Tom ſchloß ſich dem neuen Orden der „Kadetten der Enthaltſamkeit“ an, angezogen durch die glänzende Pracht ihrer „Uniform“. Er verſprach, ſich des Rauchens, Tabakkauens und Fluchens, ſo lange er Mitglied des Vereins ſein würde, zu enthalten. Dabei machte er eine Entdeckung, nämlich, daß das Verſprechen, etwas nicht zu tun, das ſicherſte Mittel von der Welt ſei, einen in Verſuchung zu bringen, hinzugehen und es gerade zu tun. Tom empfand ſehr bald das glühende Verlangen, zu trinken und zu fluchen; der Wunſch wurde bald ſo ſtark, daß nichts als die Ausſicht, mit ſeiner roten Schärpe prunken zu können, imſtande geweſen wäre, ihn von dem Wiederauſtritt aus dem Orden abzuhalten. Der vierte Juli (Anmerkung: Der 4. Juli 1776 iſt der Tag der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten.) ſtand nahe bevor. Bald aber gab er es auf — gab es auf, ehe er ſeine Feſſeln volle 48 Stunden getragen hatte, um ſeine Aufmerkſamkeit dem alten Richter Frazer, dem Friedensrichter, zuzuwenden, der augenſcheinlich auf dem Totenbett lag und gewiß ein großartiges öffentliches Begräbnis bekommen würde, da er doch ein ſo hoher Beamter war. Während dreier Tage war Tom ganz von des Richters Befinden eingenommen und hungrig nach Neuigkeiten darüber. Manchmal ſtieg ſeine Hoffnung ſo hoch, daß er drauf und dran war, ſeine Uniform hervorzuholen und vor dem Spiegel darin Probe zu halten. Aber der Richter hatte eine abſcheuliche Art, ſich zu beſinnen. Schließlich wurde er beſſer und ſchließlich Rekonvaleszent. Tom war ſehr verſtimmt und fühlte ſich obendrein beleidigt. Schließlich „reſignierte“ er und in der nächſten Nacht bekam der Richter einen Rückfall und ſtarb. Tom nahm ſich vor, in ſolchen Dingen keinem Menſchen mehr zu trauen. Das Begräbnis war großartig. Die Kadetten paradierten auf eine Art, die geeignet war, das bisherige Mitglied vor Neid umkommen zu laſſen.
Indeſſen war Tom wieder ein freier Burſch. Das war das Gute dran. Er konnte trinken und fluchen, fand aber zu ſeiner Überraſchung, daß er gar keine Luſt dazu hatte. Die bloße Tatſache, daß er's durfte, nahm ihm den Wunſch dazu und machte die Sache reizlos.
Tom machte plötzlich die überraſchende Bemerkung, daß die erſehnten Ferien anfingen, ihn zu langweilen. Er begann ein Tagebuch, aber da ſich innerhalb dreier Tage nichts ereignete, ſo gab er's wieder auf.
Dann kam die erſte ſchwarze Sängergeſellſchaft ins Dorf und erregte Aufſehen. Tom und Joe Harper traten in Verbindung mit der Bande und waren für zwei Tage glücklich.
Selbſt der berühmte Vierte war in gewiſſem Sinne eine Enttäuſchung, denn es regnete ſtark; infolgedeſſen fand kein Umzug ſtatt, und der größte Mann der Welt (wie Tom glaubte), Mr. Benton, ein Senator der Vereinigten Staaten, bereitete ihm eine niederſchmetternde Enttäuſchung, denn er war nicht 25 Fuß hoch, auch nicht einmal annähernd.
Ein Zirkus kam. Die Jungen ſpielten drei Tage Zirkus in Zelten, die aus zerlumpten Teppichen beſtanden, — Entree: drei Penny für Jungen, zwei für Mädchen — und dann wurde das Zirkusſpielen langweilig.
Ein Phrenologe und ein Taſchenſpieler kamen — und gingen wieder und ließen das Dorf langweiliger und öder zurück, als es vorher geweſen war.
