Mark Twain: Die Abenteuer Tom Sawyers 10. Zehntes Kapitel. Die beiden Burſchen liefen dem Dorfe zu, ſprachlos vor Schreck. Von Zeit zu Zeit blickten ſie ängſtlich über die Schulter zurück, als fürchteten ſie ſich vor Verfolgern. Jeder Baumſtumpf, der an ihrem Wege aus der Dunkelheit auftauchte, ſchien ihnen ein Mann und ein Feind, und ließ ſie bis ins Mark erzittern. Und als ſie bei einigen außerhalb des Dorfes gelegenen Niederlaſſungen vorbeikamen, ſchien ihnen das Bellen der erwachten Hunde Flügel zu verleihen. „Wenn wir — nur bis zu der alten Gerberei — kommen — bevor wir — zuſammenbrechen —“ ſtieß Tom abgeriſſen zwiſchen mühſamem Atemholen hervor. „Ich — ich kann — nicht mehr — länger!“ Huckleberrys pochendes Herz war ſeine ganze Antwort; beide hefteten ihre Augen feſt auf das Ziel ihrer Hoffnung und machten die äußerſten Anſtrengungen, es zu erreichen. Sie kamen ihm immer näher, und ſchließlich Bruſt an Bruſt, fielen ſie förmlich durch die offene Tür — dankbar und atemlos, in den ſchützenden Schatten. Allmählich beruhigten ſich ihre Pulſe, und Tom flüſterte: „Du, Huckleberry, was meinſt du, wird von all dem kommen?“ „Na, ich denke, wenn Dr. Robinſon ſtirbt, wird Gehenktwerden davon kommen.“ „Meinſt du?“ „Nicht meine, ich {weiß}, Tom!“ Tom dachte 'ne Weile nach, dann ſagte er: „Wer wird's denn verraten? Wir?“ „Was fällt dir ein? Angenommen, 's käm' was dazwiſchen und Indianer-Joe müßt {nicht} hängen, wird er uns früher oder ſpäter ſo gewiß töten, daß wir grad ſo gut ſchon jetzt hier liegen könnten!“ „Huck, das hab' ich mir auch gedacht.“ „Wenn's jemand ſagen ſoll, mag's doch Muff Potter tun, wenn er dumm genug iſt. Der iſt ohnehin immer betrunken genug!“ Tom ſagte nichts — er brütete über etwas. Plötzlich wiſperte er: „Huck, Muff Potter {weiß} es nicht. Wie kann er's {ſagen}?“ „Warum ſollt er's nicht wiſſen?“ „Weil er grad den ekligen Klaps bekommen hatte, als es Joe tat. Meinſt du, da hätt' er's ſehen können? Meinſt du wirklich, er könnt's wiſſen?“ „Beim Henker, 's iſt ſo, Tom!“ „Und dann — weißt du — ſollt' ihm nicht der Hieb den Reſt gegeben haben?“ „Kaum glaublich, Tom! Er hatte Schnaps in ſich. Ich konnt's ſehen; übrigens hat er das immer. Wenn mein Alter voll iſt, kannſt du ihn nehmen und ihn mit 'nem Kirchturm überhauen — er ſpürt's nicht. Er ſagt's auch ſelbſt. Grad ſo iſt's heut mit Muff Potter. Aber wenn einer klar im Kopf iſt, ſchätz' ich, daß ſo 'n Klaps genug für ihn ſein möchte.“ Nach abermaligem nachdenklichem Schweigen fuhr Tom abermals fort: „Huck, biſt du ſicher, daß du den Mund halten kannſt?“ „Tom, wir {müſſen} den Mund halten! Du weißt doch! Dieſer Indianer-Teufel würde nicht mehr Umſtände machen, uns abzuſchneiden, wie mit 'nen paar Katzen, wenn wir ſo dumm wären, zu plappern, und ſie henkten ihn {nicht}. Nun, Tom, komm mal her, laß uns einander ſchwören — das müſſen wir, Tom! — ſchwören, den Mund zu halten!“ „Mir recht, Huck. 's wird wohl das beſte ſein. Wollen wir alſo die Hand hochhalten und ſchwören, daß wir —“ „Halt mal, ſo geht's nicht! Das iſt gut genug für kleine, alltägliche Dinge, zum Beiſpiel bei Mädchen, wenn die einem überall nachlaufen, und wenn ſie — hm — wenn man ſich verrannt hat, mein' ich — aber ſo was geht bei ſo 'ner häßlichen Geſchichte nicht — da muß was Schriftliches ſein — und Blut!