Originaltitel: The Adventures of Tom Sawyer, 1876
Deutſch von H. Hellwag
Hörbuch: https://archive.org/details/tomsawyer_crow_librivox
Die meiſten der hier erzählten Abenteuer haben ſich tatſächlich zugetragen. Das eine oder das andere habe ich ſelbſt erlebt, die anderen meine Schulkameraden. Huck Finn iſt nach dem Leben gezeichnet, nicht weniger Tom Sawyer, doch entſpricht dieſer nicht einer beſtimmten Perſönlichkeit, ſondern wurde mit charakteriſtiſchen Zügen mehrerer meiner Altersgenoſſen ausgeſtattet und darf daher jenem gegenüber als einigermaßen kompliziertes pſychologiſches Problem gelten.
Ich muß hier bemerken, daß zur Zeit meiner Erzählung — vor dreißig bis vierzig Jahren — unter den Unmündigen und Unwiſſenden des Weſtens noch die ſeltſamſten, unwahrſcheinlichſten Vorurteile und Aberglauben herrſchten.
Obwohl dies Buch vor allem zur Unterhaltung der kleinen Welt geſchrieben wurde, ſo darf ich doch wohl hoffen, daß es auch von Erwachſenen nicht ganz unbeachtet gelaſſen werde, habe ich doch darin verſucht, ihnen auf angenehme Weiſe zu zeigen, was ſie einſt ſelbſt waren, wie ſie fühlten, dachten, ſprachen, und welcher Art ihr Ehrgeiz und ihre Unternehmungen waren.
„Tom!“
Keine Antwort.
„Tom!“
Alles ſtill.
„Soll mich doch wundern, wo der Bengel wieder ſteckt! Tom!“
Die alte Dame ſchob ihre Brille hinunter und ſchaute darüber hinweg; dann ſchob ſie ſie auf die Stirn und ſchaute darunter weg. Selten oder nie ſchaute ſie nach einem ſo kleinen Ding, wie ein Knabe iſt, durch die Gläſer dieſer ihrer Staatsbrille, die der Stolz ihres Herzens war und mehr ſtilvoll als brauchbar; ſie würde durch ein paar Herdringe ebenſoviel geſehen haben. Unruhig hielt ſie einen Augenblick Umſchau und ſagte, nicht gerade erzürnt, aber doch immer laut genug, um im ganzen Zimmer gehört zu werden: „Ich werde ſtrenges Gericht halten müſſen, wenn ich dich erwiſche, ich werde —“
Hier brach ſie ab, denn ſie hatte ſich inzwiſchen niedergebeugt und ſtocherte mit dem Beſen unter dem Bett herum, und dann mußte ſie wieder Atem holen, um ihrem Ärger Ausdruck zu verleihen. Sie hatte nichts als die Katze aufgeſtöbert.
„So ein Junge iſt mir noch gar nicht vorgekommen!“
Sie ging zur offenen Tür, blieb ſtehen und ſpähte zwiſchen den Weinranken und dem blühenden Unkraut, welche zuſammen den „Garten“ ausmachten, hindurch. Kein Tom. So erhob ſie denn ihre Stimme und rief in alle Ecken hinein: „Tom, Tom!“ Hinter ihr wurde ein ſchwaches Geräuſch hörbar und ſie wandte ſich noch eben rechtzeitig um, um einen kleinen Burſchen zu erwiſchen und an der Flucht zu hindern. „Alſo, da ſteckſt du? An die Speiſekammer habe ich freilich nicht gedacht! Was haſt du denn da wieder gemacht, he?“
„Nichts.“
„Nichts! Schau deine Hände an und deinen Mund. Was iſt das?“
„Bei Gott, ich weiß es nicht, Tante!“
„Aber ich weiß es, 's iſt Marmelade. Wie oft habe ich dir geſagt, wenn du über die Marmelade gingeſt, würde ich dich bläuen. Gib mir den Stock her!“
Der Stock zitterte in ihren Händen. Die Gefahr war dringend.
„Holla, Tante, ſieh dich mal ſchnell um!“
Die alte Dame fuhr herum und brachte ihre Röcke in Sicherheit, während der Burſche, den Augenblick wahrnehmend, auf den hohen Bretterzaun kletterte und jenſeits verſchwand. Tante Polly ſtand ſprachlos, dann begann ſie gutmütig zu lächeln. „Der Kuckuck hole den Jungen! Werde ich denn das niemals lernen? Hat er mir denn nicht ſchon Streiche genug geſpielt, daß ich immer wieder auf den Leim krieche? Aber alte Torheit iſt die größte Torheit, und ein alter Hund lernt keine neuen Kunſtſtücke mehr. Aber, du lieber Gott, er macht jeden Tag neue, und wie kann jemand bei ihm wiſſen, was kommt! Es ſcheint, er weiß ganz genau, wie lange er mich quälen kann, bis ich dahinter komme, und iſt gar zu geriſſen, wenn es gilt, etwas ausfindig zu machen, um mich für einen Augenblick zu verblüffen oder mich wider Willen lachen zu machen, es iſt immer dieſelbe Geſchichte, und ich bringe es nicht fertig, ihn zu prügeln. Ich tue meine Pflicht nicht an dem Knaben, wie ich ſollte, Gott weiß es. ‚Spare die Rute, und du verdirbſt dein Kind‘, heißt es. Ich begehe vielleicht unrecht und kann es vor mir und ihm nicht verantworten, fürcht' ich. Er ſteckt voller Narrenspoſſen und allerhand Unſinn — aber einerlei! Er iſt meiner toten Schweſter Kind, ein armes Kind, und ich habe nicht das Herz, ihn irgendwie am Gängelband zu führen. Wenn ich ihn ſich ſelbſt überlaſſe, drückt mich mein Gewiſſen, und ſo oft ich ihn ſchlagen muß, möchte mit das alte Herz brechen. Nun, mag's drum ſein, der weibgeborene Menſch bleibt halt ſein ganzes Leben durch in Zweifel und Irrtum, wie die heilige Schrift ſagt, und ich denke, es iſt ſo. Er wird wieder den ganzen Abend Blindekuh ſpielen, und ich ſollte ihn von Rechts wegen, um ihn zu ſtrafen, morgen arbeiten laſſen. Es iſt wohl hart für ihn, am Samſtag ſtillzuſitzen, wenn alle anderen Knaben Feiertag haben, aber er haßt Arbeit mehr als irgend ſonſt was, und ich will meine Pflicht an ihm tun, oder ich würde das Kind zu Grunde richten.“
Tom ſpielte Blindekuh und fühlte ſich ſehr wohl dabei. Zur rechten Zeit kehrte er ganz frech nach Hauſe zurück, um Jim, dem kleinen, farbigen Bengel, zu helfen, noch vor Tiſch das Holz für den nächſten Tag zu ſägen und zu ſpalten — und ſchließlich hatte er Jim die Abenteuer des Tages erzählt, während Jim drei Viertel der Arbeit getan hatte. Toms jüngerer Bruder (oder vielmehr Halbbruder) Sid war bereits fertig mit ſeinem Anteil an der Arbeit, dem Zuſammenleſen des Holzes, denn er war ein phlegmatiſcher Junge und hatte keinerlei Abenteuer und kühne Unternehmungen. Während Tom nun ſeine Suppe aß und nach Möglichkeit Zuckerſtückchen ſtahl, ſtellte Tante Polly allerhand Fragen an ihn, argliſtige und verfängliche Fragen, denn ſie brannte darauf, ihn in eine Falle zu locken. Wie ſo viele gutherzige Geſchöpfe, bildete ſie ſich auf ihr Talent in der höheren Diplomatie nicht wenig ein und betrachtete ihre ſehr durchſichtigen Anſchläge als wahre Wunder inquiſitoriſcher Verſchlagenheit.
„Tom,“ ſagte ſie, „es war wohl ziemlich heiß in der Schule?“
„M — ja“
„Sehr heiß, he?“
„M — ja.“
„Hatteſt du nicht Luſt, zum Schwimmen zu gehen?“
Tom ſtutzte — ein ungemütlicher Verdacht ſtieg in ihm auf. Er ſchaute forſchend in Tante Pollys Geſicht, aber es war nichts darin zu leſen. So ſagte er: „Nein — das heißt — nicht ſo ſehr.“
Die alte Dame ſtreckte ihre Hand nach ihm aus, befühlte ſeinen Kragen und ſagte: „Jetzt, ſcheint mir, kann dir jedenfalls nicht mehr zu warm ſein, nicht?“ Auf dieſe Art, dachte ſie, habe ſie ſich von der vollkommenen Trockenheit ſeines Kragens überzeugt, ohne ihre wahre Abſicht von fern merken zu laſſen. Aber Tom hatte trotzdem begriffen, woher der Wind wehte. So beeilte er ſich wohlweislich, allen etwaigen Fragen zuvorzukommen.
„Einige von uns haben ſich den Kopf unter die Pumpe gehalten — meiner iſt noch feucht — fühl nur.“ Tante Polly ärgerte ſich, eine ſo wichtige Indizie überſehen zu haben; ſo hatte ſie von vornherein ihre Waffen aus der Hand gegeben. Dann kam ihr aber ein neuer Gedanke.
„Tom, du haſt doch wohl nicht den Kragen, den ich dir an die Jacke genäht hatte, beim Unter-die-Pumpe-halten des Kopfes abgenommen? Mach doch mal die Jacke auf!“
Toms Mienen hellten ſich auf. Er öffnete ſeine Jacke. Sein Kragen ſaß ganz feſt.
„Wirklich. Na 's iſt gut, du kannſt gehen. Ich hätte darauf geſchworen, daß du im Waſſer geweſen ſeieſt. Nun, dir geht es diesmal wie der gebrannten Katze, ich habe dich zu Unrecht in Verdacht gehabt — diesmal, Tom.“
Sie war halb verdrießlich, ſo aus dem Felde geſchlagen zu ſein, und doch freute ſie ſich, daß Tom doch wirklich mal gehorſam geweſen war. Plötzlich ſagte Sidney: „Ich hab' aber doch geſehen, daß du ſeinen Kragen mit weißem Zwirn genäht haſt — und jetzt iſt er auf einmal ſchwarz!“
„Freilich hab' ich weißen genommen — Tom!“
Aber Tom hatte ſich ſchon aus dem Staube gemacht. „Na, warte, Sidney, das ſollſt du mir büßen,“ damit war er aus der Tür.
An einem ſicheren Plätzchen beſchaute Tom dann zwei lange Nadeln, welche unter dem Kragen ſeines Rockes ſteckten, die eine mit ſchwarzem, die andere mit weißem Zwirn.
„Sie allein hätte es nie gemerkt,“ dachte er, „ohne dieſen Sid. Einmal ſchwarzen, das andere Mal weißen — zum Teufel, ich wollte, ſie entſchiede ſich für einen, damit ich wüßte, woran ich wäre. Und Sid — na, ſeine Prügel ſind ihm ſicher; wenn ich's nicht tue, ſoll man mir die Ohren abſchneiden.“
Tom war kein Muſterknabe, aber er kannte einen und haßte ihn von Herzen.
