Mark Twain: Die Abenteuer Tom Sawyers 26. Sechsundzwanzigſtes Kapitel. In jedes normal veranlagten Jungen Leben kommt eine Zeit, wo er den raſenden Wunſch empfindet, irgendwo nach vergrabenen Schätzen zu ſuchen. Dieſer Wunſch überfiel Tom eines Tages ganz plötzlich. Er machte ſich auf den Weg, um Joe Harper zu ſuchen, hatte aber keinen Erfolg. Dann ſuchte er Ben Rogers; der war zum Fiſchen gegangen. Plötzlich ſtieß er auf Huck Finn, den ‚Bluthändigen‘. Tom ſchleppte ihn an einen verſteckten Ort und vertraute ſich ihm an. Huck war ſofort bereit. Huck war immer bereit, ſich an einem Unternehmen zu beteiligen, das Zerſtreuung verſprach und kein Kapital verlangte, denn er hatte ſchrecklichen Überfluß von der Art Zeit, die {nicht} Geld iſt. „Wo wollen wir graben?“ fragte Huck. „O — halt überall.“ „Was, iſt überall welches vergraben?“ „Ach was, das nicht! 's iſt an ganz beſonderen Plätzen vergraben, Huck — manchmal auf Inſeln, manchmal in alten verfaulten Kiſten, unter den Wurzeln eines abgeſtorbenen Baumes, grad' da, wohin der Schatten bei Mondſchein fällt; beſonders aber unter dem Fußboden in 'nem verfallenen Haus.“ „{Wer} vergräbt's denn?“ „Na, Räuber ſelbſtverſtändlich — was dachtſt du denn? Sonntagsſchul-Lehrer?“ „Weiß nicht. Wenn's mir gehörte, ich würd's nicht vergraben. Ich würd's ausgeben und mir 'ne luſtige Zeit machen.“ „Tät' ich auch. Aber Räuber tun's nicht, die vergraben's immer und laſſen's liegen.“ „Kommen ſie gar nicht mehr hin?“ „Nein, — ſie denken wohl, ſie {wollen} wieder hinkommen, aber dann haben ſie die Zeichen vergeſſen oder ſind auch inzwiſchen geſtorben. Manchmal liegt's 'ne lange, lange Zeit da und wird roſtig. Und ſchließlich find' dann mal jemand ſo 'n altes vergilbtes Papier, da muß er über 'ne Woche drüber brüten, denn 's ſind ſchwere Zeichen und Hieroglyphen drauf geſchrieben.“ „Hiero — was?“ „Hieroglyphen — Bilder und Zeug, weißt du, das gar nichts vorzuſtellen ſcheint.“ „Haſt du ſchon mal ſo 'n Papier gehabt, Tom?“ „Nee.“ „Na, wie willſt du denn die Zeichen rauskriegen?“ „Ach was, brauch' keine Zeichen. Sie vergraben's ja immer unter 'nem verfallnen Haus oder auf 'ner Inſel oder unter 'nem abgeſtorbenen Baum, der 'ne Wurzel von ſich ſtreckt. Na, wir haben's ja ſchon mal mit der Jackſon-Inſel verſucht und können ja leicht noch mal hingehn; und dann iſt da das alte verfallne Haus auf dem Stillhaus-Hügel, und dann gibt's 'ne Menge Wurzeln von toten Bäumen — maſſenhaft!“ „Iſt unter allen was?“ „Was ſchwatzt du! Nee!“ „Woher kannſt du denn wiſſen, wohin wir gehen müſſen?“ „Na — zu allen!“ „Verflucht, Tom — 's wird den ganzen Sommer dauern.“ „Na, was ſchad's? Denk', du findſt 'nen Meſſingtopf, ganz roſtig oder 'ne verfaulte Kiſte voll Diamanten — he?“ Hucks Augen glänzten. „Wär' grad' was für mich, Tom, wär' ganz extra was für mich! Ader die Diamanten nehm' ich nicht für hundert Dollars!“ „Na, ſchon gut. Aber {ich} würd' die Diamanten nicht verſchmähn! Einige von ihnen ſind zwanzig Dollar wert. Alle nicht — aber auch die andern ſind ſechs Cent bis 'nen Dollar wert.“ „Nee — iſt das ſo?