“ Tom ſtimmte von ganzem Herzen zu. Die Idee war tief — und dunkel — und ſchrecklich; die Stunde, die Umſtände, die Umgebung — alles wirkte zuſammen. Er nahm eine glänzend geſchliffene Schindel auf, die im Mondlicht lag, zog ein Stückchen Rotſtift aus der Taſche, ließ das Mondlicht ſein Werk beſcheinen, und kritzelte mühſam, jeden ſchwerfälligen Grundſtrich hervorhebend, indem er die Zunge zwiſchen die Zähne klemmte und ſie bei den Haarſtrichen wieder freiließ, folgende Zeilen: „Huck Finn und Tom Sawyer ſchwöhren, Sie wolen über dies den Mund Halten und ſie wünſchen, dahs Sie Tot niederfallen auff ihren Wech, wenn ſie jemalls plautern oter ſchreiben.“ Huckleberry war ganz erfüllt von Toms Fähigkeit im Schreiben und ſeinem glanzvollen Stil. Er war im Begriff, mit einem Nagel ſich das Fleiſch zu ritzen, als Tom einfiel: „Halt, nicht ſo. Nagel iſt Eiſen. Der könnte Grünſpan haben.“ „Grünſpan — was iſt das?“ „'s iſt Gift, {das} iſt es! Du würdeſt ſofort davon aufgeſchwellt werden — ſollſt du ſehen!“ Darauf nahm Tom eine Nadel, und beide ritzten ſich den Ballen des Daumens und drückten einen Blutstropfen heraus. Schließlich, nach vielem Quetſchen machte ſich Tom daran, ſeine Anfangsbuchſtaben zu malen, indem er den kleinen Finger als Feder benutzte. Dann zeigte er Huckleberry, wie er ein H und ein F zu machen habe — und dann war der Eid bekräftigt. Sie vergruben die Schindel, häuften unter allerhand Zeremonien und Zauberformeln einen Hügel darüber, und die ihre Zungen bindenden Feſſeln waren geſchmiedet und der Schlüſſel dazu lag in der Erde. Eine menſchliche Figur ſchlüpfte vorſichtig durch eine Lücke am anderen Ende des verfallenen Gebäudes, aber ſie merkten es nicht. „Tom,“ wiſperte Huckleberry, „ſichert uns das davor, zu ſchwatzen — für immer?“ „Aber, natürlich tut's das! Mag jetzt geſchehen, was will — wir müſſen ſchweigen. Wir wollen tot niederfallen — weißt du's denn nicht?“ „Ja, ich rechne, 's iſt an dem.“ Sie tuſchelten noch 'ne Weile fort. Plötzlich ſchlug ein Hund mit langem, kläglichem Ton an, gerade jenſeits der Stelle der Mauer, wo ſie ſaßen — keine zehn Schritt davon. Die Burſchen packten einander unwillkürlich in verſteinerndem Schreck. „Wen von uns mag er meinen?“ flüſterte Huckleberry. „Ich weiß nicht — ſchau durch die Ritze — ſchnell!“ „Nein, tu du's, Tom!“ „Ich kann's — kann's nicht!“ „Bitte, Tom! — Da iſt's wieder!“ „Ach, Gott ſei Dank,“ wiſperte Tom, „ich kenne ſeine Stimme, 's iſt Bull Harbiſon.“ „Ach, das iſt mal gut! Ich ſag dir, Tom, ich war wirklich zu Tod erſchrocken! Meinte wahrhaftig, 's wär 'n fremder Hund.“ Der Hund heulte wieder. Die Herzen der Burſchen ſanken wieder in die Hoſen. „Ach, verflucht, das iſt nicht Bull Harbiſon!“ flüſterte Huckleberry weinerlich. Tom, zitternd vor Furcht, rappelte ſich auf und legte das Auge an die Lücke. Der Ton ſeiner Stimme war erbarmungswürdig, als er jetzt flüſterte: „O, Huck, 's {iſt ein fremder Hund} —!