Ein Augenblick — und Tom hatte alle ſeine Kümmerniſſe vergeſſen. Nicht, daß ſie auf einmal geringer geworden wären oder weniger auf dem Herzen des kleinen Mannes gelaſtet hätten, — aber Tom hatte eine neue, wundervolle Beſchäftigung, und die richtete ihn auf und half ihm über alles hinweg — für den Augenblick; wie eben ein Mann alles Mißgeſchick beim Gedanken an neue Taten verſchmerzt. Dieſe neue Beſchäftigung war eine ganz neue Art, zu pfeifen, die ihm irgend ein Negerbengel vor kurzem beigebracht hatte, und die jetzt ungeſtört geübt werden mußte. Die wichtige Erfindung beruhte auf einem vogelartigen, ſchmetternden Triller, mit gleichzeitigem, durch Zungenſchlag hervorgebrachten Geſchwindmarſch von Tönen. Der Leſer weiß, wie man dieſe delikate Muſik ausübt — oder er iſt niemals jung geweſen. Tom hatte mit Fleiß und Aufmerkſamkeit bald den Trick heraus und ſchlenderte, den Mund voll Harmonie und Stolz im Herzen, die Dorfſtraße hinunter. Er fühlte ſich wie ein Sterngucker, der ein neues Geſtirn entdeckt hat. Nur daß keines Sternguckers Freude und Genugtuung ſo tief und ungetrübt hatte ſein können wie die Toms.
Der Sommerabend war lang und noch hell. Plötzlich hörte Tom auf zu pfeifen. Ein Fremder ſtand vor ihm, ein Burſche, kaum größer als er ſelbſt. Eine neue Bekanntſchaft, einerlei, welchen Alters und Geſchlechts, war in dem armſeligen, kleinen St. Petersburg ſchon ein Ereignis. Dieſer Burſche war gut gekleidet — zu gut für einen Werktag. Sonderbar. Seine Mütze war zierlich, ſeine enganliegende blaue Jacke neu und ſauber, ebenſo ſeine Hoſe. Er hatte Schuhe an, und es war erſt Freitag! Er hatte ſogar ein Halstuch um, ein wahres Monſtrum von einem Tuch. Überhaupt hatte er etwas an ſich, was den Naturmenſchen in Tom herausforderte. Je mehr Tom das neue Weltwunder anſtarrte, um ſo mehr rümpfte er die Naſe über ſolche Geziertheit, und ſein eigenes Äußere erſchien ihm immer ſchäbiger. Beide ſchwiegen. Wollte einer ausweichen, ſo wollte auch der andere ausweichen, natürlich nach derſelben Seite. So ſchauten ſie lange einander herausfordernd in die Augen. Endlich ſagte Tom: „Soll ich dich prügeln?“
„Das möchte ich doch erſt einmal ſehen!“
„Das wirſt du allerdings ſehen!“
„Du kannſt es ja gar nicht!“
„Wohl kann ich's!“
„Pah!“
„Wohl kann ich's!“
„Nicht wahr!“
„Doch wahr!“
Eine ungemütliche Pauſe. Darauf wieder Tom: „Wie heißt du denn?“
„Das geht dich nichts an, Straßenjunge!“
„Ich will dir ſchon zeigen, daß mich's was angeht!“
„Na, warum tuſt du's denn nicht?“
„Wenn du noch viel ſagſt, tu ich's!“
„Viel — viel — viel, — ſo, nun tu's!“
„Ach, du hältſt dich wohl für mehr als mich? Wenn ich nur wollte, könnte ich dich mit einer Hand unterkriegen!“
„Na, warum tuſt du's denn nicht? Du ſagſt nur immer, daß du's kannſt!“
„Wenn du frech wirſt, tu ich's!“
„Pah — das kann jeder ſagen!“
„Du biſt wohl was Rechts, du Windhund!“
„Was du für einen dummen Hut aufhaſt!“
„Wenn er dir nicht gefällt, kannſt du ihn ja herunterſchlagen! Schlag ihn doch runter, wenn du ein paar Ohrfeigen haben willſt!“
„Lügner!“
„Selbſt Lügner!“
„Prahlhans, du biſt ja zu feig!“
„Ach, mach, daß du weiter kommſt!“
„Du, wenn du noch lange Blödſinn ſchwatzt, ſchmeiß ich dir 'nen Stein an den Kopf!“
„Na, ſo wag's doch!“
„Ich tu's auch!“
„Warum tuſt du's denn nicht? Du ſagſt es ja immer nur. Tu's doch mal! Du biſt ja zu bange!“
„Ich bin nicht bange!“
„Natürlich biſt du bange!“
„Nicht wahr!“
„Doch wahr!“
Wieder eine Pauſe. Beide ſtarren ſich an, gehen umeinander herum und beſchnüffeln ſich wie junge Hunde. Plötzlich liegen ſie in ſchönſter Kampfſtellung Schulter an Schulter. Tom ſchrie: „Scher dich fort!“
„Fällt mir gar nicht ein!“
„Fällt mir auch nicht ein!“
So ſtanden ſie, jeder einen Fuß als Stütze zurückgeſtellt, aus aller Kraft aneinander herumſchiebend und ſich wütend anſtarrend. Aber keiner konnte dem Gegner einen Vorteil abgewinnen. Von dieſem ſtillen Kampf heiß und atemlos, hielten beide gleichzeitig inne, und Tom ſagte: „Du biſt doch ein Feigling und ein Aff obendrein! Ich werd's meinem großen Bruder ſagen, der kann dich mit dem kleinen Finger verhauen, und ich werd's ihm ſagen, daß er's tut!“
„Was ſchert mich dein Bruder! Ich hab' einen Bruder, der noch viel ſtärker iſt als deiner. Der wirft deinen Bruder über den Zaun da!“
Beide Brüder waren natürlich durchaus imaginär.
„Das lügſt du!“
„Das weißt du!“
Tom zog mit dem Fuß einen Strich durch den Sand und ſagte: „Komm herüber und ich hau dich, daß du liegen bleibſt!“
Sofort ſprang der andere hinüber und ſagte herausfordernd: „So, nun tu's!“
„Mach mich nicht wütend, rat ich dir!“
„Beim Deuker, für zwei Penny würd' ich's wirklich tun!“
Im nächſten Augenblick hatte der feine Junge ein Zweipennyſtück aus der Taſche geholt und hielt es Tom herausfordernd vor die Naſe. Tom ſchlug es ihm aus der Hand. Im nächſten Augenblick rollten beide Jungen im Schmutz, ineinander verbiſſen wie zwei Katzen, und während ein paar Minuten riſſen und zerrten ſie ſich an den Haaren und Kleidern, ſchlugen und zerkratzten ſich die Naſen und bedeckten ſich mit Staub und Ruhm. Plötzlich klärte ſich die Situation, und aus dem Kampfgewühl tauchte Tom empor, auf dem andern reitend und ihn mit den Fäuſten traktierend.
„Sag: Genug!“
Der Bengel ſetzte ſeine krampfhaften Bemühungen, ſich zu befreien, fort, vor Wut ſchreiend.
„Sag: Genug!“ Und Tom prügelte luſtig weiter.
Schließlich ſtieß der andere ein halb erſticktes „Genug“ hervor. Tom ließ ihn aufſtehen und ſagte: „So, nun weißt du's! Das nächſte Mal ſieh dich beſſer vor, mit wem du anbindeſt!“
Der Fremde trollte ſich, ſich den Staub von den Kleidern ſchlagend, ſchluchzend, ſich die Naſe reibend, von Zeit zu Zeit ſich umſehend, um Tom zu drohen, daß er ihn das nächſte Mal verhauen werde, worauf Tom höhniſch lachte und ſeelenvergnügt nach Hauſe ſchlenderte. Und ſobald er den Rücken gewandt hatte, hob der andere einen Stein auf, zielte, traf Tom zwiſchen die Schultern und rannte davon mit der Geſchwindigkeit einer Antilope. Tom verfolgte den Verräter bis zu deſſen Wohnung und fand ſo heraus, wo er wohne. Als tapferer Held blieb er dann herausfordernd eine Zeitlang an einem Zaun ſtehen, um zu warten, ob der Feind es wagen werde, wieder herauszukommen; aber der Feind begnügte ſich, ihm durch die Fenſter Geſichter zu ſchneiden und hütete ſich, den neutralen Boden zu verlaſſen. Schließlich erſchien des Feindes Mutter und nannte Tom ein ſchlechtes, laſterhaftes, gemeines Kind und jagte ihn davon. So ging Tom alſo fort, aber er ſagte, „er hoffe, den Feind doch noch einmal zu erwiſchen.“
Er kam ein bißchen ſpät nach Haus, und indem er behutſam in das Fenſter kletterte, entdeckte er einen Hinterhalt in Geſtalt ſeiner Tante; und als ſie den Zuſtand ſeiner Kleider ſah, war ihr Entſchluß unumſtößlich gefaßt, ihn am Samſtag in ſtrenge Haft zu nehmen und ordentlich ſchwitzen zu laſſen.
Samſtag morgen war gekommen, und es war ein heller, friſcher Sommermorgen und ſprühend von Leben. Jedes Herz war voll Geſang, und weſſen Herz jung war, der hatte ein Lied auf den Lippen. Freude glänzte auf allen Geſichtern, und die Luſt, zu ſpringen, zuckte in aller Füßen. Die Akazien blühten, und ihr ſüßer Duft erfüllte die Luft.
Cardiff Hill, in der Nähe des Hauſes und dasſelbe überragend, war von Grün bedeckt und war gerade entfernt genug, um wie das gelobte Land, träumeriſch, ruhevoll und unberührt zu erſcheinen.
