Mark Twain: Die Abenteuer Tom Sawyers 19. Neunzehntes Kapitel. Das war Toms großes Geheimnis — der Gedanke, nach Hauſe zurückzukehren und mit ſeinen Piratenbrüdern ihre eigene Grabrede anzuhören. Sie waren in der Nacht auf den Sonntag auf einem Baumſtamm ans Miſſouriufer hinübergeſchwommen, wo ſie fünf oder ſechs Meilen unterhalb des Dorfes landeten; hatten darauf dicht beim Orte im Walde geſchlafen bis beinahe zum hellen Tage, waren durch mehrere abgelegene Gäßchen zur Kirche geſchlichen und hatten ihren Schlaf auf dem Chor zwiſchen einem Chaos von zerbrochenen Bänken beendet. Beim Frühſtück am Montag morgen waren Tante Polly und Mary ſehr zärtlich mit Tom und ſehr aufmerkſam auf ſeine Wünſche. Die Unterhaltung war ungewöhnlich lebhaft. Im Verlaufe derſelben ſagte Tante Polly: „Na, Tom, ich will nicht grad' ſagen, daß es 'ne beſonders {nette} Sache war, alle Leute in Trübſal zu halten, faſt 'ne Woche lang, während ihr Jungen euch 'ne gute Zeit machtet; aber traurig iſt's, Tom, daß du ſo verſtockt ſein konnteſt, {mich} leiden zu laſſen! Wenn du auf 'nem Baumſtamme zu deiner Leichenrede rüberkommen konnteſt, hättſt du wohl auch kommen können, um mir 'n Zeichen zu geben, daß du {nicht} tot ſeieſt, ſondern einfach davongelaufen.“ „Ja, Tom,“ ſagte Mary, „das hättſt du tun können. Und ich glaube, du {hätt'ſt} es getan, wenn du dran gedacht hätteſt.“ „Hättſt du, Tom?“ fragte Tante Polly, während ihr Geſicht ſich erwartungsvoll aufhellte. „Na — ſag', hättſt du's getan, wenn du dran gedacht hätteſt?“ „Ich — na — ich weiß doch nicht! 's hätt' ja alles verraten!“ „Tom, ich hätt' doch gedacht, du hättſt mich zu lieb für ſo was,“ ſeufzte Tante Polly traurig, in einem Ton, bei dem Tom ſehr ungemütlich wurde. „'s wär' doch {etwas} geweſen, wenn du dir die Mühe genommen hättſt, dran zu denken — wenn du's ſchon nicht {tatſt}.“ „Na, Tantchen, gräm, dich nur nicht darüber,“ beruhigte Mary. „'s iſt mal ſo Toms flüchtige Art — er iſt ja immer ſo zerſtreut, daß er nie an was denkt.“ „Um ſo ſchlimmer. Sid hätt' dran gedacht. Und Sid würd' auch gekommen und 's {getan} haben. Tom, du wirſt eines Tages noch mal zurückdenken, wenn's zu ſpät iſt, und wünſchen, daß du dich 'n bißchen mehr um mich gekümmert hättſt, wo's dir doch ſo leicht geweſen wär'.“ „Na, Tantchen, du weißt doch, ich hab' dich lieb,“ ſchmeichelte Tom. „Ich würd's beſſer wiſſen, wenn du's mehr zeigteſt.“ „Wollt', ich hätt' dran gedacht,“ ſagte Tom in reuevollem Ton. „aber — ich hab' wenigſtens {geträumt} von dir. 's iſt doch {was}, nicht?“ „'s iſt nicht viel — 's iſt für 'ne Katze viel — aber 's iſt mehr als nichts. Was haſt du denn geträumt?“ „Na, in der Mittwochnacht träumte mir, ihr ſäßet zuſammen, dicht beim Bett, Sid ſaß auf der Holzkiſte und Mary dicht bei ihm.“ „So war's — ſo war's ganz genau! Bin doch froh, daß du wenigſtens von uns zu träumen dich bequemt haſt.“ „Und ich träumte, Joe Harpers Mutter wär' hier.“ „Na — ſie {war} hier! Träumteſt du noch mehr?“ „O — 'nen Haufen! Aber 's iſt jetzt alles verſchwommen.“ „Na, verſuch's nur — beſinn' dich — geht's nicht?