“ „Sicher — alle ſagen's. Haſt du nie einen geſehn, Huck?“ „Nicht, daß ich wüßte.“ „O, Könige haben Haufen davon.“ „Na, ich kenn' aber keinen König, Tom!“ „Denk' wohl, daß du keinen kennſt. Aber, wenn du nach Europa gingſt, würdſt du 'ne Menge rumhüpfen ſehn.“ „Hüpfen die?“ „Hüpfen, du Schafskopf? Nee!“ „Na — warum {ſagteſt} du denn, daß ſie's täten?“ „Nachtmütze! Meint' doch nur, du würdſt ſie {ſehn}, — nicht hüpfend natürlich — warum ſollten ſie denn hüpfen? Meint' nur, du würdſt ſie ſehn — überall, verſtehſt du — überall! Zum Beiſpiel beim alten buckligen Richard.“ „Richard? Wie iſt ſein anderer Name?“ „Er {hat} keinen anderen Namen — Könige haben nur 'nen Vornamen.“ „Nicht?“ „Aber nein — ſag' ich dir!“ „Na, wenn's ſo iſt, Tom, meinetwegen. Aber ich möcht' nicht König ſein und nur 'nen Vornamen haben wie 'n Nigger. Aber, ſag mal — wo willſt du zuerſt graben?“ „Weiß noch nicht. Denk' wir nehmen den abgeſtorbenen Baum auf dem Hügel hinter Stillhaus?“ „Mir recht.“ So trieben ſie denn eine ausrangierte Hacke und eine Schaufel auf und machten ſich auf den Weg von drei Meilen. Sie kamen heiß und erſchöpft an und warfen ſich im Schatten einer benachbarten Ulme nieder, um auszuruhen und ein bißchen zu rauchen. „So gefällts mir,“ meinte Tom. „Mein' ich auch.“ „Sag', Huck — wenn wir hier 'nen Schatz finden, was machſt du mit deiner Hälfte?“ „Na, dann muß ich jeden Tag 'ne Paſtete und 'n Glas Sodawaſſer haben, und dann geh' ich in jeden Zirkus, der herkommt. Soll 'ne famoſe Zeit werden!“ „Na, und du willſt gar nichts ſparen?“ „Sparen? Wozu?“ „Nu, damit du ſpäter mal was zu leben haſt!“ „Ach, das iſt ja Unſinn! Pap wird eines ſchönen Tags in dies liebliche Neſt zurückkommen und ſeine Klauen drüber legen, wenn ich's noch nicht verbraucht hätt', und ich ſag' dir, {er} hätt's bald genug durchgebracht. Was willſt du tun, Tom?“ „Ich werd' mir 'ne neue Trommel kaufen und 'n richtiges Schwert und 'n rotes Halstuch, und 'ne junge Bulldogge — und dann würd' ich heiraten.“ „Heiraten!!?“ „Na ja!“ „Tom, du — na, wenn du nicht recht bei Verſtand biſt!“ „Wart' nur — wirſt's ja ſehn.“ „Na, das iſt doch 's Dümmſte, was du tun könnteſt. Sieh doch nur meinen Pap und ſeine Alte. Teufel — was die ſich prügeln! Weiß noch ganz gut!“ „Das iſt 'n anderes Ding. Das Mädchen, das ich heiraten will, prügelt ſich nicht!“ „Tom — denk' doch, ſie ſind alle gleich! Wollen einen alle ſtriegeln. Wirſt nach 'ner Weile wohl vernünftiger drüber denken. Wie heißt denn 's Mädel?“ „'s iſt überhaupt kein {Mädel} — 's iſt 'n {Mädchen}!“ „Denk' doch, 's iſt alles eins; die einen ſagen Mädel, die anderen Mädchen — 's iſt ganz gleich. Aber wie heißt ſie denn, Tom?“ „'n andermal, ſag' ich's dir, Huck — jetzt nicht.“ „Na — 's auch recht. Aber wenn du heirateſt, werd' ich noch einſamer ſein.“ „Unſinn, Huck, du kommſt zu mir und wohnſt hier. — Na, genug davon, wollen wir anfangen, zu graben?“ Sie arbeiteten und ſchwitzten eine halbe Stunde hindurch. Kein Reſultat. Sie mühten ſich noch eine halbe Stunde. Noch kein Erfolg. Huck meinte: „Graben ſie immer ſo tief?