Becky Thatcher war nach ihrem Konſtantinopeler Hauſe gereiſt, um während der Ferien bei ihren Eltern dort zu bleiben — ſo hatte denn das Leben keine einzige Lichtſeite mehr.
Das ſchreckliche Geheimnis des Mordes genoß immer noch trauriges Intereſſe. Es war ein Gegenſtand beſtändiger Aufregung.
Dann kamen die Maſern.
Während zweier langen Wochen lag Tom als Gefangener, tot für die Welt und ihr Treiben. Er war ſehr krank, gleichgültig gegen alles. Als er wieder auf den Füßen war und noch ganz ſchwach durch das Dorf wankte, war eine traurige Veränderung mit allen Dingen und Lebeweſen vorgegangen. Es hatte eine „Wiedergeburt“ ſtattgefunden, und alles war „fromm geworden“, nicht nur die Erwachſenen, ſondern auch die Buben und Mädel. Tom ſtrich herum, in der Hoffnung, auf ein Geſicht, das in ſeiner Sündhaftigkeit ſich wohl fühle, zu ſtoßen. Er fand Joe Harper in der Bibel leſend und floh traurig vor ſolchem niederdrückenden Schauſpiel. Er ſuchte Ben Rogers und traf ihn, wie er die Armen mit einem Korb voll Traktätchen heimſuchte. Darauf fahndete er auf Jim Hollis, der ihm zeigte, wie ſeine wunderbare Errettung von den Maſern eine Warnung ſei. Jeder einzelne Junge, mit dem er zuſammenkam, trug das Seinige dazu bei, ihn vollends niedergeſchlagen zu machen; und als er in voller Verzweiflung davonrannte, um am Buſen Huck Finns Zuflucht zu ſuchen — und mit einem Bibelſpruch empfangen wurde, brach ſein Herz, er kroch nach Hauſe und zu Bett, in der Überzeugung, daß er allein von dem ganzen Dorfe verloren, für immer und ewig verloren ſei.
Und in der Nacht ſetzte es einen ſchrecklichen Sturm, der den Regen vor ſich hertrieb, mit furchtbaren Donnerſchlägen und blendenden Blitzen. Er ſteckte den Kopf unter die Bettdecke und erwartete in ängſtlicher Ungewißheit ſein Schickſal; denn ihm kam nicht ein Schatten von Zweifel, daß dieſes ganze Donnerwetter ihm gelte. Er glaubte, die Geduld der himmliſchen Mächte allzuhoch taxiert zu haben — und dies war die Folge davon. Es würde ihm als lächerliche Kraftverſchwendung erſchienen ſein, eine Wanze mit Kanonen töten zu wollen, aber das ſchien ihm doch noch nichts, wenn er bedachte, daß ein ſo ſchreckliches Gewitter nötig ſein ſollte, um ein Inſekt gleich ihm zu vernichten.
Allmählich tobte ſich der Sturm aus und legte ſich ganz, ohne ſeinen Zweck erfüllt zu haben. Der erſte Antrieb Toms war, dankbar zu ſein und ſich zu beſſern. Sein zweiter war, zu warten — denn vielleicht würde ſobald kein Unwetter wieder losbrechen.
Am anderen Tage war der Doktor wieder da. Tom hatte einen Rückfall. Die drei Wochen, die er ſo ſtill liegen mußte, ſchienen ihm ein ganzes Menſchenalter. Als er ſchließlich doch wieder aufſtand, war er kaum dankbar, daß er geſchont worden war, da er ſich ſagen mußte, wie einſam er ſei, wie freundlos und verlaſſen. Zwecklos ſtrich er durch die Gaſſen und fand Jim Hollis in einem jugendlichen Gerichtshof, der eine Katze als Mörderin verurteilen ſollte, den Richter machend. Das Opfer, ein Vogel, lag dabei. Joe Harper und Huck Finn traf er ſpazieren gehend und eine geſtohlene Melone verzehrend. Arme Jungen — ſie hatten, wie Tom, einen Rückfall zu erdulden.