“ „'s ſcheint mir ſo was, als wenn der Wind — der Wind ausgeblaſen hätt' — —“ „Denk' beſſer nach, Tom! Der Wind hat nichts ausgeblaſen — na!“ Tom preßte während eines Augenblicks geſpannten Nachdenkens die Finger gegen die Stirn und ſagte dann: „Na — jetzt weiß ich's! Jetzt hab' ich's wieder! Er ließ das Licht flackern —“ „Gott erbarm' dich! Weiter. Tom, weiter!“ „Und mir kam's vor, als hättſt du geſagt: ‚Na — ich glaub' gar, die Tür —‘“ „Weiter, Tom!“ „Laß mich 'nen Augenblick nachdenken! Nur 'nen Augenblick. — Richtig, ja, — du ſagteſt, du meinteſt, die Tür wär' offen.“ „So wahr ich hier ſitz' — ich ſagte ſo! Sagt' ich's nicht, Mary? Weiter!“ „Und dann — und dann — — ja, ich weiß nicht {ganz} gewiß, aber 's iſt mir doch, als hättſt du Sid hingehen laſſen und — und — —“ „Na, na? {Wohin} ließ ich ihn gehen? Was ließ ich ihn tun, Tom?“ „Du ließeſt ihn — du, — ach, du ließeſt, ihn die Tür zumachen!“ „Beim Himmel, 's iſt ſo! So was hab' ich doch mein' Tag' noch nicht gehört! Sag' mir keiner mehr, Träume bedeuten nichts! Die überkluge Harper ſoll davon zu wiſſen bekommen, eh ich 'ne Stunde älter bin. Möcht' doch ſehen, wie ſie mit ihrem Geſchwätz von Aberglauben um das 'rum kommt! Weiter, Tom!“ „O, jetzt iſt mir alles ſo klar wie der Tag! Dann ſagteſt du, ich wär' nicht ſchlecht, nur leichtſinnig und gedankenlos, und dächte nie an irgend was — wie — wie — glaub', 's war 'n Füllen — oder ſo.“ „Na, ſo {war's}, ja! Na — Gottes Wunder! Weiter, Tom!“ „Und dann fingſt du an zu weinen.“ „Ja, ich tat's ich tat's! Und wahrhaftig nicht zum erſtenmal. — Und dann —“ „Dann begann Mrs. Harper zu weinen und ſagte, Joe wär' grad' ſo einer, und ſie wollte, ſie hätt' ihn nicht gehaun deswegen, daß er den Rahm genommen haben ſollte, den ſie doch ſelbſt weggeſchüttet gehabt hätt' —“ „Tom! Der Geiſt war über dir! Du hattſt Sehergabe — ja, gewiß, das hattſt du! Herrgott! Weiter, Tom!“ „Dann ſagte Sid — — er ſagte —“ „Glaub', ich ſagte gar nichts,“ warf Sid ſchnell ein. „Doch, du tatſt es Sid,“ entgegnete Mary. „Laßt das Zanken und laßt Tom ſprechen. {Was} ſagte er, Tom?“ „Er ſagte — ich denk', er ſagte, er hoffe, ich wär beſſer dran, wo ich ſetzt ſei, aber wenn ich manchmal beſſer geweſen wär' —“ „Da — hört ihr's? 's waren ſeine eigenen Worte!“ „Und du leuchteteſt ihm ordentlich heim.“ „Ich denke wohl, {daß} ich's tat! 's muß ein Engel hier geweſen ſein! Ein Engel war hier, 's iſt zweifellos!“ „Und Mrs. Harper erzählte von Joe, wie er ihr durch 'nen Schwärmer 'nen Schrecken eingejagt hätte, und {du} erzählteſt von Peter und dem ,Schmerzenstöter' —“ „So wahr ich leb'!“ „Und dann ſchwatztet ihr alle durcheinander, daß der Fluß nach uns durchſucht worden ſei und daß am Sonntag unſere Leichenfeier ſein ſollt', und dann fielſt du und die alte Mrs. Harper euch in die Arme und weintet, und dann ging ſie fort.“ „'s war ganz genau ſo! 's war genau ſo, ſo gewiß, wie ich hier aus dem Stuhl ſitz'. Tom, hättſt es nicht beſſer erzählen können, wenn du hier geweſen wärſt! Und was dann? Weiter, Tom!