“ „Manchmal — nicht immer. Denk, wir haben nicht die rechte Stelle erwiſcht.“ Sie wählten eine andere Stelle und begannen nochmals. Die Arbeit ſtockte diesmal ein bißchen, aber ſie kamen doch vorwärts. Wieder gruben ſie ſtillſchweigend eine Zeitlang. Schließlich lehnte ſich Huck auf ſeine Schaufel, wiſchte den Schweiß von ſeiner Stirn und ſagte: „Wo woll'n wir graben, wenn wir hier fertig ſind?“ „Denk', wir woll'n den alten Baum über Cardiff Hill — hinter dem Haus der Witwe nehmen.“ „Glaub's auch, daß dort was iſt. Aber, wenn's die Witwe uns fortnimmt, Tom? 's iſt {ihr} Land.“ „Sie wegnehmen! Soll ſie's doch nur verſuchen! Wenn einer ſo 'nen vergrabenen Schatz findet, gehört er ihm. Ich mach' keinen Unterſchied, wem das Land grad' gehört.“ Das war beruhigend. Die Arbeit wurde fortgeſetzt. Dann ſagte Huck wieder: „Verdammt — wir müſſen wieder an 'nem falſchen Platz ſein. Was meinſt du?“ „'s iſt wirklich ſonderbar, Huck. Verſteh's nicht. Manchmal ſtören's die Hexen. Denk' 's wird {das} ſein, was uns hier ſtört.“ „Unſinn, Hexen haben tags keine Macht!“ „Na ja, 's iſt wahr! Dachte nicht dran. Halt — jetzt weiß ich, wie's iſt! Was für verdammt große Schafsköpfe wir ſind! Man muß ja doch erſt wiſſen, wohin der Schatten bei Mondſchein fällt, und {da} muß man dann graben!“ „Na ja, dann glaub' ich's, daß wir all die Arbeit umſonſt gemacht haben. Jetzt hol's der Teufel alles, müſſen halt zur Nachtzeit wiederkommen. 's iſt 'n verteufelt weiter Weg. Kannſt du fortkommen?“ „Werd's ſchon machen. Dieſe Nacht woll'n wir's alſo machen, denn wenn jemand dieſe Gruben da ſieht, weiß er doch gleich, was da los iſt und gräbt's ſelbſt aus.“ „'s iſt gut, ich werd' nachts kommen und miauen.“ „Recht — aber jetzt wollen wir noch das Werkzeug in den Büſchen verſtecken.“ Nachts, zur verabredeten Stunde waren die Jungen wieder da. Wartend ſaßen ſie im Schatten. Es war ein einſamer Platz und eine durch lange Tradition unheimlich gewordene Stunde. Geiſter wiſperten im raſchelnden Laub. Geiſter ſpukten in allen Ecken, das klagende Heulen eines Hundes tönte aus einiger Entfernung herüber, eine Eule antwortete mit Grabesſtimme. Die Jungen fühlten ſich von ihrer unheimlichen Umgebung bedrückt und ſprachen nur mit leiſer Stimme. Schließlich nahmen ſie an, es möchte zwölf Uhr ſein; ſie bezeichneten die Stelle, wohin der Schatten fiel und begannen zu graben. Ihre Hoffnung wuchs; das Intereſſe wurde lebhafter, und ihr Fleiß hielt gleichen Schritt. Das Loch wurde tiefer und tiefer, aber ſo oft ihre Herzen zu klopfen begannen, wenn ein ſcharfer Ton von unten hervordrang, erfuhren ſie eine neue Enttäuſchung. Jedesmal war's nur ein Stein oder Holzſtrunk. Schließlich ſagte Tom: „'s iſt nicht richtig. Huck, wir haben's wieder verfehlt!“ „Unſinn, wir {können} 's nicht verfehlt haben. Wir haben doch den Schatten zu genau getroffen.“ „Ja, ich weiß, aber vielleicht iſt ſonſt was ſchuld.“ „Was denn?“ „Wir haben die Zeit bloß abgeſchätzt. Leicht genug war's ſpäter oder früher.“ Huck ließ die Schaufel ſinken. „Das iſt's.