Tom erſchien auf der Bildfläche mit einem Eimer voll Farbe und einem großen Pinſel. Er überblickte die Umzäunung — und aller Glanz ſchwand aus der Natur, und tiefe Schwermut bemächtigte ſich ſeines Geiſtes. Dreißig Yards lang und neun Fuß hoch war der unglückliche Zaun! Das Leben erſchien ihm traurig. Er empfand ſein kleines Daſein als Laſt. Seufzend tauchte er den Pinſel in den Topf und ſtrich einmal über die oberſte Planke, wiederholte die Operation, und nochmals, und verglich das kleine geſtrichene Stückchen mit der unendlichen noch zu erledigenden Strecke — und hockte ſich entmutigt auf einen Baumſtumpf. Jim kam mit einem Zinneimer aus der Tür, „Buffalo Gals“ ſingend. Waſſer von der Pumpe zu holen, war Tom bisher immer als eine der unwürdigſten Verrichtungen erſchienen, jetzt ſchien es ihm anders. Er ſagte ſich, daß er dort Geſellſchaft finden werde; Weiße, Mulatten und Neger, Knaben und Mädchen traf man immer dort, die, bis an ſie die Reihe, zu pumpen kam, herumlungerten, irgend ein Spiel trieben, ſich zankten, prügelten und Wetten anſtellten. Und dann überlegte er, daß die Pumpe zwar nur einhundertundfünfzig Yards entfernt ſei, Jim trotzdem aber nie unter einer Stunde brauchte, um einen Eimer Waſſer zu holen, und dann auch noch gewöhnlich geholt werden mußte. Er ſagte alſo: „Du, Jim, ich will Waſſer holen, wenn du inzwiſchen anſtreichen willſt.“
Jim ſchüttelte den Kopf und antwortete: „Es geht nicht, Maſter Tom. Alte Dame ſagen mir zu gehen und holen Waſſer und nix aufhalten mit irgendwem. Sie ſagen, ſie wiſſen, daß Maſter Tom werden verſuchen zu gewinnen mich zu ſtreichen, und ſo ſie ſagen, Jim zu gehen nach ſein eigenes Geſchäft und nix zu ſtreichen.“
„Ach was, Jim, laß ſie nur reden! So macht ſie's immer. Gib mir nur den Eimer — du ſollſt ſehen, ich bin gleich wieder da! Sie braucht's ja nicht zu wiſſen.“
„Nein, Maſter Tom, ich nix tun! Alte Dame wollen ihm Kopf abreißen, wenn er tut ſo. Sicher, Maſter Tom!“
„Sie? Sie kann ja gar nicht ſchlagen — ſie fährt einem mit dem Fingerhut über den Kopf, und wer macht ſich daraus was? Ihre Worte ſind gefährlich, hm, — ja, aber ſagen, iſt doch nicht tun, wenn ſie nur nicht ſo viel dabei weinen wollte. — Du, Jim, ich geb dir auch 'ne Murmel! Oder 'ne Glaskugel!“
Jim begann zu ſchwanken.
„Eine weiße Glaskugel, Jim — und horch mal, was für 'nen ſchönen Klang hat ſie!“
„Ach, ſein das ſchöne, wunderſchöne Glaskugel! Aber Maſter Tom, ich haben ſo furchtbar Angſt vor alte Dame!“
Aber Jim war auch nur ein Menſch — dieſe Verführungskünſte waren zu ſtark für ihn. Er ſetzte ſeinen Eimer hin und griff nach der Kugel. Im nächſten Augenblick ſauſte er die Straße hinunter mit ſeinem Eimer und einem Schreckensſchrei, — Tom arbeitete mit Vehemenz, und Tante Polly, einen Pantoffel in der Hand und Triumph im Auge, kehrte vom Felde zurück.
Aber Toms Energie hielt nicht lange an. Er begann, an all die Streiche zu denken, die er für heute geplant hatte, und ſein Kummer wurde immer größer. Bald würden ſeine Spielgefährten, frei und ſorglos, vorbeikommen, um auf alle möglichen Expeditionen auszugehen und die würden ihre Witze reißen über ihn, der daſtand und arbeiten mußte — der bloße Gedanke daran brannte wie Feuer. Er kramte ſeine weltlichen Schätze aus und hielt Heerſchau: allerhand ſelbſterfundenes Spielzeug, Murmel und Plunder — genug, um ſich einen Arbeitstauſch zu erkaufen, aber nicht genug, um dadurch auch nur für eine halbe Stunde die Freiheit zu bekommen. So ſteckte er ſeine armſelige Habe wieder in die Taſche und gab den Gedanken auf, einen Beſtechungsverſuch bei den Jungen zu machen. Mitten in dieſe trüben und hoffnungsloſen Betrachtungen kam plötzlich ein Einfall über ihn. Durchaus kein großer, glänzender Einfall. Er nahm ſeinen Pinſel wieder auf und ſetzte ruhig die Arbeit fort. Ben Rogers erſchien in Sicht, der Junge aller Jungen, der ſich über alle luſtig machen durfte. Bens Gang war ſpringend, tanzend, hüpfend — Beweis genug, daß ſein Herz leicht und ſeine Gedanken und Pläne großartig waren. Er knupperte an einem Apfel und ließ ein langes, melodiöſes ho! ho! hören, gefolgt von einem gegrunzten: ding, dong, ding! ding, dong, dong! — denn er war in dieſem Augenblick ein Dampfboot. Als er näher kam, mäßigte er ſeine GeſchwindigKeit, nahm die Mitte der Straße, bog nach Steuerbord über und legte elegant und mit vielem Geſchrei und Umſtand bei, denn er vertrat hier die Stelle des „Big Miſſouri“ und hatte neun Fuß Tiefgang. Er war Dampfboot, Kapitän, Bemannung zugleich und ſah ſich ſelbſt auf der Kommandobrücke ſtehend, Befehle gebend und ihre Ausführung überwachend.
„Stopp!! Ling — a, ling, ling!!“ Die Hauptroute war zu Ende, und er wandte ſich langſam einem Nebenarme des Fluſſes zu. „Stopp! Zurück!! Ling — a, ling, ling!“ Seine Arme ſanken ermüdet herunter. „Steuerbord wenden! Ling — a, ling, ling! Tſchſchſchuh! Tſchuh! Tſchuuuhhh!!!“ Sein Arm beſchrieb jetzt große Kreiſe, denn er ſtellte ein Rad von 40 Fuß Durchmeſſer dar. „Backbord zurück! Ling — a, ling, ling! Tſchſchuh! Tſchuh! Tſchuuuhhh!!“ Wieder beſchrieb der Arm — diesmal der linke — gewaltige Kreiſe. „Steuerbord ſtopp!! Ling — a, ling, ling! Backbord ſtopp! Halt! Langſam überholen! Ling — a, ling, ling! Tſchſchuh! Tſchuh! Tſchuuuhhh!! Heraus mit dem Tau dort! Luſtig, hoho! Heraus damit! He — wird's bald?! Ein Tau dort um den Pfeiler — ſo, nun los, Jungens — los!! Maſchine ſtopp!! Ling — a, ling, ling!!“
„Tſchſchuh! Schſcht! Schſcht!!“ (Läßt den Dampf ausſtrömen.)
Tom war ganz vertieft in ſeine Anſtreicherei, er merkte nichts von der Ankunft des Dampfbootes! Ben blieb einen Moment ſtehen, dann ſagte er: „Ho, ho, Strafarbeit, Tom, he?“
Keine Antwort. Tom überſchaute ſeine Arbeit mit dem Auge eines Künſtlers. Dann machte er mit dem Pinſel noch einen eleganten Strich und übte wieder Kritik. Ben rannte zu ihm hin, Tom wäſſerte der Mund nach dem Apfel, aber er ſtellte ſich ganz vertieft in ſeine Arbeit. Ben ſagte: „Hallo, alter Burſche, Strafarbeit, was?“
„Ach, biſt du's, Ben. Ich hatte dich nicht bemerkt.“
„Weißt, ich geh' grad zum Schwimmen. Würdeſt du gern mitgehen können? Aber, natürlich, bleibſt du lieber bei deiner Arbeit, nicht?“
Tom ſchaute den Burſchen erſtaunt an und ſagte: „Was nennſt du Arbeit?“
„Na, iſt das denn keine Arbeit?“
Tom betrachtete ſeine Malerei und ſagte nachläſſig: „Na, vielleicht iſt das Arbeit, oder es iſt keine Arbeit, jedenfalls macht es Tom Sawyer Spaß.“
„Na, na, du willſt doch nicht wirklich ſagen, daß dir das da Spaß macht!?“
Der Pinſel ſtrich und ſtrich.
„Spaß? Warum ſoll's denn kein Spaß ſein? Kannſt du vielleicht jeden Tag einen Zaun anſtreichen?“
Ben erſchien die Sache plötzlich in anderem Lichte. Er hörte auf, an ſeinem Apfel zu knuppern. Tom fuhr mit ſeinem Pinſel bedächtig hin und her, hin und her, hielt an, um ſich von der Wirkung zu überzeugen, half hier und da ein bißchen nach, prüfte wieder, während Ben immer aufmerkſamer wurde, immer intereſſierter. Plötzlich ſagte er: „Du, Tom, laß mich ein bißchen ſtreichen!“
Tom überlegte, war nahe daran, einzuwilligen, aber er beſann ſich: „Ne, ne. Ich würde es herzlich gern tun, Ben. Aber — Tante Polly gibt ſo viel gerade auf dieſen Zaun, gerade an der Straße — weißt du. Aber wenn es der ſchwarze Zaun wäre, wär's mir recht und ihr wär's auch recht. Ja, ſie gibt ſchrecklich viel auf dieſen Zaun, deshalb muß ich das da ſehr ſorgfältig machen! Ich glaube von tauſend, was — zweitauſend Jungen iſt vielleicht nicht einer, der's ihr recht machen kann, wie ſie's haben will.“
„Na — wirklich? — Du — gib her, nur mal verſuchen, nur ein klein — bißchen verſuchen. Ich würde dich laſſen, wenn's meine Arbeit wäre, Tom.“
„Ben, ich würd's wahr — haf — tig gern tun; aber Tante Polly — weißt du, Jim wollt's auch ſchon tun, aber ſie ließ ihn nicht. Sid wollte es tun, aber ſie ließ es ihn auch nicht tun! Na, ſiehſt du wohl, daß es nicht geht? Wenn du den Zaun anſtricheſt und es paſſierte was, Ben —“
„O, Unſinn! Ich will's ſo vorſichtig machen! Nur mal verſuchen! Wenn ich dir den Reſt von meinem Apfel geb'?“
„Na, dann — ne, Ben, tu's nicht, ich hab' ſolche Angſt —!“
„Ich geb' dir den ganzen Apfel!“
Tom gab mit betrübter Miene den Pinſel ab — innerlich frohlockend. Und während der Dampfer „Big Miſſouri“ in der Sonnenhitze arbeitete und ſchwitzte, ſaß der Künſtler, ausruhend, auf einem Baumſtumpf im Schatten des Zaunes, ſchlug die Beine übereinander, verzehrte ſeinen Apfel und grübelte, wie er noch mehr Unſchuldige zu ſeinem Erſatz anlocken könne. Opfer genug waren vorhanden. Jeden Augenblick ſchlenderten Knaben vorbei. Sie kamen, um ihn zu verhöhnen und blieben, um zu ſtreichen. Nach einiger Zeit war Ben müde geworden, Tom hatte als Nächſten Billy Fisher ins Auge gefaßt, der ihm eine tote Ratte und eine Schnur, um die Ratte daran durch die Luft fliegen zu laſſen, anbot; und von Johnny Miller bekam er eine gut erhaltene Sackpfeife, und ſo immer weiter — ſtundenlang. Und als der Nachmittag halb vergangen war, war aus dem armen, verlaſſenen Tom vom Morgen ein buchſtäblich in Reichtum ſchwimmender Tom geworden. Er beſaß außer den angeführten Sachen zwölf Murmel, ein Stück eines Brummeiſens, ein Stück blau gefärbtes Glas zum Durchſchauen, eine Spielkanone, ein Meſſer, das gewiß nie jemand Schaden getan hatte oder jemals tun konnte, ein bißchen Kreide, einen Glasſtöpſel, einen Zinnſoldaten, den Kopf eines Froſches, ſechs Feuerſchwärmer, ein Kaninchen mit einem Auge, einen meſſingnen Türgriff, ein Hundehalsband (aber keinen Hund), den Griff eines Meſſers, vier Orangeſchalen und einen kaputten Fenſterrahmen. Er hatte einen ſorgloſen, bequemen, luſtigen Tag gehabt, eine Menge Geſellſchafter — und der Zaun hatte eine dreifache Lage Farbe bekommen! Wäre nicht der Zaun jetzt fertig geweſen — Tom hätte noch alle Jungens des Dorfes bankerott gemacht.