“ „Dann träumte ich, daß du für mich beteteſt — und ich konnt dich ſehen und jedes Wort hören, das du ſagteſt. Und dann gingſt du zu Bett, und ich war ſo traurig, daß ich auf 'n Stück Sykomorenrinde ſchrieb: ‚Wir ſind nicht tot — wir ſind nur fort, um Piraten zu werden,‘ und legte das auf den Tiſch neben den Leuchter. Und dann ſahſt du ſo lieb aus, wie du dalagſt und ſchliefſt, daß ich träumte, ich beugte mich über dich und küßte dich.“ „Tatſt du's, Tom? Tatſt du's? {Dafür} vergeb' ich dir wahrhaftig alles!“ Und ſie ſchloß den Jungen mit ſolcher Inbrunſt in ihre Arme, daß er ſich wie der ſchwärzeſte der Verräter erſchien. „'s war ſehr nett — 's war aber doch nur ein — Traum,“ brummte Sid für ſich halblaut, aber hörbar. „Halt den Mund, Sid! Jedermann tut im Traum ganz genau dasſelbe, was er tun würde, wenn er wach wär'! Hier, Tom, iſt ein ſchöner Apfel, den ich für dich aufgehoben hab', wenn du mal wiedergefunden würdſt — nun fort zur Schule! Ich dank dem lieben Gott und Vater für uns alle, daß ich dich wiederbekommen hab', er iſt langmütig und barmherzig gegen die, ſo an ihn glauben und ſein Wort halten; obwohl ich weiß, daß ich ſeine Güte nicht verdiene; aber wenn nur die Guten ſeinen Segen hätten und ſeine Hand, ihnen auf den rauhen Pfaden des Lebens beizuſtehen, würd' hier wenig Fröhlichkeit ſein, und wenige würden, wenn die lange Nacht kommt, zu ſeiner Herrlichkeit eingehen dürfen. — Na, macht fort, Sid, Mary, Tom — macht fort, packt euch, habt mich lange genug aufgehalten.“ Die Kinder gingen zur Schule und die alte Dame zu Mrs. Harper, um ihren Unglauben durch Toms wundervollen Traum zu vernichten. Sid hütete ſich wohl, den Gedanken auszuſprechen, der ihn beherrſchte, als er das Haus verließ: „Ein bißchen durchſichtig — 's iſt doch zu lang für 'nen Traum, — und nicht {ein} Irrtum.“ Welch ein Held war Tom geworden! Er ſprang und tollte nicht mehr herum, ſondern bewegte ſich mit würdevollem Ernſt, wie es ſich für einen Piraten geziemt, der fühlt, daß er der Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerkſamkeit iſt. Und er war es in der Tat; er ſuchte ſich ſo zu ſtellen, als ſehe er die Blicke nicht und höre nicht die Bemerkungen, wie er ſo dahinſchlenderte, aber ſie waren wahrer Balſam für ihn. Kleinere Jungen als er hefteten ſich an ſeine Ferſen, ſtolz, mit ihm geſehen zu werden und von ihm geduldet, als wäre er der Trommler an der Spitze einer Prozeſſion geweſen oder der Elefant, der eine Menagerie in die Stadt führt. Gleichalterige Jungen wollten gar nicht wiſſen, daß er überhaupt fortgeweſen ſei, aber ſie verzehrten ſich nichtsdeſtoweniger vor Neid. Sie hätten alles dafür gegeben, ſeine dunkle, ſonnenverbrannte Haut zu beſitzen und ſeinen glänzenden Ruf; und Tom hätte beides nicht einmal für einen Zirkus fortgegeben. In der Schule machten die Kinder ſo viel aus ihm und Joe, und zeigten ihnen ſo wortreiche Bewunderung, daß es gar nicht lange dauerte, bis die beiden Helden ganz unleidlich aufgeblaſen wurden. Sie fingen an, ihre Abenteuer ihren hungrigen Zuhörern zu erzählen — aber