Mark Twain: Die Abenteuer Tom Sawyers 22. Zweiundzwanzigſtes Kapitel. Die Ferien nahten heran. Der Lehrer, immer ſtreng, wurde jetzt noch ſtrenger und genauer, denn er wollte ſich am Examenstage mit ſeiner Schule von der beſten Seite zeigen. Rute und Lineal kamen jetzt ſelten zur Ruhe — beſonders bei den kleinen Burſchen. Nur die größten Jungen und die jungen Damen von achtzehn bis zwanzig kamen ohne Prügel davon. Und Mr. Dobbins' Prügel waren noch dazu ganz ausgeſucht. Denn obwohl er unter ſeiner Perücke einen vollkommen kahlen und glänzenden Schädel barg, ſtand er doch erſt in mittleren Jahren und fühlte durchaus noch keine Schwäche in ſeinen Muskeln. Als der große Tag herannahte, trat alle Tyrannei, die in ihm war, zutage; er ſchien ein grauſames Vergnügen daran zu finden, das kleinſte Verbrechen zu beſtrafen. Die Folge davon war, daß auch die kleinſten Burſchen ihre Tage in Schrecken und Angſt verbrachten, ihre Nächte in finſterem Rachebrüten. Sie ließen ſich keine Gelegenheit entgehen, dem Lehrer einen Streich zu ſpielen. Aber er blieb ſtets Sieger. Die Vergeltung, welche jeder Rachetat folgte, war ſo ausgiebig und großartig, daß die Jungen ſtets ſchmählich geſchlagen den Kampfplatz verließen. Schließlich zettelten ſie eine gemeinſame Verſchwörung an und heckten einen Plan aus, der einen blendenden Erfolg verſprach. Sie entdeckten ſich dem Anſtreicherlehrling, ſetzten ihm ihre Idee auseinander und forderten ſeine Beihilfe. Der hatte ſeine eigenen Gründe, davon entzückt zu ſein, denn der Lehrer wohnte in ſeines Vaters Familie und hatte ihm hinreichend Anlaß gegeben, ihn zu haſſen. Des Lehrers Frau wollte in wenigen Tagen zu einem Beſuch aufs Land gehen, und ſo ſtand der Ausführung des Planes nichts entgegen. Der Lehrer pflegte ſich für große Gelegenheiten dadurch vorzubereiten, daß er ſich einen hübſchen kleinen Rauſch zulegte, und der Anſtreicherlehrling ſagte, daß, wenn am Examenstage des Lehrers Zuſtand die rechte Höhe erreicht haben würde, er die Sache ſchon machen wolle, während jener ſeinen Nicker mache; er wolle ihn dann noch eben zur rechten Zeit wecken und zur Schule expedieren. Als die Zeit erfüllet war, trat dann das intereſſante Ereignis ein. Um acht Uhr des Abends war das Schulhaus feſtlich erleuchtet und mit Girlanden und Feſtons von Papier und Blumen geſchmückt. Der Lehrer thronte in ſeinem großen Seſſel auf einem erhöhten Podium, die ſchwarze Tafel hinter ſich. Er ſah leidlich angeheitert aus. Zwei Reihen Bänke auf jeder Seite und ſechs ihm gegenüber wurden durch die Würdenträger des Ortes und die Eltern der kleinen Geſellſchaft eingenommen. Zu ſeiner Linken, hinter den Reihen der Erwachſenen, war für dieſe Gelegenheit eine geräumige Plattform aufgeſtellt, auf der die Schüler ſaßen, die an den Übungen des Abends teilnehmen ſollten. Reihen von kleinen Stöpſeln zu einem höchſt unleidlichen Zuſtand des Mißbehagens zurecht gewaſchen und angezogen; Reihen von tölpelhaften größeren Jungen; weiß-ſtrahlende Bänke von Mädchen und jungen Damen, in Leinen und Muſſelin gekleidet und augenſcheinlich ſtolz auf ihre nackten Arme, ihren von der Großmama geerbten Schmuck, ihr Spitzwerk von rotem und blauem Band, und die Blumen in ihrem Haar. Der Reſt des Saales war von unbeteiligten Schülern und Schülerinnen angefüllt. Die Prüfung begann. Ein ſehr kleiner Bengel ſtand auf und deklamierte mit ſchafsmäßigem Geſicht: Kaum glaubt ihr, daß ſo'n kleiner Mann // Hier vor euch ſtehn und ſprechen kann — usw. ſich ſelbſt mit den peinlich abgemeſſenen, krampfhaften