du —?“ „Folgte ihnen — ja, 's war ſo. Wollt' doch ſehen, was ſie vorhätten — ſie ſchlichen ſo verdächtig davon. Ich folgte ihnen bis zum Garten der Witwe und ſtand dort im Dunkeln und hörte den Zerlumpten für die Witwe bitten, und der Spanier ſchwor, er wollt' der Witwe die Naſenlöcher aufſchneiden; gerade ſo wie ich's Euch ſagte und Euren —“ „Was, all das ſagte der taubſtumme Mann!“ Huck hatte wieder einen ſchrecklichen Mißgriff begangen. Er hatte ſich die größtmöglichſte Mühe gegeben, den Alten nicht erraten zu laſſen, wer der Spanier ſei, und doch ſchien ihn ſeine Zunge trotz aller Vorſicht in Ungelegenheiten bringen zu wollen. Er machte krampfhafte Anſtrengungen, aus ſeiner Verwirrung herauszukommen, aber das Auge des alten Mannes haftete auf ihm, ſchärfer und immer ſchärfer. Plötzlich ſagte der Walliſer: „Mein guter Junge, brauchſt dich nicht vor mir zu fürchten, möcht' um alles in der Welt nicht ein Haar auf deinem Haupte krümmen. Nein — ich würd' dich beſchützen — verlaß dich drauf. Dieſer Spanier iſt nicht taubſtumm. Da haſt du dir was entſchlüpfen laſſen. Du weißt was über dieſen Kerl, das du nicht verraten möchteſt. Na, vertrau' dich mir an — ſag' mir, was es iſt, vertrau' mir — werd' dich nicht verraten!“ Huck blickte in des alten Mannes ehrliche Augen, dann beugte er ſich hinüber und flüſterte ihm ins Ohr: „'s iſt kein Spanier — 's iſt der Indianer-Joe!“ Der Walliſer fuhr faſt von ſeinem Stuhl auf. Nach kurzer Pauſe ſagte er dann: „'s iſt jetzt klar genug. Als du von Naſenaufſchlitzen und Ohrenſtutzen ſprachſt, dacht' ich, 's wär deine eigene Erfindung, denn kein Weißer übt ſo 'ne Rache. Aber ein Indianer! Das iſt freilich 'n großer Unterſchied.“ Während des Frühſtücks ging die Unterhaltung weiter, in deren Verlauf der Alte erwähnte, das letzte, was ſie getan hatten, bevor ſie zu Bett gegangen ſeien, ſei geweſen, mit einer Laterne die Kampfſtelle nach Blutſpuren zu unterſuchen. Die hätten ſie nicht gefunden, wohl aber ein dickes Bündel mit — „Mit was?“ Wären die Worte Blitze geweſen, ſie hätten nicht ſchneller aus Hucks bleichen Lippen kommen können. Seine Augen waren weit aufgeriſſen, ſein Atem ſtockte — indem er auf Antwort wartete. Der Walliſer ſtutzte — zögerte mit der Antwort — drei Sekunden — fünf Sekunden — zehn — dann endlich entgegnete er: „Mit Einbrecherwerkzeug. — Nanu, was iſt's mit dir?“ Huck ſank nieder, ſein Herz klopfte ſtürmiſch, aber er war dankerfüllt, unſagbar dankerfüllt. Der Walliſer ſah ihn wieder ſcharf an, erſtaunt, und ſagte: „Ja — Einbrecherwerkzeug. Schien dich mächtig zu freun. Aber was geht das {dich} an? Was dachteſt du denn, was wir gefunden hätten?“ Huck ſaß ſchon wieder in der Klemme. Forſchende Augen richteten ſich wiederum auf ihn — alles hätte er für eine glaubliche Antwort gegeben. Nichts fiel ihm ein; die forſchenden Augen drangen tiefer und tiefer — eine unſinnige Antwort drängte ſich ihm auf — Zeit zur Überlegung gab's nicht, ſo ſtieß er auf gut Glück mit ſchwacher Stimme heraus: „Sonntagsſchulbücher, vielleicht —“ Der arme Huck war zu verwirrt, um lächeln zu können, aber der alte Mann lachte laut und vergnügt, wurde von Kopf bis zu Fuß vom Lachen geſchüttelt und ſagte ſchließlich, ſo ein Lachen wäre gerade ſo gut wie bar Geld in der Taſche, denn es mache jede Doktorrechnung überflüſſig. Dann fügte er hinzu: „Kleiner Dummkopf, biſt ja ganz blaß und zitterſt; biſt nicht wohl. 