ſie fingen immer nur an; die Geſchichten konnten auch kein Ende haben bei einer an ausſchmückenden Abſchweifungen ſo fruchtbaren Phantaſie als die ihrige war. Und ſchließlich, als ſie ihre Pfeifen herauszogen und nachläſſig anfingen, zu rauchen, war der höchſte Gipfel des Ruhmes erreicht. Tom nahm ſich vor, in Zukunft ſich nicht mehr um Becky Thatcher zu kümmern. Ruhm war ihm genug. Er wollte nur für den Ruhm leben. Nun er eine hervorragende Perſönlichkeit war, würde ſie wohl verſuchen, wieder „anzubinden“. Na, mochte ſie — ſie ſollte ſehen, daß er ebenſo unempfänglich ſein konnte wie andere Leute. Grade kam ſie daher. Tom ſtellte ſich, als ſehe er ſie nicht. Er ging fort und geſellte ſich zu einer anderen Gruppe Buben und Mädchen und begann zu erzählen. Bald merkte er, daß ſie aufgeregt, mit glühenden Backen und glänzenden Augen, umhertrippelte und ſich ſtellte, als denke ſie an gar nicht anderes, als ſich mit anderen Schulmädchen herumzuſchubſen und ein lautes Gelächter auszuſtoßen, wenn ſie eine erwiſcht hatte; aber er merkte auch, daß ſie ihre Gefangenen immer in ſeiner Nähe machte, und daß ſie dann ſtets verſtohlen zu ihm hinüberſchielte. Das ſchmeichelte der laſterhaften Eitelkeit in ihm, und ſtatt daß es ihn getrieben hätte, wieder einzulenken, machte es ihn nur noch arroganter und ließ ihn noch gefliſſentlicher eine Miene aufſetzen, als wiſſe er gar nichts von ihrer Anweſenheit. Plötzlich gab ſie ihr Umhertollen auf, ſtrich unentſchloſſen herum, ſeufzte ein paarmal und ſuchte Tom verſtohlen und ſehnſuchtsvoll mit den Augen. Dann entdeckte ſie, wie angelegentlich Tom mit Amy Lawrence plauderte. Sie empfand einen ſtechenden Schmerz und wurde auf einmal zerſtreut und unſicher. Sie nahm ſich vor, davonzugehen, aber ihre Füße trugen ſie, ihrem Vorſatz zum Trotz, wieder zu der Gruppe hin. Sie ſagte zu einem Mädchen, unmittelbar neben Tom — mit erzwungener Ausgelaſſenheit: „Du, Mary Auſtin! Du böſes Mädel, warum kamſt du geſtern nicht zur Sonntagsſchule?“ „Ich war doch da — haſt du mich denn nicht geſehen?“ „Aber, nein! Warſt du da? Wo ſaßeſt du denn?“ „In Miß Peters ihrer Klaſſe, wo ich immer ſitze. Ich hab' {dich} geſehen.“ „So, wirklich? Na, 's iſt doch närriſch, daß {ich dich} nicht geſehen hab'. Ich wollt' dir doch von dem Picknick ſagen.“ „O, das iſt famos! Wer will eins geben?“ „Meine Mama läßt {mich} eins geben.“ „Ach, wie reizend! Hoff doch, daß ich auch kommen darf?“ „Na, natürlich, 's iſt doch {mein} Picknick. 's kann jeder kommen, den ich will — und {dich} will ich.“ „Das iſt mal nett. Wann iſt's denn?“ „Na — bald. So um die Ferien 'rum.“ „Das wird mal 'n Spaß! Haſt du alle Knaben und Mädchen eingeladen?“ „Ja, alle, die meine Freunde ſind — oder ſein wollen,“ und ſie ſchielte wieder ſo verſtohlen nach Tom; aber er erzählte grade Amy Lawrence von dem ſchrecklichen Sturm auf der Inſel und wie der Blitz die große Sykomore traf, „{ganz} dicht bei mir, keine drei Schritt davon.“ „Du, darf ich auch kommen?“ fragte Gracie Miller. „Und ich?“ Sally Rogers. „Und ich auch?