Bewegungen begleitend, wie ſie eine Maſchine gemacht haben würde — noch dazu eine etwas aus der Ordnung geratene Maſchine. Aber er ſchlüpfte leidlich, wenn auch zu Tode geängſtigt, durch und erhielt 'ne hübſche Menge Applaus, als er ſeine gezwungene Verbeugung produzierte und ſich zurückzog. Ein kleines, verſchämtes Mädchen liſpelte darauf: „Mary hat ein kleines Lamm“ usw., machte einen mitleiderregenden Knicks, erhielt ebenfalls ihren Anteil am Beifall und ſetzte ſich, hochrot und glücklich. Jetzt trat Tom mit gemachter Zuverſicht vor und begann mit donnerndem Pathos das unverwüſtliche „Gib mir Freiheit oder Tod —“ unter wilden, wahnwitzigen Gebärden zu deklamieren — und blieb in der Mitte ſtecken. Lähmende Angſt packte ihn, die Knie zitterten unter ihm, er war nahe daran, zu erſticken. Es iſt wahr, er hatte des Hauſes Sympathie für ſich, aber auch des Hauſes Schweigen, was ebenſo ſchwer wog wie jene. Der Lehrer runzelte die Stirn, und das vervollſtändigte ſeine Verwirrung. Tom kämpfte noch 'ne Weile und dann marſchierte er ab, völlig geſchlagen. Ein ſchwacher Verſuch des Beifalls erſtarb bald wieder. Es folgte: „Der Knabe ſtand auf brennendem Deck“, „Hernieder kam einſt Aſſurs Macht“ und andere deklamatoriſche Perlen. Dann wurden Leſeübungen ſowie ein Buchſtabier-Gefecht vorgeführt. Die kleine Lateinklaſſe beſtand mit Ehren. Der Hauptſchlager des Abends kam jedoch jetzt erſt, die „Originalaufſätze“ der jungen Damen. Der Reihe nach trippelten ſie vor bis zum Rand der Plattform, räuſperten ſich, hoben ihr Manuskript (von einem zierlichen Band zuſammengehalten) und begannen mit lobenswerter Beachtung des Ausdrucks und der Satzzeichen zu leſen. Die Themata waren dieſelben, die bei ähnlichen Gelegenheiten vor ihnen von ihren Mamas, Großmamas und zweifellos all ihren weiblichen Vorfahren bis zurück zu den Kreuzzügen, gewählt worden waren. „Freundſchaft“ hieß eins, „Erinnerungen früher Tage“ ein anderes; dann „Die Religion in der Geſchichte“, „Das Land der Träume“, „Die Vorteile der Kultur“, „Vergleiche der politiſchen Staatsformen“, „Melancholie“, „Letzte Liebe“, „Wünſche des Herzens“ usw. Ein vorwiegender Zug in all dieſen Aufſätzen war eine erzwungene, aufdringliche Schwermut; ein anderer verſchwenderiſcher Gebrauch hochtrabender, geſchwollener Redensarten; ferner die Manier, Worte und Bilder zu Tode zu hetzen; was ſie aber ganz beſonders unerträglich machte, waren die unleidlichen, ſalbungsvollen Moralpauken, womit jeder, aber auch jeder abſchloß. Was auch der Gegenſtand ſein mochte, jedesmal gab's ſchließlich die krampfhafteſten Anſtrengungen, ihn in ſolche Betrachtungen auslaufen zu laſſen, damit Tugend und Frömmigkeit der Verfaſſerin nur ja gehörig ins rechte Licht gerückt würden. Die offenbare Verlogenheit dieſer Machwerke war aber doch nicht imſtande, Widerwillen gegen derartige Verwirrungen des Schulunterrichts zu erzeugen, und iſt es überhaupt heutzutage nicht; wahrſcheinlich war es überhaupt immer ſo, ſolange die Welt ſteht. Es gibt einfach keine Schule unſeres Landes, wo ſich die jungen Mädchen nicht verpflichtet fühlen, ihre Aufſätze mit ſolch einem Sermon zu ſchließen. Und man wird finden, daß die Sermone der verlogenſten und am wenigſten wirklich religiöſen Mädchen immer und ausnahmslos die längſten und frömmſten ſind. Aber genug davon. Ein Prophet gilt ja nichts in ſeinem Vaterlande. Kehren wir zum Examen zurück. Der erſte der vorgeleſenen Aufſätze betitelte ſich: „Iſt dies das Leben?