Tom dachte bei ſich, die Welt wäre ſchließlich doch wohl nicht ſo buckelig. Er war, ohne es ſelbſt recht zu wiſſen, hinter ein wichtiges Geſetz menſchlicher Tätigkeit gekommen, das nämlich, daß, um jemand, groß oder klein, nach etwas lüſtern zu machen, es nur nötig iſt, dieſes Etwas ſchwer erreichbar zu machen. Wäre er ein großer und weiſer Philoſoph geweſen, gleich dem Verfaſſer dieſes Buches, er würde jetzt begriffen haben, daß, was jemand tun muß, Arbeit, was man freiwillig tut, dagegen Vergnügen heißt. Er würde ferner verſtanden haben, daß künſtliche Blumen machen oder in der Tretmühle ziehen, „Arbeit“ iſt, Kegelſchieben aber oder den Mont Blanc beſteigen, „Vergnügen“.
Es gibt reiche Engländer, die einen Viererzug zwanzig bis dreißig Meilen in einem Tage laufen laſſen, weil dieſer Spaß ſie einen Haufen Geld koſtet; würden ſie aber dafür bezahlt werden, ſo würden ſie es als „Arbeit“ anſehen und darauf verzichten.
Tom präſentierte ſich Tante Polly, welche in einem gemütlichen, zugleich als Schlaf-, Frühſtücks- und Speiſezimmer dienenden Raum am offenen Fenſter ſaß und fleißig mit Handarbeit beſchäftigt geweſen war. Die balſamiſche Sommerluft, die vollkommene Ruhe, Blumenduft und Summen der Bienen, alles hatte ſeine Wirkung geübt — ſie war über ihrer Beſchäftigung eingenickt. Sie hatte nur die Katze zur Geſellſchaft gehabt, und die ſchlief in ihrem Korbe. Die Brille hatte ſie (Tante Polly) zur Vorſicht auf ihren grauen Kopf weiter hinaufgeſchoben. Sie mochte geglaubt haben, Tom ſei längſt wieder flüchtig geworden und wunderte ſich nun, ihn ungeniert neben ſich ſitzen zu ſehen.
„Darf ich jetzt ſpielen gehen, Tante?“ fragte Tom unſchuldig.
„Was, ſchon wieder? Was haſt du denn heut getan?“
„Alles fertig, Tante!“
„Tom, lüg' nicht! Ich glaub's nicht!“
„Ich lüge aber nicht, Tante. Es iſt alles fertig.“
Tante Polly ſetzte kein beſonderes Vertrauen in ſeine Beteuerungen. Sie ging hinaus, um ſelbſt zu ſehen, und ſie wäre zufrieden geweſen, hätte ſie zwanzig Prozent von Toms Worten wahr gefunden; als ſie ſah, daß wirklich der ganze Zaun geſtrichen und nicht nur leicht geſtrichen, ſondern gründlich und mehrfach mit Farbe bedeckt, und noch ein Stück Boden obendrein eine Farbſchicht abbekommen hatte, war ihr Erſtaunen unausſprechlich. Sie ſagte: „Na, das hätt' ich nicht für möglich gehalten! Ich ſehe, Tom, du kannſt arbeiten, wenn du willſt.“ Und dann dämpfte ſie das Kompliment, indem ſie hinzufügte: „Aber es iſt mächtig ſelten, daß du willſt — leider. 's iſt gut, geh' jetzt und ſpiel. Schau aber, daß du in einer Woche ſpäteſtens wieder hier biſt, oder ich hau' dich — —“
Sie war ſo überraſcht durch den Glanz ſeiner Heldentat, daß ſie ihn in die Speiſekammer zog und einen auserwählten Apfel hervorſuchte und ihn ihm gab — mit dem ſalbungsvollen Hinweis darauf, wie getane Arbeit jeden Genuß erhöhe und veredele — wenn ſie fleißig, ehrlich und ohne Kniffe und Betrügerei getan werde. Und während ſie mit einer paſſenden Bibelſtelle ſchloß, hatte er ein Stück Kuchen ſtibitzt. Dann hüpfte er davon und ſah Sid gerade die Außentreppe hinaufklettern, die auf einen Hinterraum im zweiten Boden führte. Erdklumpen waren genug vorhanden, und im nächſten Moment ſauſten eine ganze Menge durch die Luft. Sie fielen wie ein Hagelwetter um Sid herum nieder. Und bevor Tante Polly ihre überraſchten Lebensgeiſter ſammeln konnte und zu Hilfe eilen, hatten ſechs oder ſieben Geſchoſſe ihr Ziel erreicht, und Tom war über den Zaun und davon. Es war zwar eine Tür in demſelben, aber wie man ſich denken kann, hatte Tom es viel zu eilig, um da durchzugehen. Er fühlte ſich erleichtert, nun er ſich mit Sid wegen deſſen Verrates auseinandergeſetzt und ihm eine tüchtige Lektion gegeben hatte.
Tom umging einen Häuſerblock und gelangte in eine ſchlammige Allee, die zu Tante Pollys Kuhſtall führte. Tom machte ſich ſchleunigſt aus dem Gebiet, wo Gefangenſchaft und Strafe drohten und ſtrebte dem öffentlichen Spielplatz des Dorfes zu, wo ſich zwei feindliche Truppen von Knaben Rendezvous geben ſollten — nach vorhergegangener Verabredung. Tom war der Anführer der einen, ſein Buſenfreund Joe Harper kommandierte die andere. Dieſe beiden großen Generale ließen ſich nicht herab, ſelbſt zu kämpfen — das ſchickt ſich für den großen Haufen — ſondern ſaßen zuſammen auf einem Hügel und leiteten die Operationen durch Befehle an die Unterführer. Toms Armee gewann einen großen Sieg — nach einer langen, hartnäckigen Schlacht. Dann wurden die Toten beerdigt, die Gefangenen ausgetauſcht, die Beſtimmungen für das nächſte Zuſammentreffen getroffen und der Tag dafür feſtgeſetzt, worauf ſich die Armeen in Kolonnen formierten und zurückmarſchierten — Tom marſchierte allein nach Haus.
Als er an dem Hauſe des Jeff Thatcher vorbeikam, ſah er im Garten ein unbekanntes Mädchen, ein liebliches, kleines, blauäugiges Geſchöpf mit hellem, in zwei Zöpfen gebundenem Haar, weißem Sommerkleid und geſtickten Höschen. Der ruhmreiche Held fiel, ohne einen Schuß getan zu haben. Eine gewiſſe Amy Lawrence war mit einem Schlage aus ſeinem Herzen verſtoßen und ließ nicht einmal eine Erinnerung darin zurück. Er hatte ſie bis zum Wahnſinn zu lieben geglaubt; ſeine Liebe war ihm als Anbetung erſchienen; und nun zeigte es ſich, daß es nur eine ſchwache, unbeſtändige Neigung geweſen ſei. Er hatte durch Monate um ſie geſeufzt, ſie hatte ſeine Liebe vor kaum einer Woche erſt mit ihrer Gegenliebe belohnt; er war vor kurzen ſieben Tagen noch der glücklichſte und ſtolzeſte Burſche der Welt geweſen, und jetzt, in einem Augenblick war ſie gleich irgend einer beliebigen Fremden, der man flüchtig begegnet iſt, aus ſeinem Herzen verſchwunden.
Er betrachtete dieſen neuen Engel mit glänzenden Augen, bis er merkte, daß ſie ihn entdeckt habe. Dann ſtellte er ſich, als wiſſe er gar nichts von ihrer Anweſenheit, und begann dann, nach rechter Jungensmanier, ſich zu ſpreizen, um ihre Bewunderung zu erregen. Dieſe Torheiten trieb er eine Weile, ſchielte dann hinüber und ſah, daß das kleine Mädchen ſich dem Hauſe zugewandt hatte. Tom kletterte auf den Zaun und balancierte oben herum, machte ein trübſeliges Geſicht und hoffte, ſie werde ſich dadurch zu längerem Verweilen bewegen laſſen. Sie blieb auch einen Augenblick ſtehen, dann ging ſie weiter der Tür zu. Tom ſtieß einen tiefen Seufzer aus, als ſie die Türſchwelle betrat, aber ſeine Mienen hellten ſich auf, leuchteten vor Vergnügen, denn ſie hatte in dem Moment, ehe ſie verſchwand, ein Stiefmütterchcn über den Zaun geworfen. Tom rannte herzu und blieb dicht vor der Blume ſtehen, beſchattete ſeine Augen und ſchaute die Straße hinunter, als hätte er dort etwas von größtem Intereſſe entdeckt. Dann nahm er einen Strohhalm auf und begann ihn auf der Naſe zu balancieren, indem er den Kopf zurückwarf. So ſich rechts und links drehend, kam er der Blume immer näher. Schließlich ruhte ſein bloßer Fuß darauf, ſeine Zehen nahmen ſie auf, und er hüpfte mit ſeinem Schatz davon und verſchwand um die nächſte Ecke. Aber nur für eine Minute — bis er die Blume unter ſeiner Jacke verſteckt hatte, auf ſeinem Herzen oder auch auf dem Bauche, denn er war in der Anatomie nicht ſehr bewandert und durchaus nicht kritiſch. Dann kehrte er zurück, lungerte auf ſeinem Zaun herum und ließ ſeine Augen nach ihr herumſpazieren, bis die Nacht anbrach; aber die Kleine ließ ſich nicht wieder ſehen. Tom tröſtete ſich mit dem Gedanken, daß ſie hinter irgend einem Fenſter geſtanden und von ſeinen Aufmerkſamkeiten Notiz genommen habe. Endlich ging er nach Hauſe, den Kopf voll angenehmer Vorſtellungen.
Während des ganzen Abendeſſens war er ſo geiſtesabweſend, daß ſich ſeine Tante wunderte, was in ihn gefahren ſein könne. Er bekam wegen ſeiner Beſchießung Sids Schelte und ſchien ſich weiter gar nichts daraus zu machen.