's iſt kein Wunder, daß du ein wenig aus der Balanze biſt. Aber ſollſt ſchon wieder 'reinkommen. Ruhe und Schlaf wird dich wohl zurechtbringen — hoff' ich.“ Huck ärgerte ſich, daß er ein ſolcher Eſel geweſen und ſolche Aufregung gezeigt hatte, hatte er doch ſeit dem Geſpräch am Gartenzaun der Witwe ohnehin ſchon den Verdacht gehabt, daß jenes Bündel, das er vom Wirtshaus hatte forttragen ſehen, gar nicht ſein Schatz geweſen ſei. Indeſſen hatte er das doch nur {vermutet, gewußt} hatte er es nicht; und ſo war die Erwähnung von der Auffindung des Bündels zuviel geweſen für ſeine Selbſtbeherrſchung. Da er nun aber volle Gewißheit hatte, beruhigte er ſich bald und wurde ganz vergnügt. Der Schatz mußte noch in Nummer zwei ſein, die Kerle würden wohl noch am gleichen Tage erwiſcht werden, ſo konnten er und Tom ohne alle Angſt oder Furcht vor Überraſchung nachts das Geld abholen. Gerade war das Frühſtück beendet, da klopfte es an die Tür. Huck ſprang ſchnell in ein Verſteck, denn er hatte gar keine Luſt, mit den letzten Ereigniſſen in Verbindung gebracht zu werden. Der Walliſer ließ einige Damen und Herren ein, unter ihnen die Witwe Douglas, und ſah dabei noch verſchiedene Gruppen von Bürgern den Hügel heraufklettern, um ſich den Schauplatz anzuſehen. So war alſo die Sache ſchon allgemein bekannt. Er mußte den Beſuchern die Geſchichte der Nacht erzählen, worauf ſich die Witwe Douglas bei ihm bedankte. „Kein Wort davon, Madam. 's iſt noch 'n anderer da, dem Sie mehr zu danken haben als mir und meinen Jungen, denk' ich; aber er hat's mir nicht erlaubt, ſeinen Namen zu ſagen. Ohne ihn wären wir überhaupt gar nicht dazu gekommen.“ Dies rief ſolche Neugier hervor, daß ſchließlich die Hauptſache darüber vergeſſen wurde; aber der Walliſer ließ ſeine Beſucher ſich ruhig die Köpfe zerbrechen und behielt ſein Geheimnis für ſich, auch als das ganze Dorf von der Sache erfuhr. Nachdem alle Einzelheiten erörtert waren, ſagte die Witwe: „Ich las noch vorm Einſchlafen im Bett, dann ſchlief ich ſo feſt, daß ich von all dem Lärm nichts hörte. Warum haben Sie mich nicht geweckt?“ „Hielten's nicht für nötig. Die Schufte würden doch nicht wiederkommen, würden ſich wohl gehütet haben; wozu alſo Sie wecken und zu Tode erſchrecken? Übrigens haben meine drei Nigger die ganze Nacht vor Ihrem Haus Wache gehalten. Da kommen ſie gerade zurück.“ Noch mehr Beſucher kamen, und die Geſchichte mußte während mehrerer Stunden wieder und immer wieder erzählt werden. Während der Schulferien fiel auch die Sonntagsſchule aus, trotzdem war heut alles frühzeitig in der Kirche. Das aufregende Ereignis wurde lebhaft erörtert. Es wurde erzählt, daß noch keine Spur von den Landſtreichern gefunden worden ſei. Als die Predigt zu Ende war, ging die Frau des Richters Thatcher auf Frau Harper zu, die mit der großen Menge den Gang hinunterſchritt, und ſagte: „Will meine Becky denn den ganzen Tag ſchlafen? Habs mir aber wohl gedacht, daß ſie todmüde ſein würde.