“ „Schnell, Tom, ſchnell, {wen} von uns meint er?“ „Huck, er muß uns beide meinen! — Wir ſtehen dicht beieinander.“ „O, Tom, ich fürchte — wir ſind futſch! Ich rechne, wohin {ich} komme, darüber kann kein Zweifel ſein. Ich bin ſo ſchlecht, Tom!“ „Der Teufel hol's! Das kommt davon, wenn man Blindekuh ſpielt und alles tut, wovon der Lehrer ſagt, daß man's nicht tun ſoll! Ich wollt', ich wär ſo artig geweſen wie Sid — wenn ich's gekonnt hätte. Aber nein, ich mocht's nicht ſein! Aber wenn ich hier fortkomm', ich ſag' dir, ich werd' {immer} in die Sonntagsſchule gehen.“ Und Tom begann ein bißchen zu heulen. „Du {ſchlecht}?“ Und Huckleberry heulte zur Geſellſchaft mit. „Ich ſag's dir, Tom, du biſt einfach Gold gegen mich! O, Gott, Gott, Gott — ich wollte, ich wäre nur halb ſo gut wie du!“ Tom fuhr zuſammen und flüſterte: „Schau, Hucky, ſchau nur! Er wendet uns ja den {Rücken} zu!“ Hucky ſchaute hinaus, und Freude erfüllte ſein Herz. „Teufel, 's {iſt} ſo! Tat er's vorher auch ſchon?“ „Ja, er tat's, aber ich Dummkopf dachte nicht daran. Na, das iſt mal famos. Aber — wen kann er nur meinen?“ Das Heulen hörte auf. Tom ſpitzte die Ohren. „Pſcht —was iſt das?“ „'s klingt wie — wie Schweinegrunzen. Oder, Tom — doch nicht, 's ſchnarcht jemand.“ „Iſt's das? Wo aber, Hucky?“ „Ich glaub' dort, am anderen Ende. 's klingt wenigſtens ſo. Pop pflegt zuweilen da zu ſchlafen — mit den Schweinen, aber, Gott ſegne dich, er macht alles zittern, wenn er ſchnarcht. Und dann, ich rechne, {hierher} kommt er nicht zurück!“ Die Abenteuerluſt begann ſich in den Seelen der beiden Burſchen zu regen. „Hucky, gehſt du mir nach, wenn ich vorangehe?“ „{Sehr} gern nicht, Tom! Denk, 's könnt Joe ſein!“ Tom zauderte. Aber ſofort regte ſich wieder die Verſuchung, und ſie beſchloſſen, den Verſuch zu wagen, unter dem Vorbehalt, daß ſie fliehen dürften, ſobald das Schnarchen aufhören würde. So gingen ſie auf den Fußſpitzen weiter, einer hinter dem anderen. Als ſie nur noch fünf Schritt von dem Schnarchenden entfernt waren, trat Tom auf einen Zweig, der mit lautem Knacken brach. Der Mann grunzte, wälzte ſich ein bißchen herum, das Mondlicht fiel, auf ſein Geſicht — es war Muff Potter. Die Herzen der Burſchen hatten ſtill geſtanden — wie ihre Leiber, als ſich der Mann rührte, aber jetzt war ihre Furcht vergangen. Sie ſchlichen zurück, ſchlüpften durch die geborſtene Mauer und blieben in einiger Entfernung ſtehen, um ſich zu verabſchieden, Das lange unheimliche Geheul erhob ſich wieder und klang durch die Nachtluft. Sie wandten ſich um und ſahen den fremden Hund wenige Schritt von der Stelle entfernt, wo Muff Potter lag, mit dem Kopf dieſem zugewandt, die Schnauze zum Himmel gerichtet. „Herrje, {den} meint er!“ riefen beide in einem Atem. „Sag, Tom, ſie ſagen, ein ſcheußlicher Köter ſoll um Johnny Millers Haus herumgeheult haben — vor mehr als zwei Wochen. Und dann hat ſich auch 'ne Eule auf das Dach geſetzt und da geheult, am ſelben Abend. Und da iſt doch bis heute noch keiner geſtorben!“ „Ja, ich weiß. Und ich mein', das beweiſt nichts. Fiel nicht am nächſten Samſtag Gracie Miller auf den Küchenherd und verbrannte ſich ſchrecklich?