Er verſuchte, ſeiner Tante vor der Naſe Zucker zu ſtehlen und bekam was auf die Finger. Er ſagte: „Tante, du ſchlägſt Sid nie, wenn er ſo was macht!“
„Na, Sid treibt's auch nicht ſo arg wie du. Du würdeſt den ganzen Tag im Zucker ſein, wenn ich nicht aufpaßte.“
Gleich darauf ging ſie in die Küche, und Sid, auf ſeine Unverletzlichkeit pochend, griff nach der Zuckerdoſe, mit einer Selbſtüberhebung gegen Tom, die dieſem unerträglich dünkte. Aber Sids Finger glitten aus, und die Zuckerdoſe fiel auf den Boden und zerbrach. Tom war außer ſich vor Vergnügen, ſo außer ſich, daß er ſogar ſeine Zunge im Zaume hielt und verſtummte. Er nahm ſich vor, kein Wort zu ſagen, auch nicht, wenn ſeine Tante wieder hereinkomme — ſolange, bis ſie frage, wer dieſes Verbrechen begangen habe. Dann wollte er es ſagen, und niemand auf der Welt würde ſo glücklich ſein wie er, wenn dieſer Muſterknabe auch einmal was auf die Pfoten bekam. Er war ſo voll Erwartung, daß er ſich kaum zurückhalten konnte, als die alte Dame dann kam und vor den Scherben ſtand und Zornesblitze über den Rand ihrer Brille ſchleuderte. Er ſagte zu ſich: Jetzt kommt's! Und im nächſten Augenblick zappelte er auf dem Fußboden! Eine drohende Hand ſchwebte über ihm, um ihn nochmals zu treffen; Tom brüllte: „Halt, halt, warum prügelſt du mich? Sid hat ſie zerbrochen!“
Tante Polly hielt erſchrocken inne, und Tom ſah ſofort, daß ſich das Mitleid bei ihr zu regen begann. Aber ſie ſagte nur: „Auf! Ich denke, bei dir ſchadet kein Schlag. Du haſt manches auf dem Kerbholz, wofür du keine Prügel bekommen haſt.“
Dann aber empfand ſie doch Reue und hätte gerne etwas Liebevolles, Verſöhnendes geſagt. Aber ſie dachte, das könne als Zugeſtändnis ihres Unrechts gelten, und dadurch würde die Disziplin leiden. So ſchwieg ſie und ging betrübten Herzens ihren Geſchäften nach. Tom verkroch ſich in einen Winkel und wühlte in ſeinen Leiden. Er wußte, daß ſeine Tante innerlich vor ihm auf den Knien lag, und er fühlte wilde Genugtuung bei dieſem Gedanken. Er würde ſich nichts merken laſſen und „nicht dergleichen tun.“ Er wußte, daß liebevolle Blicke auf ihm ruhten, aber er ſpielte den Gleichgültigen. Er ſtellte ſich vor, wie er krank oder tot daliege und ſeine Tante händeringend über ihm, um ein verzeihendes Wort bettelnd; aber er würde ſich abwenden und ſterben, ohne das Wort zu ſagen. Was würde ſie dann wohl empfinden? Dann wieder ſah er ſich, vom Fluß nach Hauſe getragen, tot, mit triefenden Haaren, ſteifen Gliedern und für immer erſtarrtem Herzen. O, wie würde ſie ſich über ihn werfen, wie würden ihre Tränen fließen und wie würde ſie zu Gott flehen, ihn ihr wiederzugeben, und ſie würde ihn nie, nie wieder mißhandeln! Aber er würde kalt und blaß daliegen und ſich nicht regen, ein kleiner Märtyrer, deſſen Leiden für immer zu Ende ſind. So ſchraubte er ſeine Gefühle durch eingebildetes Elend künſtlich in die Höhe, daß er faſt daran erſtickt wäre — er war ſo leicht gerührt! Seine Augen ſchwammen in einem trüben Nebel, welcher zu Tränen wurde, ſobald er blinzelte, und herabrann und von der Spitze ſeiner Naſe troff. Und ſolche Wolluſt bereitete ihm ſein Kummer, daß er ſich nicht um die Welt von irgend jemand hätte tröſten oder aufheitern laſſen; er war viel zu zart für eine ſolche Berührung mit der Außenwelt. Und als ſeine Couſine Mary nach einem eine ganze Woche langen Beſuch auf dem Lande luſtig und guter Dinge hereinhüpfte, ſprang er auf und ſchlich in Einſamkeit und Kälte zu einer Tür hinaus, während ſie Geſang und Sonnenſchein zur anderen hereinbrachte. Er vermied die Orte, an denen ſich ſeine Freunde herumzutreiben pflegten und ſuchte vielmehr troſtlos-verlaſſene Gegenden, die mit ſeiner Stimmung mehr im Einklang wären.
Ein Holzfloß auf dem Fluſſe lud ihn ein; er ſetzte ſich ans äußerſte Ende und verſenkte ſich in die traurige Eintönigkeit um ihn her und wünſchte nichts anderes, als tot und ertrunken zu ſein — aber ohne vorher einen häßlichen Todeskampf durchmachen zu müſſen. Danach zog er ſeine Blume hervor. Sie war zerknittert und verwelkt und erhöhte noch das ſüße Gefühl der Selbſtbemitleidung.
Ob ſie Mitleid mit ihm haben würde, wenn ſie wüßte? Würde ſie weinen und ſich danach ſehnen, die Arme um ihn zu ſchlingen und ihn wieder zu erwärmen? Oder würde ſie ſich gleich der übrigen Welt kalt abwenden? Dieſes Bild ſchien ihm ſo rührend, daß er es ſich immer und immer wieder ausmalte und ausſchmückte, bis er es greifbar vor ſich ſah. Schließlich ſtand er ſeufzend auf und ſchlich in die Finſternis hinaus. Um halb zehn oder zehn Uhr gelangte er in die Straße, in welcher die angebetete Unbekannte wohnte. Er blieb einen Augenblick ſtehen; kein Ton traf ſein lauſchendes Ohr; aus einem Fenſter des zweiten Stockes fiel ein ſchwacher Lichtſchimmer. War dieſer Raum durch ihre Anweſenheit geheiligt? Er erkletterte den Zaun und bahnte ſich ſeinen eigenen Weg durch das Buſchwerk, bis er unter dem Fenſter ſtand. Lange und aufmerkſam ſpähte er hinauf. Dann legte er ſich auf die Erde nieder, die Hände über der Bruſt gefaltet und in den Händen ſeine arme, verwelkte Blume. Und ſo wollte er ſterben — draußen, in der kalten Welt, kein Dach über ſich, ohne eine freundliche Hand, die ihm den Todesſchweiß von der Stirn wiſchen würde, ohne ein mitleidiges Geſicht, das ſich, wenn der Todeskampf kam, über ihn beugen würde — und würde ſie wohl eine Träne weinen über ſeinen armen toten Leib, würde es ihr weh tun, ein blühendes, junges Leben ſo grauſam geknickt, ſo nutzlos vernichtet zu ſehen?
Das Fenſter ging auf; eines Dienſtmädchens mißtönende Stimme entweihte die ſtille Ruhe und ein Strom Waſſer überſchüttete die Überreſte des Märtyrers. Halb erſtickt ſprang unſer Held auf, pruſtend und ſich ſchüttelnd. Ein Wurfgeſchoß durchſauſte die Luft, ein unterdrückter Fluch, das Klirren einer zerbrochenen Fenſterſcheibe — und eine kleine unbeſtimmte Geſtalt kroch über den Zaun und verſchwand in der Dunkelheit.
Nicht lange danach, als Tom bereits zum Schlafengehen entkleidet, ſeine durchnäßten Sachen beim Scheine eines Talglichtes beſichtigte, erwachte Sid. Er wollte ſeine Gloſſen dazu machen, hielt es aber doch für beſſer, zu ſchweigen, denn aus Toms Augen ſchoſſen Blitze. Tom kroch ins Bett, ohne ſich lange mit Beten aufzuhalten, und Sid merkte ſich das gehörig, um gelegentlich Gebrauch davon zu machen.
Die Sonne ging über einer ruhigen Welt auf und ſchien über das Dorf wie ein Segensſpruch. Nach dem Frühſtück hielt Tante Polly Hausandacht. Sie begann mit einem aus den kräftigſten Bibelſtellen beſtehenden, mit ein bißchen eigenen Gedanken verbrämten Gebet. Und von dieſer Höhe aus gab ſie ein grimmiges Kapitel des moſaiſchen Geſetzes zum beſten — wie vom Sinai herab. Danach gürtete Tom, um dieſen Ausdruck zu gebrauchen, ſeine Lenden und machte ſich ans Werk, ſich ſeine Bibelverſe einzutrichtern. Sid hatte die natürlich ſchon am Tage vorher gelernt. Tom brachte es mit Aufbietung aller Energie auf fünf Verſe — die er aus der Bergpredigt gewählt hatte, da er keine kürzeren finden konnte.
Nach einer halben Stunde hatte Tom eine unbeſtimmte, allgemeine Idee von ſeiner Lektion. Weiter kam er nicht, denn ſeine Gedanken ſpazierten durch das ganze Gebiet menſchlichen Denkens, und ſeine Finger hatten allerhand zerſtreuende Nebenbeſchäftigungen. Schließlich nahm Mary ſein Buch, um ihn zu überhören, und er machte krampfhafte Anſtrengungen, um ſeinen Weg durch den Nebel zu finden.
„Selig ſind die — ä — ä — ä —“
„Die da arm ſind —“
„Ja — arm ſind; ſelig ſind, die da arm ſind — ä — ä — ä —“
„Im Geiſte —“
„Im Geiſte; ſelig ſind, die da arm ſind im Geiſte, denn ſie — ſie —“
„Ihrer —“
„Denn ihrer; ſelig ſind, die da arm ſind im Geiſte, denn ihrer — iſt das Himmelsreich!“
„Selig ſind, die da Leid tragen, denn ſie — ſie — ä — ä —“
„So — —“
„Denn ſie s — o —“
„S — o — l — l —?“
„Denn ſie ſoll —. Ach was, ich weiß nichts weiter!“
„Sollen —“
„Ach ſo: ſollen! Denn ſie ſollen — denn ſie ſollen — ä —ä — ſollen Leid tragen —, denn ſie ſollen — ä — ſollen — was? Warum ſagſt du mir's nicht. Mary! Sei doch nicht ſo eklig!“
„Ach, Tom, du armer, dickköpfiger Kerl, ich quäl' dich ja nicht. Das fällt mir gar nicht ein. Du mußt dich halt nochmal dahinter ſetzen. Nur nicht mutlos. Tom, du wirſt es ſchon zwingen — und wenn du's kannſt, Tom, geb ich dir ganz, ganz was Schönes! Na alſo, ſei ein braver Junge!“
„Meinetwegen. — Du, Mary, was iſt es denn?“ „Jetzt noch nicht, Tom. Wenn ich ſage, 's iſt was Schönes, dann iſt's was Schönes!“
„Da haſt du recht, Mary. Na alſo, ich werd's noch mal tun!“
Und er machte ſich nochmal darüber. Und unter dem doppelten Anſporn der Neugier und der Erwartung des Gewinnes machte er ſich mit ſolcher Vehemenz darüber, daß er einen ſchönen Erfolg hatte.