“ „Ihre Becky?“ „Freilich.“ (Mit erſchrockenem Blick): „Blieb ſie denn abends nicht bei Ihnen?“ „Bewahre.“ Mrs. Thatcher wurde leichenblaß und ſank auf eine Bank in dem Augenblick, als Tante Polly, mit einer Bekannten ſich unterhaltend, vorbeikam. „Guten Morgen, Mrs. Thatcher,“ ſagte ſie, „guten Morgen, Mrs. Harper. Hab' wieder mal 'nen verlorenen Jungen. Denk' wohl, Tom iſt die Nacht im Haus von einer von Ihnen geblieben. Nun hat er Angſt, in die Kirche zu kommen. Werd' wieder mal Abrechnung halten müſſen mit ihm.“ Frau Thatcher ſchüttelte ſchwach den Kopf und wurde noch blaſſer. „Bei uns iſt er nicht geweſen,“ ſagte unſicher Frau Harper. In Tante Pollys Geſicht zeigte ſich merkliche Unruhe. „Joe Harper, haſt du meinen Tom dieſen Morgen ſchon geſehen?“ „Nein, Ma'm.“ „{Wann} haſt du ihn zuletzt geſehen?“ Joe verſuchte ſich zu erinnern, konnt's aber nicht beſtimmt ſagen. Die Leute blieben allmählich, neugierig geworden, ſtehen. Geflüſter entſtand, lebhafte Erregung verbreitete ſich unter ihnen, Kinder wurden ängſtlich ausgehorcht, auch die jungen Wächter. Alle ſagten ſie, ſie hätten nicht acht gegeben, ob Tom und Becky bei der Heimfahrt an Bord geweſen ſeien; es war dunkel geweſen und niemand hatte daran gedacht, ſich zu vergewiſſern, ob auch jemand fehle. Schließlich platzte ein junger Mann damit heraus, ſie möchten noch in der Höhle ſtecken! Frau Thatcher fiel in Ohnmacht, Tante Polly begann zu weinen und die Hände zu ringen. Die ſchrecklichen Worte gingen von Mund zu Mund, von Gruppe zu Gruppe, von Straße zu Straße, und in nicht ganz fünf Minuten hallten die Glocken wild, und die ganze Ortſchaft war in Aufregung. Die Geſchichte von Cardiff Hill wurde zur gleichgültigen Epiſode, die Einbrecher waren vergeſſen, Pferde wurden geſattelt, Boote bemannt, das Dampfboot inſtandgeſetzt, und ehe der allgemeine Schreck eine halbe Stunde alt geworden, waren zweihundert Mann unterwegs, über den Fluß und auf dem Wege zur Höhle. Den ganzen langen Nachmittag ſchien das Dorf tot und verlaſſen. Eine Menge Frauen beſuchten Tante Polly und Frau Thatcher, und verſuchten, ſie zu tröſten. Oder ſie weinten mit ihnen — und das war noch beſſer als alle Worte. Während der ganzen ſchrecklichen Nacht warteten die Frauen auf Nachricht; aber als ſchließlich der Morgen graute, bekam man nichts zu hören als: „Schickt mehr Kerzen und Lebensmittel“ Frau Thatcher war völlig verzweifelt, Tante Polly nicht weniger. Richter Thatcher ſchickte hoffnungsvolle Botſchaften aus der Höhle, aber ſie brachten keine rechte Erleichterung. Gegen Morgen kam der alte Walliſer, mit Lehm und Wachs beſchmiert, nach Hauſe, zu Tode erſchöpft. Er fand Huck noch im Bett, das für ihn hergerichtet worden war, und im Fieber irreredend. Die Ärzte waren alle in der Höhle, ſo kam die Witwe Douglas, um ſich nach dem Patienten umzuſehen. Sie ſagte, ſie wolle ihr Beſtes für ihn tun, denn, ob er nun gut, ſchlecht oder keins von beiden ſei, er ſei Gottes Geſchöpf, und nichts, was von Gott ſei, dürfe man mißachten. Der Walliſer meinte, Huck habe wohl gute Seiten, worauf die Witwe entgegnete: „Sie können ſich darauf verlaſſen. Er trägt des Herren Mal an ſich. {Er} wird ihn nie verlaſſen. Er tut's nie. Er vergißt keine Kreatur, die von ihm ſtammt.