“ ſagte er. „Das iſt's, was uns geſtört hat. Wir müſſen's aufgeben. Wir können doch nicht immer die rechte Zeit abpaſſen, und dann, das Ding hier iſt zu unheimlich, hier dieſe Nachtzeit mit Geiſtern und Geſpenſtern, die um einen rumfliegen. Ich bild' mir immer ein, 's iſt wer hinter mir, und hab' doch Angſt, mich umzuſehn, denn 's könnten auch welche vor mir ſein und nur auf 'ne Gelegenheit warten. So lang' ich hier bin, läuft's mir kalt über.“ „Na, mir iſt's nicht viel beſſer gegangen, Huck. Meiſtens haben ſie 'nen toten Mann begraben, wo ſie ihre Schätze hintun, der muß drauf achthaben.“ „Herr Gott!“ „Ja, 's iſt ſo. Hab' immer ſo ſagen gehört.“ „Tom, möcht mir doch nicht viel zu ſchaffen machen, wo 'n Toter liegt. So 'n toter Schädel könnt' einem doch hölliſch Angſt machen.“ „Möcht' keinen aufſtöbern, Huck. Zu denken, daß hier plötzlich einer den Kopf rausſtreckt und anfängt, zu ſprechen.“ „Still, Tom — 's iſt ſchrecklich!“ „Na, das iſt's gewiß, Huck. Würd' mich auch nicht gemütlich dabei fühlen!“ „Du, Tom, komm, wollen's hier ſein laſſen, und 's wo anders verſuchen.“ „Ja, ich denk' auch, 's wird beſſer ſein.“ „Wo denn?“ Tom dachte eine Weile nach und ſagte: „Das Beinhaus — das iſt's.“ „Teufel! Beinhäuſer lieb' ich gar nicht, Tom! Da ſind Geſpenſter, und die ſind noch ſchlimmer als Tote. Tote können vielleicht mal 'n bißchen ſchwatzen, aber ſie fahren nicht herum und kommen nicht 'rangeſchlichen, wenn man nicht dran denkt und gucken einem nicht plötzlich über die Schulter und knirſchen nicht mit den Zähnen, wie Geſpenſter tun. Ich könnt's nicht ertragen, Tom — niemand könnt's.“ „Ja; aber, Huck, Geiſter dürfen nur nachts herumhuſchen — bei Tage können ſie uns nicht hindern, da zu graben.“ „Ja, das iſt wohl ſo. — Aber du weißt wohl, daß überhaupt niemand gern in die Nähe vom Beinhaus geht — weder bei Tag noch bei Nacht.“ „Na, 's iſt aber doch nur, weil ſie nicht hingehen mögen, wo mal einer gemordet worden iſt. Aber 's hat doch nie jemand was Verdächtiges im Beinhaus geſehn — nur 'n bißchen blaues Licht im Fenſter — keine Geiſter.“ „Na, ich ſag' dir, Tom, wo du ſo 'n blaues Licht ſiehſt, kannſt du ſicher ſein, daß da 'n Geiſt dahinter ſteckt. 's iſt doch mal ſo bekannt. So 'n Licht, weißt du, braucht niemand als Geſpenſter.“ „'s iſt wahr, Huck. Aber bei Tag' kommen ſie doch nicht 'raus; da brauchen wir uns doch nicht zu fürchten?“ „Na, meinetwegen, wenn du meinſt, woll'n wir 's Beinhaus vornehmen — aber — aber ich denk doch, 's iſt gewagt.“ Inzwiſchen waren ſie den Hügel hinuntergekommen. Dort, mitten im Mondlicht, im Tal ſtand das Beinhaus vor ihnen, gänzlich einſam, die Umzäunung längſt zerbrochen, die Tür umgeben von allerhand Schlinggewächſen, das Dach halb zerfallen, leere Fenſterhöhlen und der Schornſtein eingeſunken. Die Jungen ſtanden eine Weile ſtill, halb in der Erwartung, ein blaues Licht in den Fenſtern zu ſehen; ſie ſprachen, wie Zeit und Umſtände es verlangten, mit halber Stimme. Dann machten ſie, daß ſie fortkamen, umkreiſten das unheimliche Gebäude in weitem Bogen und ſchlichen durch den Wald von Cardiff Hill nach Hauſe. 27. Siebenundzwanzigſtes Kapitel.