Mary gab ihm ein nagelneues Taſchenmeſſer, zwölf und einen halben Pence mindeſtens im Wert; ein Schauer des Entzückens fuhr ihm durch die Glieder. Es iſt wahr, zum Schneiden war das Meſſer nicht gerade zu brauchen, aber es war ein echtes „Barlow“ und von unausſprechlicher Pracht; und wenn unter den Burſchen des „Wild-Weſt“ die Behauptung aufgeſtellt worden iſt, dieſes Meſſer trage ſeine Bezeichnung als „Waffe“ durchaus zu Unrecht, ſo iſt das eine koloſſale Lüge; ſo iſt's, mögen ſie ſagen, was ſie wollen. Tom verſuchte die Tiſchkante damit anzuſchneiden, und war eben in voller Tätigkeit, als man ihn abrief, um zur Sonntagsſchule Staat zu machen.
Mary gab ihm einen Zinneimer und Seife, und er ging zur Tür hinaus und ſetzte den Eimer auf eine kleine Bank; dann tauchte er die Seife ins Waſſer und legte ſie daneben; krempelte ſich die Ärmel auf, ließ das Waſſer auslaufen, ging in die Küche zurück und begann hinter der Tür ſich das Geſicht mit dem Tuch eifrig abzutrocknen.
Aber Mary entriß ihm das Tuch und ſagte: „Schämſt du dich nicht, Tom? Du ſollſt nicht immer ſo ſchlecht ſein. Ein bißchen Waſſer ſchadet dir wahrhaftig nicht.“
Tom war einen Augenblick in Verwirrung. Der Eimer wurde wieder gefüllt, und diesmal blieb er eine Weile darüber gebeugt ſtehen, Mut ſammelnd. Ein tiefer Seufzer — und los! Als er dann wieder in die Küche zurückkam, beide Augen geſchloſſen, und nach dem Tuch griff, tropften Schmutz und Waſſer von ſeinem Geſicht herunter — ein ehrenvolles Zeichen ſeines Mutes. Aber als er hinter dem Tuche wieder auftauchte, ſah er durchaus noch nicht einwandfrei aus; das reine Gebiet hörte an Mund und Ohren auf. Jenſeits dieſer Linie breitete ſich eine undurchdringlich ſchwarze Fläche bis in den Nacken aus. Mary nahm ihn jetzt in die Mache und als ſie mit ihm fertig war, ſah er wie ein tadelloſer Gentleman aus, fleckenlos und mit hübſchen Sonntagslocken in gleichmäßiger Verteilung. (Er ſelbſt haßte dieſe Locken von Herzen und verſuchte, ſie auf den Kopf niederzubürſten; denn er hielt Locken für weibiſch, und ſie erfüllten ſein Leben mit Bitterkeit.) Dann kam Mary mit einem Anzuge, den er während zweier Jahre nur an Sonntagen getragen hatte und der allgemein nur als die „anderen Kleider“ bezeichnet wurde — woraus man auf den Stand ſeiner Garderobe ſchließen kann. Das Mädchen ſchubſte ihn noch ein bißchen zurecht, nachdem er ſich ſelbſtändig angezogen hatte. Sie verlieh ihm einen gewiſſen (ganz ungewohnten) Schein von Zierlichkeit, zog den Hemdkragen herunter, bürſtete ihn ab und krönte ihn mit ſeinem farbigen Strohhut. So ſah er außerordentlich ſanftmütig und behaglich aus. Und er fühlte ſich auch ſo. Sein Widerwillen gegen ganze und ſaubere Kleider war unverwüſtlich. Er hoffte, Mary werde wenigſtens die Stiefel vergeſſen, aber dieſe Hoffnung wurde zunichte. Sie beſtrich ſie, wie es ſich gehört, mit Talg und brachte ſie ihm. Jetzt verlor er die Geduld und ſagte, er ſolle immer tun, was er nicht möchte. Aber Mary ſagte überredend: „Na, komm, Tom, ſei ein braver Burſche!“ So fuhr er brummend in ſeine Stiefel. Mary war bald fertig, und die drei Kinder gingen zur Sonntagsſchule, ein Ort, der Tom gründlich verhaßt war. Aber Sid und Mary gingen ſehr gern hin.
Die Zeit der Sonntagsſchule war von neun bis halb zehn Uhr; dann kam der Gottesdienſt. Zwei der Kinder blieben ſtets mit Vergnügen zur Predigt da, das dritte blieb auch — ja, aber aus anderen Gründen. Die hochlehnigen, ſchmucken Kirchenſtühle konnten über dreihundert Perſonen faſſen; das Gebäude ſelbſt war klein, vollgeſtopft — mit einer Art fichtenem Kaſten als Turm darauf.
An der Tür blieb Tom ein bißchen zurück und hielt einen ſonntäglich gekleideten Kameraden an: „Sag, Bill, haſt du ein gelbes Billett?“
„M — ja!“
„Was willſt du dafür haben?“
„Was willſt du geben?“
„Ein Stück Zuckerſtange und einen Angelhaken.“
„Zeig her.“
Tom zeigte ſeine Tauſchobjekte. Sie waren befriedigend, und das Geſchäft wurde gemacht. Dann erhandelte Tom einige blaue und rote Zettel gegen ähnliche Kleinigkeiten. Er ſtellte die anderen Jungen, wie ſie ihm in den Weg kamen, und verkaufte, indem er Zettel der verſchiedenen Farben dagegen kaufte. Dann ging er in die Kirche, inmitten eines Schwarmes geputzter, lärmender Knaben und Mädchen, ſchlängelte ſich auf ſeinen Platz und fing mit dem erſten beſten Streit an. Der Lehrer, ein würdiger, bejahrter Mann, trat dazwiſchen. Dann wandte er ſich einen Augenblick um, und Tom riß einen Knaben in der vorderen Bank an den Haaren und war vertieft in ſein Buch, als der Knabe herumfuhr. Darauf ſtach er einen anderen mit einer Nadel, dieſer ſchrie auf, und Tom erhielt abermals einen Verweis. Toms ganze Klaſſe war eine Muſterklaſſe — nach ſeinem Muſter — unruhig, vorlaut und lärmend. Als es ans Aufſagen der Lektion ging, wußte nicht ein einziger ſeine Verſe gründlich, alles ſtümperte und war unſicher. Indeſſen — ſie kamen durch, und jeder erhielt ſeine Beſtätigung in Form eines blauen Zettels, jeder mit einem Bibelſpruch darauf; jeder ſolcher Zettel galt für zwei aufgeſagte Verſe. Zehn blaue Zettel waren gleich einem roten und konnten gegen einen ſolchen umgetauſcht werden; zehn rote machten einen gelben aus, und für dieſen gab der Superintendent eine ſehr einfach gebundene Bibel (heutzutage gewiß vierzig Cents wert).
Wie viele meiner Leſer würden Fleiß und Aufmerkſamkeit genug haben, um zweitauſend Verſe auswendig zu lernen, und handelte es ſich um eine Doréeſche Bibel? Und doch hatte Mary auf dieſe Weiſe zwei Bibeln erworben; es war das Werk zweier Jahre; ein Knabe deutſcher Abkunft hatte es gar auf vier oder fünf gebracht. Einmal hatte er dreitauſend Verſe hergeſagt, ohne zu ſtocken. Aber die geiſtige Anſtrengung war zu groß geweſen, und er war von dem Tage an nicht viel beſſer als ein Idiot — ein böſes Mißgeſchick für die Schule, denn vor dieſem Ereignis hatte der Superintendent bei beſonderen Gelegenheiten den Knaben vortreten und „ſich blähen“ laſſen (wie Tom das nannte). Nur die geſetzteren Schüler gaben ſich die Mühe, ihre Zettel aufzubewahren, und ihr langweiliges Werk ſolange fortzuſetzen, bis ſie Anſpruch auf eine Bibel hatten. So war die Erlangung eines ſolchen Preiſes ein ſeltenes und bemerkenswertes Ereignis; der Sieger war an ſeinem Ehrentage eine ſo große, hervorragende Perſon, daß heiliger Ehrgeiz die Bruſt eines jeden Schülers erfüllte und oft mehrere Wochen anhielt. Es iſt möglich, daß Toms Streben niemals auf einen ſolchen Preis gerichtet war, zweifellos aber ſehnte ſich ſein ganzes Sein nach dem Ruhm und Aufſehen, die ein ſolches Ereignis mit ſich brachten.
Der Geiſtliche ſtand jetzt vor der Verſammlung, einen geſchloſſenen Pſalter in der Hand und den vierten Finger zwiſchen die Blätter geſchoben. Er befahl Ruhe. Wenn nämlich ein Sonntagsſchullehrer ſeine gewohnte kleine Rede vom Stapel laſſen will, iſt ein Pſalterbuch in ſeiner Hand ſo notwendig, wie die Notenblätter in der Hand eines Sängers, der im Konzert vom Podium aus ein Solo vortragen ſoll — wer weiß, warum? Denn niemals werden Pſalterbuch oder Notenblätter beim Vortrag geöffnet.
Der Superintendent war ein ſchmächtiger Mann von fünfunddreißig Jahren, mit ſandgelbem Ziegenbart und kurzgeſchorenem ſandgelbem Haar. Er trug einen ſteifen Stehkragen, deſſen oberer Rand ſeine Ohren ſtreifte und deſſen ſcharfe Ecken bis zu den Mundwinkeln vorſprangen — eine Planke, die ihn zwang, den Kopf ſtets vorzuſtrecken und den ganzen Körper zu drehen, wenn er zur Seite blicken wollte. Sein Kinn war in eine rieſige Krawatte gezwängt, die ſo breit und lang war, wie eine Banknote und ſpitze Enden hatte. Mr. Walter war äußerſt ernſthaft von Ausſehen und ſehr gutmütig und ehrenhaft von Charakter. Und er hielt geiſtige Dinge und Angelegenheiten ſo ſehr in Ehren und wußte ſie ſo ſtreng von allem Weltlichen zu trennen, daß ſeine Sonntagsſchulſtimme ihm ſelbſt unbewußt einen gewiſſen Klang angenommen hatte, von dem ſie an Wochentagen vollkommen frei war.
Er begann alſo: „Nun, Kinder, ſitzt einmal ſo ruhig und geſittet, als es euch nur immer möglich iſt, und paßt einmal ein paar Minuten tüchtig auf, denn darauf kommt es vor allem an! Das ſollten alle braven Knaben und Mädchen ſtets tun! Ich ſehe ein kleines Mädchen, das zum Fenſter hinausſchaut — ich fürchte, ſie bildet ſich ein, ich wäre irgendwo draußen, vielleicht in einem Baum und hielte den Vögeln meine Rede?! (Unterdrücktes Kichern.) Ich möchte euch ſagen, daß es mich glücklich macht, ſo viele friſche, helle Kindergeſichter an dieſem Ort verſammelt zu ſehen, um zu lernen, recht tun und gut ſein.“
In dieſem Stil ging's immer weiter. Es iſt nicht nötig, den Reſt der Rede hierherzuſetzen. Sie war ganz nach bekanntem Muſter — wir alle haben ſie mal gehört.