“ Früh am Vormittag kamen einzelne Trupps von Männern ins Dorf zurück, die meiſten aber ſuchten noch immer weiter. Alles, was zu berichten war, war, daß man ſo weit wie noch nie jemand in die Höhle vorgedrungen ſei; daß jeder Winkel, jede Spalte aufs ſorgfältigſte abgeſucht worden ſei. Wo man auch gehe in den Irrgängen, überall könne man Lichter nah und fern hin und her huſchen ſehen; Rufe und Piſtolenſchüſſe hätten ihren Schall bis in die tiefſten Gänge hinuntergeſandt. An einer Stelle, fern von dem gewöhnlich beſuchten Teil, hatte man die Namen „Becky“ und „Tom“ mit Ruß an einem Felſen geſchrieben gefunden, und nahe dabei ein beſchmutztes Band. Frau Thatcher erkannte das Band und brach in Tränen aus. Sie klagte, es ſei das letzte Andenken, das ſie von ihrem Kinde haben ſolle, und daß keine andere Erinnerung jemals ſo koſtbar ſein könne; denn dieſes Band war das letzte, was ſie von dem kleinen Körper bekam, bevor ihn der ſchreckliche Tod zerſtörte. Einige behaupteten, man könne in der Höhle zuweilen fernen Lichtſchein ſehen, und dann machte ſich jedesmal ein ganzer Trupp unter lauten Freudenrufen dorthin auf — und dann folgte jedesmal die traurigſte Enttäuſchung. Es ging nicht von den Kindern aus, es war nur das Licht eines Suchenden. Drei ſchreckliche Tage und Nächte ſchleppten ihre unendlichen Stunden dahin, und das Dorf verſank in ſtumme Hoffnungsloſigkeit. Für nichts anderes hatten die Leute Sinn. Die eben gemachte überraſchende Entdeckung, daß der Beſitzer des Temperenzler-Wirtshauſes Spirituoſen im Beſitz habe, erregte kaum ſchwaches Aufſehen, ſo unerhört ſie auch war. In einem lichten Moment begann Huck mit ſchwacher Stimme von Wirtshäuſern im allgemeinen zu ſprechen und fragte ſchließlich, von vornherein das Schlimmſte fürchtend, ob, ſeit er krank ſei, etwas in dem Temperenzler-Wirtshaus entdeckt worden ſei. Die Witwe bejahte. Huck fuhr im Bett in die Höhe, die Augen rollend: „Was — was iſt's?“ „Spirituoſen! Und 's iſt daraufhin zugeſperrt worden. Lieg' ſtill, Kind — wie haſt du mich erſchreckt!“ „Nur noch das ſagen Sie mir — nur {das} noch — bitte: — War's Tom Sawyer, der's entdeckt hat?“ Die Witwe brach in Tränen aus: „Still, ſtill, Kind! habs dir doch geſagt, du {ſollſt} nicht ſprechen. Du biſt ſehr, ſehr krank!“ Alſo war nichts als Schnaps gefunden; wär's das Geld geweſen, hätt's doch ſicher mächtiges Aufſehen erregt. So war alſo der Schatz für immer verloren — für immer! — Aber warum weinte ſie denn? Sonderbar, daß die Frau da weinte. Solche trüben Gedanken gingen Huck durch den Kopf, und infolge der dadurch erzeugten Erſchöpfung ſchlief er ein. Die Witwe dachte bei ſich: „So da — jetzt ſchläft er wieder — armer Kerl! Tom Sawyer es finden! Erbarm' dich — wenn doch jemand den Tom Sawyer finden wollte! Viele gibt's ſicher nicht, die noch Hoffnung oder auch nur Kraft genug haben, auf die Suche zu gehen!“ 32. Zweiunddreißigſtes Kapitel.