“ Vielleicht kann der Leſer einen Auszug daraus vertragen. „Mit welch überſchwenglichen Gefühlen pflegt der jugendliche Geiſt vorwärts auf all die zu erwartenden Freudenfeſte des Lebens zu ſchauen! Die Einbildungskraft iſt geſchäftig, roſig gefärbte Bilder der Freude zu malen. Im Geiſte ſieht ſie ſich als Günſtling des Glückes, ſieht ſie ſich inmitten ſtrahlender Feſtlichkeiten, „die Siegerin aller Siegerinnen“. Ihre reizende Figur, in entzückende Kleider gehüllt, wirbelt durch alle Irrwege berauſchender Tänze. Ihr Auge iſt das glänzendſte, ihr Fuß der leichteſte in der ganzen jugendſchönen Geſellſchaft. In ſolch entzückenden Träumen rinnt die Zeit raſch und angenehm dahin, und die erſehnte Stunde ihres Eintrittes in die erſehnte Welt, von der ſie ſo vielverſprechend geſchwärmt hat, ſchlägt. Wie märchenhaft erſcheint alles ihren entzückten Blicken! Jedes neue Erlebnis ſcheint ihr ſchöner als das letzte. Aber bald findet ſie, daß unter dieſer verlockenden Hülle alles leer und ſchal iſt. Schmeichelei, die einſt ihren Stolz kitzelte, wirkt jetzt verletzend auf ihr Ohr. Der Ballſaal hat ſeinen Reiz eingebüßt; und mit verwüſteter Geſundheit und gebrochenem Herzen wendet ſie ſich ab, in dem Bewußtſein, daß irdiſche Freuden die Bedürfniſſe der Seele nicht befriedigen können!“ Und ſo weiter, und ſo weiter. Von Zeit zu Zeit, während der Vorleſung, gab es kurzes Beifallsklatſchen, von leiſe geflüſterten Ausrufen, wie: „Wie ſüß!“ „Äußerſt gewandt!“ „So wahr!“ usw. begleitet, und nachdem die Sache mit einer beſonders niederſchmetternden moraliſchen Nutzanwendung beendet war, war der Applaus geradezu enthuſiaſtiſch. Worauf ein ſchmächtiges, melancholiſches Mädchen, deſſen Geſicht die intereſſante Bläſſe beſaß, die von Pillen und ſchlechter Verdauung herrührt, vortrat und ein ſogenanntes Gedicht vorlas. Zwei Verſe davon werden genügen. Abſchied eines Miſſouri-Mädchens von Alabama „Leb wohl, Alabama! Wie liebe ich dich! // Doch jetzt für 'ne Weile muß meiden ich dich! // Die Trauer um dich erfaßt mich mit Macht, // Sie hat mich um alle Freude gebracht! // Deine blühenden Wälder, wie oft ſah ich ſie, // Die Ströme und Seen — ich vergeſſe ſie nie! // Ich lauſchte ſo gerne dem Rauſchen der Flut // Und friſchte mich auf in Auroras Glut. // Warum verbergen mein übervoll Herz? // Warum nicht zeigen den brennenden Schmerz! // Ich ſcheide ja nicht aus fremdem Land, // Ich reich' ja nur Freunden die ſcheidende Hand! // hier war ich zu Hauſe, hier liebte man mich, // Du Tal meiner Heimat, nun meide ich dich! // Und wenn ſie dich ſchmähen, die nie dich gekannt, // So muß ich verſtummen — mein teures Land!!“ Eine dunkelhäutige, ſchwarzäugige und ſchwarzhaarige junge Dame war die nächſte, machte eine ausdrucksvolle Pauſe, nahm eine tragiſche Poſe ein und begann in gehaltenem Ton zu leſen. Eine Viſion „Dunkel und ſtürmiſch war die Nacht. Am ganzen Himmelszelt glänzte nicht ein einziger Stern, aber der dumpfe, tiefe Ton des rollenden Donners zitterte beſtändig im Ohr, während ſchreckliche Blitze in unheimlichen Windungen durch die dunklen Himmelsräume fuhren; und ſie ſchienen die Gewalt zu verſpotten, die ſich der berühmte Franklin über ſie angemaßt hat! Auch die ungeſtümen Winde fuhren unaufhörlich aus ihrer geheimnisvollen Heimat daher und fuhren herum, als wären ſie gerufen worden, um die ſchreckliche Szene noch ſchrecklicher zu machen. In ſolchem Augenblick, ſo dunkel, ſo traurig, ſehnte ſich mein Geiſt, ach, ſo ſehr nach menſchlicher Sympathie; und „Da plötzlich, ein Wunder, ſie neben mir ſtand, // Die Freundin im Kummer, mit tröſtender Hand!