Das letzte Drittel der Rede wurde durch die Wiederaufnahme des Kampfes zwiſchen gewiſſen böſen Buben geſtört und durch Unruhe und Geſchwätz hier und dort, deren Wellen ſogar an den Grundlagen ſolcher Felſen der Folgſamkeit und Bravheit, wie Sid und Mary, nagten. Aber mit dem Schwächerwerden von Mr. Walters Stimme wurde auch das allgemeine Summen ſchwächer, und der Schluß der Rede wurde mit ſtiller Heiterkeit begrüßt.
Zum guten Teil war die Unaufmerkſamkeit hervorgerufen worden durch ein ziemlich ſeltenes Vorkommnis: das Erſcheinen von Beſuchern: Richter Thatcher, begleitet von einem ſehr ſchwachen, alten Mann, einem vornehmen, mittelalterlichen Gentleman mit eiſengrauem Haar, und einer würdevollen Dame, zweifellos der Frau des letzteren. Die Dame führte ein Kind an der Hand. Tom war bis dahin unruhig und ſchuldbewußt geweſen — er konnte den Blick aus Amy Lawrences Augen nicht ertragen — es ſprach zu viel Liebe aus dieſem Blick! Aber als er dieſen kleinen Ankömmling ſah, war ſeine Beklommenheit auf einmal vorbei. Im nächſten Augenblick ließ er wieder ſeine Künſte ſpielen — er knuffte andere Knaben, riß ſie an den Haaren, ſchnitt Fratzen, mit einem Wort, tat alles, was nur irgend eines Mädchens Aufmerkſamkeit erregen und ihren Beifall gewinnen kann. Aber ſeine Exaltation wurde raſch gedämpft, er erinnerte ſich ſeiner Erlebniſſe im Garten dieſes Engels; aber dieſe Erinnerung wurde raſch durch das Glücksgefühl, von dem ſein Herz plötzlich erfüllt war, fortgeſchwemmt.
Den Beſuchern wurden die höchſten Ehrenbezeugungen erwieſen, und nach Beendigung von Mr. Walters Anrede führte er ſie in der Schule herum. Der mittelalterliche Mann ſchien ein bedeutender Mann zu ſein. Er war der oberſte Richter des Kreiſes — gewiß die erhabenſte Perſönlichkeit, die dieſe Kinder bis jetzt geſehen hatten; und ſie grübelten darüber, aus welchem Stoff der wohl gemacht ſein könne; und dann waren ſie begierig auf ſeine Stimme und dann zitterten ſie wieder davor, ſie zu hören. Er war aus Konſtantinopel — zwölf Meilen entfernt, — er war alſo durch die ganze Welt gekommen und hatte alles geſehen; dieſe Augen hatten das Staatshaus geſehen, von dem man ſagte, es habe ein wirkliches Zinndach! Die ſcheue Ehrfurcht, welche dieſe Vorſtellungen hervorriefen, war aus dem abſoluten Schweigen und den ſtarr auf ihn gerichteten Augen deutlich zu leſen.
Das alſo war der große Richter Thatcher, der Bruder ihres Bürgermeiſters.
Von Jeff Thatcher hieß es ſogleich, er ſei mit dem großen Mann verwandt, und den beherbergte die Schule! Es würde Muſik für Jeffs Ohren geweſen ſein, hätte er gehört, was man von ihm flüſterte.
„Sieh nur, Jim, er iſt wahrhaftig vorgegangen! Donnerwetter, er will ihm die Hand geben. Er hat ihm die Hand gegeben. Bei Jingo, möchtet wohl auch Jeff ſein, he?“
Mr. Walter ſuchte ſich jetzt in Geltung zu bringen durch möglichſte Geſchäftigkeit, erteilte Befehle, fällte Urteile, gab Winke hier und dort und überall, und zeigte, daß er am rechten Platz ſei. Darauf „zeigte“ ſich der Bücherverwalter, rannte mit Stößen von Büchern herum, klapperte mit den Bücherbrettern und vollführte einen Spektakel, daß es für jeden Vorgeſetzten eine wahre Luſt ſein mußte. Die jungen Lehrerinnen „zeigten“ ſich auch, taten ſchön mit Kindern, die ſie eben geprügelt hatten, hoben warnend ihre niedlichen Finger gegen böſe Buben und ſtreichelten brave, kleine Mädchen. Die jungen Lehrer „zeigten“ ſich mit kleinen Ermahnungen und anderen Beweiſen ihrer Autorität und ihrer Sorgfalt. Und alle Lehrenden beiderlei Geſchlechts machten ſich mit Vorliebe am Klaſſenpult zu tun, und es ſchienen Geſchäfte zu ſein, die fortwährend wiederholt werden mußten (und wie ſie dabei ärgerlich waren!). Die kleinen Mädchen „zeigten“ ſich auf verſchiedene Weiſe, und die Knaben „zeigten“ ſich mit ſolchem Nachdruck, daß die Luft mit Papierkugeln und halb unterdrücktem Gezänk angefüllt war. Und bei alledem ſaß der große Mann da, hatte ein erhabenes Richterlächeln für die ganze Schule und wärmte ſich im Glanze ſeiner eigenen Größe, denn er „zeigte“ ſich erſt recht. Aber eins fehlte, was Mr. Walters Glück vollgemacht hätte, das war die Gelegenheit, einen Bibelpreis auszuteilen und eins ſeiner Wunderkinder zu zeigen. Mehrere Schüler hatten eine Menge kleinerer Zettel, aber niemand hatte genug. Er hätte die Welt darum gegeben, ſeinen kleinen Deutſchen für eine einzige Stunde wiederzuhaben.
Da — trat Tom Sawyer vor, neun gelbe Zettel, neun rote und zehn blaue, und verlangte eine Bibel! Das wirkte wie ein Blitz aus heiterm Himmel! So etwas hätte Walter nicht erwartet — in den nächſten zehn Jahren ſicher nicht. Aber es war nichts auszuſetzen — da lagen die nötigen Zettel beiſammen und nahmen ſich hübſch genug aus. Tom erhielt alſo ſeinen Platz beim Richter und den anderen Auserwählten, und die unerhörte Neuigkeit wurde nach allen Himmelsgegenden auspoſaunt.
Es war zweifellos die ſtaunenswerteſte Tatſache des Jahrzehnts; und ſo tief war die Erregung, daß ſie den neuen Helden auf die Höhe des Kreisrichters hob und die Schule zwei Weltwunder aus einmal zu beſtaunen hatte. Die Jungen waren durch die Bank von Neid erfüllt. Aber die am tiefſten Beleidigten waren diejenigen, welche zu ſpät einſahen, daß ſie ſelbſt zu dieſem unerhörten Glanz beigetragen hatten, indem ſie Tom Billetts verkauften für die Schätze, welche er durch Übertragung der Anſtreich-Gerechtſame erworben hatte. Sie verachteten ſich ſelbſt, da ſie ſich durch einen liſtigen Betrüger hatten anführen laſſen.
Der Preis wurde Tom überreicht, mit ſo viel Salbung, als der Superintendent unter ſolchen Umſtänden auftreiben konnte. Aber es war doch nicht der rechte Schwung darin, denn ſein Inſtinkt ſagte ihm, hierbei müſſe ein Geheimnis walten, das wohl nicht ganz gut das Licht der Sonne vertragen würde. Es war ganz einfach unglaublich, daß dieſer Knabe zweitauſend Bibelverſe in ſeinem Kopfe aufgeſpeichert haben ſollte — ein Dutzend ſchon hätte zweifellos ſeine Kräfte überſtiegen. Amy Lawrence war ganz rot vor Stolz und verſuchte, es Tom zu zeigen, aber er wollte nicht ſehen. Sie wunderte ſich; dann grämte ſie ſich ein bißchen; ſchließlich ſtieg ein leiſer Verdacht in ihr auf und verflog und kam wieder. Sie paßte auf. Ein heimlicher Blick verriet ihr Welten, und dann brach ihr Herz, und ſie wurde eiferſüchtig und wütend, und die Tränen kamen, und ſie haßte alle, alle, Tom natürlich am meiſten.
Tom wurde vor den Richter geführt. Aber ſeine Zunge klebte am Gaumen, der Schweiß trat ihm auf die Stirn, ſein Herz klopfte — teils infolge der Größe des Mannes, aber mehr noch, weil er ihr Vater war. Er hätte, wäre es dunkel geweſen, vor ihm niederfallen und ihn anbeten mögen. Der Richter legte die Hand auf Toms Kopf und nannte ihn einen tüchtigen, kleinen Mann und fragte ihn nach ſeinem Namen. Der Junge ſtammelte, huſtete und ſtieß endlich mühſam heraus: „Tom!“
„O nein — nicht Tom, ſondern —“
„Thomas.“
„Richtig. Ich dachte mir doch, daß noch etwas fehlte. Gut. Aber ich glaube, du haſt noch einen Namen, und du wirſt ihn mir nennen, nicht?“
„Nenne dem Herrn deinen anderen Namen, Thomas, und ſage: Herr! Nicht vergeſſen, was ſich ſchickt!“
„Thomas Sawyer — Herr!“
„So — ſo iſt's recht! Ein guter Junge. Ein braver Junge. Ein braver, kleiner Junge. Zweitauſend Verſe ſind viel — ſehr, ſehr viel! Und Sie brauchen die Mühe, die es Ihnen bereitet hat, es ihm beizubringen, ſicher nicht zu bereuen; denn Kenntniſſe ſind gewiß mehr wert, als irgend etwas anderes in der Welt. Sie machen große Männer und große Menſchen. — Du wirſt eines Tages ein großer Mann ſein und ein großer Menſch, Thomas, und dann wirſt du zurückblicken und ſagen: Das alles verdanke ich der herrlichen Sonntagsſchule meines Heimatsdorfes; alles meinen lieben Lehrern, die mich angehalten haben, zu lernen; alles dem guten Superintendenten, der mich anfeuerte und über mir wachte und mir eine wundervolle Bibel ſchenkte, eine herrliche, prächtige Bibel, damit ich ſie immer, immer bei mir haben möge; alles meiner Erziehung! Das wirſt du ſagen, Thomas! Und du würdeſt dir mit keinem Geld deinen Schatz von zweitauſend Verſen bezahlen laſſen — nein, wahrhaftig nicht! — Und jetzt kannſt du mir und dieſer Dame eine große Freude machen und uns einige deiner Verſe aufſagen — du wirſt es gern tun, denn wir freuen uns ja ſo ſehr über einen fleißigen Knaben. Ohne Zweifel kennſt du die Namen aller zwölf Jünger. Willſt du uns alſo die Namen der beiden zuerſt erwählten Jünger nennen?“
Tom zupfte an einem Knopf und ſah möglichſt einfältig aus. Er wurde rot und ſenkte die Augen. Mr. Walters Herz ſank mit. Er ſagte ſich, es ſei gar nicht möglich, von dieſem Jungen Antwort auf die einfachſte Frage zu bekommen — und den gerade mußte der Richter fragen! Doch fühlte er ſich veranlaßt, zu Hilfe zu kommen und ſagte: „Antworte dem Herrn, Thomas, — fürchte dich nicht!“
Tom wurde immer röter.