“ Suſy Harper. „Und Joe?“ „Ja.“ Und ſo immer weiter mit freudigem Händeklatſchen, bis alle in der Gruppe ſich ihre Einladung geholt hatten bis auf Tom und Amy. Dann wandte ſich Tom kalt ab, immer noch erzählend, und zog Amy mit ſich fort. Beckys Lippen zitterten, und die Tränen traten ihr in die Augen. Sie unterdrückte dieſe verräteriſchen Zeichen mit forzierter Heiterkeit und fing an zu plappern, aber das Vergnügen am Picknick war zu Ende, und auch aus allem anderen machte ſie ſich nun nichts mehr. Sobald es ging, lief ſie davon, verſteckte ſich und befreite ſich nach der Art ihres Geſchlechts durch Tränen von ihrem Kummer. Dann ſaß ſie verdrießlich, mit beleidigter Miene da, bis die Glocke erklang. Mit rachſüchtigem Ausdruck in den Augen ſprang ſie auf, gab ihren dicken Zöpfen einen tüchtigen Schubs und dachte, ſie wiſſe jetzt ſchon, was ſie zu tun habe. In der Ecke ſetzte Tom ſeine Schäkerei mit Amy mit jubelnder Selbſtzufriedenheit fort. Und er brannte darauf, Becky zu finden und ſie mit ſeiner Überlegenheit zu foltern. Schließlich entdeckte er ſie, aber das Herz fiel ihm plötzlich in die Hoſen. Sie ſaß auf einem Bänkchen hinterm Schulhaus ganz gemütlich, mit Alfred Temple, in ein Bilderbuch ſchauend. Und ſo vertieft waren beide, und ihre Köpfe ſteckten über dem Buch ſo dicht zuſammen, daß ſie gar nichts um ſich her wahrzunehmen ſchienen. Eiferſucht rann glühend heiß durch Toms Adern. Er begann, ſich ſelbſt zu haſſen, weil er die Gelegenheit zur Verſöhnung, die ihm Becky geboten, nicht benützt hatte. Er nannte ſich ſelbſt einen Narren und gab ſich alle Ehrentitel, die ihm gerade einfallen wollten. Er hätte ſchreien mögen vor Wut. Amy ſchwatzte ganz vergnügt weiter, indem ſie auf und ab gingen, denn ihr Herz war voll Seligkeit, aber Toms Zunge ſchien gelähmt zu ſein. Er hörte gar nicht, was Amy ſagte, und ſo oft ſie eine Pauſe machte, um ſeine Antwort abzuwarten, konnte er nur irgend eine tölpelhafte Bemerkung hervorſtammeln, die möglichſt oft ganz falſch angebracht war. Immer wieder ſuchte er nach der Hinterſeite des Schulhauſes zu gelangen, um ſich an dem verhaßten Anblick zu weiden. Er konnte nicht anders. Und es folterte ihn, zu ſehen, wie Becky Thatcher gar nicht zu wiſſen ſchien, daß er auch noch im Lande oder überhaupt unter den Lebenden weile. Indeſſen ſah ſie ihn ſehr wohl; und ſie war ſich ihres Sieges ſehr wohl bewußt und ſah ihn mit Wolluſt ebenſo leiden, wie ſie vorher gelitten hatte. Amys Glück fing an, unerträglich zu werden. Tom ſchützte allerlei Angelegenheiten, die er zu erledigen hatte, vor. Er {mußte} fort, und die Zeit verrann. Aber vergeblich — das Mädel ließ nicht locker. Tom dachte: O, hol ſie der Teufel — ſoll ich ſie nie los werden? Schließlich mußte er aber {wirklich} ſeine Angelegenheiten beſorgen; ſie gab ihm arglos das Verſprechen, nach der Schule ihm „auflauern“ zu wollen. Und er rannte davon, ſie dafür verwünſchend. „Jeder andere Junge!