“ Sie ſchwebte gleich einer jener Lichtgeſtalten, die in ihrem Sonnenflug die romantiſche Phantaſie der Jugend malt, daher, eine Königin der Schönheit, nur mit ihrer eigenen überirdiſchen Lieblichkeit bekleidet. So leicht war ihr Tritt, er ſchien kein Geräuſch hervorzubringen, und ich empfand ihre Gegenwart nur durch den magiſchen Schauer, der mich bei ihrer Berührung durchrieſelte — ſonſt wäre ſie gleich anderen körperlichen Schönheiten unbemerkt, ungeſehen entſchwebt. Strenge Trauer lag auf ihren Zügen, gleich eiſigen Tränen auf dem Gewande des Dezember, als ſie auf die kämpfenden Elemente draußen wies und mich aufforderte, die zwei Weſen zu betrachten.“ Zehn Seiten Manuskript waren mit dieſem nächtlichen Geiſterſpuk bedeckt, und ſie ſchloſſen mit einem ſo ſehr alle Hoffnungen für jeden Nichtkirchlichgeſinnten vernichtenden Sermon, daß die Arbeit den erſten Preis erhielt. Der Aufſatz wurde für die ausgezeichnetſte Arbeit des Abends erklärt. Der Bürgermeiſter hielt, indem er der Siegerin den Preis überreichte, eine warme Anſprache, worin er ſagte, es wäre weitaus „das beredſamſte Ding, das er je gehört habe, und Daniel Webſter ſelbſt könnte ſehr wohl darauf ſtolz ſein.“ Beiläufig möge bemerkt werden, daß die Zahl der Arbeiten, in denen das Wort „wundervoll“ überwog, und menſchliche Erfahrung „eine Seite des Lebens“ genannt wurde, die übliche Höhe erreichte. Nunmehr ſchob der Lehrer, allmählich bis an die Grenze der Möglichkeit angeheitert, ſeinen Stuhl beiſeite, zeigte dem Publikum ſeinen Rücken und machte ſich dran, eine Karte von Amerika an die Wandtafel zu malen, um die Geographieklaſſe vorzunehmen. Es wollte ihm aber bei ſeiner unſicheren Hand nicht gelingen, und ein unterdrücktes Kichern lief durch den Saal. Er wußte, was die Uhr geſchlagen hatte, und nahm ſich tüchtig zuſammen. Er wiſchte die Linien aus und zog ſie nochmals. Aber er machte es diesmal noch ſchlechter als vorher, und das Kichern wurde lauter. Er nahm ſich jetzt innerlich an den Ohren, wandte ſeine ganze Aufmerkſamkeit auf die Arbeit, als gelte es, ſich nicht von der allgemeinen Heiterkeit unterkriegen zu laſſen. Er fühlte, daß aller Augen an ihm hingen. Er bildete ſich ein, daß es ihm diesmal gelänge, und jetzt nahm das Kichern noch mehr, es nahm ganz zweifellos zu. Und es war kein Wunder. Es gab da eine Dachſtube, die gerade über ſeinem Kopf durch eine Falltür verſchloſſen war. Durch dieſe Falltür erſchien eine Katze, an einem um ihren Leib gelegten Strick gehalten. Ein Tuch war ihr über den Kopf gebunden, damit ſie nicht ſchreien ſollte. Indem ſie langſam heruntergelaſſen wurde, wand ſie ſich aufwärts und griff nach dem Seil, wand ſie ſich nach unten und griff in die leere Luft. Das Kichern wurde ſtärker und ſtärker, die Katze war keine ſechs Zoll mehr vom Kopf des geiſtesabweſenden Lehrers entfernt; tiefer, tiefer, noch ein bißchen, und ſie ſchlug ihre Krallen in verzweifelter Wut in die Perücke, und wurde im nächſten Moment mit ihrer Trophäe in die Dachſtube zurückgezogen. Und welcher Glanz von des Lehrers kahlem Schädel ausging, den der Anſtreicherlehrling goldig gefärbt hatte! Das hob die Verſammlung auf. Die Jungen waren gerächt — die Ferien da! ({Anmerkung}. Die oben angeführten anſpruchsvollen „Aufſätze“ ſind ohne jede Änderung einem Buche entnommen, betitelt „Proſa und Poeſie, von einer Dame des Weſtens“, ſind aber genau nach der Schulmädelmanier gemacht und daher viel glücklichere Beiſpiele, als irgendwelche Nachbildungen hätten ſein können.) 23. Dreiundzwanzigſtes Kapitel.