“ „Ja — aber ſie iſt doch nicht geſtorben. Noch mehr, ſie iſt bald wieder ganz geſund.“ „Schon recht, wart' nur und red' {dann}! Sie iſt futſch, ſo gewiß als Muff Potter dort futſch iſt! Die Neger ſagen's, und die wiſſen ſo was ganz genau, Hucky.“ Damit gingen ſie nachdenklich auseinander. Als Tom in ſein Schlafzimmerfenſter ſchlüpfte, war die Nacht ſchon vorbei. Er entkleidete ſich mit äußerſter Vorſicht und ſchlief ein, ſich beglückwünſchend, daß niemand etwas von ſeinem Streifzug gemerkt habe. Er hatte nicht geſehen, daß der brave, ſchnarchende Sid wach war — ſeit einer Stunde. Als Tom aufwachte, war Sid bereits angezogen und fort. Das Licht draußen erſchien Tom ſo ſpät wie auch die Luft. Er ſtutzte. Warum hat man ihn nicht gerufen — da er doch um dieſe Zeit ſtets ſchon auf war? Der Gedanke fiel ihm ſchwer aufs Herz. In fünf Minuten war er angekleidet und die Treppe hinunter, übel gelaunt und ſchläfrig. Die Familie ſaß noch um den Tiſch, hatte aber bereits gefrühſtückt. Kein Tadel, aber abgewandte Geſichter. Tiefes Stillſchweigen und ein Hauch von Trauer; ſchwer laſteten ſie auf des Sünders Haupt. Er ſetzte ſich und tat ganz luſtig, aber es war ſehr ſchwer. Er bekam kein Lächeln, keine Antwort und verſank in Stillſchweigen, und ſein Herz verſank in die tiefſte Tiefe. Nach dem Frühſtück nahm ihn ſeine Tante auf die Seite, und Tom atmete ordentlich auf, in der Hoffnung, daß er jetzt werde geprügelt werden; aber es ſollte anders kommen. Seine Tante vergoß Tränen über ihn und fragte ihn, wie er hingehen und ihr armes Herz brechen könne. Und ſchließlich ſagte ſie, er ſolle nur ſich ſelbſt ruinieren und ihre grauen Haare mit Kummer in die Grube fahren laſſen, denn ſie habe den Mut in bezug auf ihn nun verloren. Dies war ſchlimmer als tauſend Prügel, und Toms Herz wurde noch ſchwerer, als es heute morgen geweſen. Er heulte, er bat um Verzeihung, verſprach Beſſerung wieder und immer wieder, und er erhielt ſchließlich ſeine Entlaſſung mit dem Gefühl, nur halbe Verzeihung und ſchwaches Vertrauen gefunden zu haben. Er empfand die Gegenwart gar zu trübſelig, um ein Rachegefühl gegen Sid aufkommen zu laſſen. So war des letzteren eiliger Rückzug durch die Hintertür überflüſſig. Er ſchlich in düſterſter Gemütsverfaſſung zur Schule und empfing dort ſeine Prügel wegen des Schwänzens mit Joe Harper am vorigen Tage mit der Miene eines, deſſen Herz von ſchweren Kümmerniſſen belaſtet und ganz unempfindlich für Kleinigkeiten iſt. Dann verzog er ſich auf ſeinen Platz, ſtützte die Ellbogen auf den Tiſch und das Kinn auf die Hände und ſtarrte auf die Wand mit dem ſtarren Geſichtsausdruck des Leidens, das den höchſten Punkt erreicht hat und nun nicht mehr geſteigert werden kann. Sein Ellbogen drückte auf einen harten Gegenſtand. Nach langer Zeit änderte er ſchläfrig und gleichgültig ſeine Stellung und nahm den Gegenſtand in Augenſchein. Er war in Papier gewickelt. Er rollte das Papier auf. Ein langer, ſtarrer, verſchleierter Blick — und ſein Herz brach! Es war der wundervolle abgebrochene Knopf von geſtern! Dieſer letzte Tropfen machte das Gefäß überlaufen. 11. Elftes Kapitel.