“ dachte Tom, mit den Zähnen knirſchend, „jeder andere im ganzen Dorf, nur nicht dieſer Heilige, der denkt, weil er ſich fein anzieht, iſt er 'n Vornehmer. Na, wart' nur! Hab' ich dich am erſten Tag, wo du hier warſt, geprügelt, mein Kerlchen, werd' ich's jetzt ja wohl auch noch können! Wart' nur, bis ich dich mal tüchtig beim Kragen nehm'! Möcht's gleich tun am liebſten, und —“ Und mit wahrer Wonne prügelte er 'nen imaginären Jungen durch — in der Luft herumfuchtelnd, ſtoßend und puffend. „Na, wird's — wird's? Wirſt du bald ‚genug‘ ſagen? So, nu merk's dir für 'n andermal!“ So war der Kampf bald zu ſeiner Zufriedenheit beendigt. Tom rannte mittags heim. Sein Gewiſſen ertrug's nicht, nochmals Amys dankbare Glückſeligkeit anzuſehen, und ſeine Eiferſucht erlaubte keine andere Zerſtreuung. Becky ſetzte ihr Bilder-Beſehen mit Alfred fort, aber als ſich Minute an Minute reihte und kein Tom kam, um ſich quälen zu laſſen, begann ihr Triumphgefühl ſich abzukühlen, und ſie verlor das Intereſſe; Unaufmerkſamkeit und Geiſtesabweſenheit folgten, und dann Melancholie. Ein paarmal fing ſie mit dem Gehör Fußtritte auf, aber es war jedesmal vergebliches Hoffen; kein Tom kam. Schließlich wurde ihr ganz elend zumute, und ſie wünſchte, ſie hätte die Sache nicht ſo weit getrieben. Als der arme Alfred bemerkte, daß ſie ihm entſchlüpfte, nicht wußte, wie, und fortwährend krampfhaft ſchrie: „O, hier iſt 'n famoſes! Schau dies mal an!“ verlor ſie ſchließlich die Geduld und ſagte: „Ach was, quäl' mich nicht! Hab' keine Luſt mehr dazu!“ brach in Tränen aus, ſprang auf und rannte davon. Alfred trottete nebenher und wollte ſie tröſten und beruhigen, aber ſie ſagte: „Mach, daß du dich fortſcherſt und laß mich allein, willſt du? Ich mag dich gar nicht!“ So blieb der Junge denn zurück, ſich wundernd, was er verbrochen haben könne — denn ſie hatte ihm doch verſprochen, den ganzen Nachmittag Bilder zu beſehen — und ſie rannte heulend davon. Dann kehrte Alfred betrübt ins Schulhaus zurück. Er fühlte ſich gedemütigt und beleidigt. Er fand aber ſehr leicht die Wahrheit heraus — das Mädel hatte ganz einfach ihr Spiel mit ihm getrieben, nur um ihren Zorn an Tom Sawyer auszulaſſen. Er haßte Tom durchaus nicht weniger, als dieſer Gedanke in ihm aufſtieg. Nichts wünſchte er mehr, als auf irgend eine Weiſe dieſem Jungen was einzubrocken, ohne ſelbſt was zu riskieren. Toms Rechtſchreibebuch fiel ihm in die Augen. Die Gelegenheit war günſtig. Dankbar öffnete er es bei der Lektion für den Nachmittag und goß Tinte über die Seite. Becky, einen Augenblick hinter ihm durchs Fenſter ſchauend, ſah es und drückte ſich davon, ohne ſich zu verraten. Sie lief nach Haus, in der Abſicht, Tom zu ſuchen und ihm alles zu ſagen. Tom würde ihr dankbar ſein und aller Zank wäre damit zu Ende. Bevor ſie aber den halben Weg zurückgelegt hatte, war ſie anderen Sinnes geworden. Der Gedanke daran, wie ſie Tom behandelt hatte, als ſie von ihrem Picknick ſprach, kam wieder brennend über ſie und erfüllte ſie mit Scham. Sie beſchloß, ihn in der Sache mit dem beſchmutzten Buch ruhig in der Patſche ſtecken zu laſſen und ihn obendrein für immer und ewig zu haſſen. 20. Zwanzigſtes Kapitel.