„Nun, ich weiß, mir wirſt du es ſagen,“ miſchte ſich hier die Dame ein. „Die Namen der zwei erſten Jünger waren —“
„David und Goliath!“
Decken wir den Schleier der Nächſtenliebe über das, was nun folgte!
Ungefähr um halb zehn Uhr begann die kleine Glocke der Kirche zu läuten, und ſogleich begann das Volk zur Morgenpredigt herbeizuſtrömen. Die Sonntagsſchulkinder zerſtreuten ſich durchs ganze Haus und nahmen Plätze bei ihren Eltern ein, um unter Aufſicht zu ſein. Tante Polly kam, und Tom, Sid und Mary ſaßen bei ihr. Tom wurde zunächſt der Kanzel plaziert, um ſo weit wie möglich vom offenen Fenſter und dem Sommer draußen entfernt zu ſein.
Das Volk füllte die Kirche. Der alte, gichtbrüchige Poſtmeiſter, der beſſere Tage geſehen hatte, der Mayor und ſeine Frau — denn es gab einen Mayor, neben vielen anderen unnützen Dingen, — der Ortsrichter, die Witwe Douglas, zart, klein und lebhaft, eine edle, gutherzige Seele und immer obenauf (ihr Haus war das einzige ſteinerne im Dorf, und das gaſtfreieſte und bei Feſtlichkeiten verſchwenderiſchſte, das St. Petersburg aufweiſen konnte); Lawyer Riverſon; dann die Schönheit des Dorfes, gefolgt von einem Haufen elegant gekleideter, mit allerhand Firlefanz behangener junger Herzensbrecher; dann all die jungen Ladendiener des Dorfes, alle gleichzeitig, denn ſie hatten im Veſtibül geſtanden, Süßholz raſpelnd — eine öltriefende, einfältige Schutztruppe — bis das letzte Mädchen Spießruten gelaufen war. Und zuletzt von allen kam der Muſterknabe, Willie Mufferſon, ſeine Mutter ſo ſorgſam an der Hand führend, als wäre ſie aus Glas. Er brachte ſeine Mutter ſtets zur Kirche und war der Liebling aller alten Damen. Das junge Volk haßte ihn — er war zu gut; und dann war er ihnen gar zu oft als Muſter vorgehalten worden. Sein weißes Taſchentuch hing ihm aus der Taſche — ſo war es damals am Sonntag Mode. Tom hatte kein Taſchentuch und verachtete jeden Jungen, der eins hatte. Da die Verſammlung jetzt ſo ziemlich vollzählig war, läutete die Glocke nochmals, zur Mahnung für Nachzügler und Müßige, und dann ſenkte ſich eine große Stille auf die Kirche, nur unterbrochen durch das Kichern und Wiſpern auf dem Chor. Der Chor kicherte und wiſperte immer und überall während des ganzen Gottesdienſtes. Es hat einmal einen Kirchenchor gegeben, der nicht ſchlecht erzogen war, aber ich weiß nicht mehr wo. Es iſt ſchon eine ganze Reihe von Jahren her, und ich kann mich wahrhaftig nicht mehr an die Einzelheiten erinnern — aber ich glaube, es war in einem fremden Lande.
Der Geiſtliche gab das Lied an und las es nach einer ganz beſonderen, in dieſer Gegend ſehr beliebten Manier in ſingendem Ton herunter. Seine Stimme begann mit ſchwachem Flüſtern, wuchs beſtändig an, bis ſie einen Punkt erreichte, wo ſie unter Herausſtoßung des letzten Wortes plötzlich abbrach und wie ein Springbrunnen herunterplumpſte.
Er galt als wundervoller Vorleſer. Bei allen kirchlichen Verſammlungen wurde er aufgefordert, Verſe vorzutragen, und wenn er damit fertig war, hoben die Ladies ihre Hände und ließen ſie wieder in den Schoß fallen und verdrehten die Augen und ſchüttelten die Köpfe, als wollten ſie ſagen: Worte können hier nichts ſagen, es iſt zu wundervoll, zu wundervoll für dieſe Erde!
Nach dem Liede begann der Reverend Mr. Sprague eine Art Tagesbericht, indem er ſich über Nachrichten von Meetings und Verſammlungen und tauſenderlei Dinge verbreitete, bis alle Weltluſt aus dem heiligen Hauſe gewichen zu ſein ſchien — eine ſeltſame Mode, die überall in Amerika zu finden iſt, ſogar in den großen Städten und bis in unſer Zeitalter des Zeitungs-Überfluſſes hinein.
Und jetzt kam die Predigt. Es war eine gute, leutſelige Predigt und ging bis ins einzelne. Sie beſchäftigte ſich mit der Kirche und mit den Kindern der Kirche; mit den anderen Kirchen des Dorfes; mit dem Dorfe ſelbſt; mit dem Lande; mit dem Staat; mit den Behörden der einzelnen Staaten; mit den Vereinigten Staaten; mit dem Kongreß; mit dem Präſidenten; mit den Staatsdienern; mit den armen, ſturmumtoſten Seefahrern; mit den unter dem Joch ihrer Monarchen ſeufzenden Millionen Europas und des Orients; mit den Glücklichen und Reichen, die nicht Augen haben, zu ſehen und Ohren, zu hören; mit den armen Seelen auf fernen Inſeln; und ſchloß mit der Bitte, daß ſeine Worte auf guten Boden fallen und dereinſt hundertfältige Frucht tragen möchten. Amen.
Darauf folgte Kleiderraſcheln, und die Verſammlung ſetzte ſich. Der Knabe, deſſen Geſchichte dieſes Buch enthält, hatte keine Freude an dieſer Predigt, er hörte ſie einfach an — und vielleicht auch das nicht. Doch merkte er ſich einzelne Details daraus, ganz unbewußt, denn, wie geſagt, er achtete kaum darauf, aber er kannte den Sermon des Geiſtlichen ſchon längſt und bemerkte es ſofort, wenn mal irgend ein neuer Paſſus eingeſchoben war, und das empfand er dann unangenehm; er hielt Beiſätze und Abweichungen von dem Althergebrachten für unnobel und unrecht.
Während der Predigt ſetzt ſich eine Fliege auf den Sitz des Kirchenſtuhls vor ihm und marterte ihn durch das fortwährende Aneinanderreiben ihrer Beine. Dann umarmte ſie ihren eigenen Kopf und drückte ihn ſo ſtark, daß die Glieder am Kopfe angewachſen zu ſein ſchienen, feſſelte ihre Flügel mit den Hinterbeinen und preßte ſie an den Körper, wie einen Überrock und verrichtete ihre ganze Toilette mit einer Ruhe, als fühle ſie ſich vollkommen ſicher. Und ſo war es auch. Denn als ſich Toms Hand ihr näherte, um ſie zu erwiſchen, blieb ſie ruhig ſitzen. — Tom dachte, wenn ſich ihm dieſe Beſchäftigung bei Beginn der Predigt geboten hätte, würde es ein angenehmer Zeitvertreib für ſeinen Geiſt geweſen ſein. — Aber beim Schlußſatz begann ſeine Hand ſich zu krümmen und ſich vorwärts zu bewegen; und im Augenblick, da das „Amen“ geſprochen wurde, war die Fliege eine Kriegsgefangene. Seine Tante ſah es und veranlaßte ihre Befreiung.
Der Geiſtliche gab ſeinen Text an und behandelte den erſten Teil mit ſo gründlicher Langweile, daß manch ein Kopf zu nicken begann; ein anderer Teil wieder war ſo voll Feuer und Schwefel und ſetzte der Verſammlung ſo zu, daß ſie ganz geknickt und ſo klein und nichtig erſchien, daß es kaum der Erwähnung wert iſt.
Tom zählte die Seiten der Predigt, und nach dem Gottesdienſt wußte er ſtets ganz genau, wie viel es geweſen waren, aber über die Predigt ſelbſt wußte er ſelten etwas anzugeben. Diesmal indeſſen gab er doch für eine kleine Weile Obacht. Der Geiſtliche gab eine lange und rührende Schilderung vom Wiederſehen irdiſcher Schafe im Paradieſe, wenn Löwe und Lamm beieinander liegen würden und ein kleines Kind ſie am Gängelbande führen könnte. Aber Pathos, Eifer, Moral — alles war verloren an dem kleinen Burſchen; er dachte bloß an die Herrlichkeit dieſes Heldendarſtellers unter den unſichtbaren Weſen; und er ſtellte ſich vor, wie ſchön es ſein müſſe, dieſes Kind darzuſtellen — wenn der Löwe ein zahmer Löwe ſein würde.
Bei der Schlußbetrachtung geriet er dann wieder in tiefe Leiden. Er erinnerte ſich plötzlich eines Schatzes, den er beſaß und zog ihn hervor. Es war ein großes, ſchwarzes Ungeheuer, mit ſchrecklichen Kinnbacken — Kneifzangen, ſagte Tom. Es befand ſich in einer Zündholzſchachtel. Das erſte, was das Tier tat, war, ihn in den Finger zu beißen. Ein tüchtiger Naſenſtüber folgte, und das Tier flog in einen Kirchenſtuhl, wo es liegen blieb — der verwundete Finger wanderte in Toms Mund. Das Tier lag auf dem Rücken, hilflos mit den Beinen ſtrampelnd, unfähig, aufzuſtehen. Tom ſah es und griff danach, aber es befand ſich außerhalb ſeines Bereiches. Irgend jemand wollte ſich auf den Stuhl niederlaſſen, ſah das Tier ebenfalls und warf es kurzerhand herunter.
Plötzlich kam ein herrenloſer Pudel des Weges, trübſelig, faul infolge der Sommerhitze, gelangweilt durch die Gefangenſchaft, und ſich nach einem Abenteuer umſehend. Er entdeckte das Tier. Sein Schwanz richtete ſich empor und begann zu wedeln. Er betrachtete ſeinen Fund, ging um ihn herum, beſchnüffelte ihn aus ſicherer Entfernung, ging wieder im Kreis herum, kam näher und beſchnüffelte ihn dreiſter, hob dann die Lefzen, ſchnappte nach ihm, ohne ihn zu faſſen, wiederholte dieſe Prozedur mehrmals, begann zu ſpielen, legte ſich, das Tier zwiſchen den Pfoten, und ſetzte ſeine Unterſuchungen fort, wurde bald müde, gleichgültig und vergaß ſchließlich ſein Spielzeug. Sein Kopf ſank herab, und ſein Kinn drückte immer mehr auf den Feind, welcher ihn plötzlich gepackt hielt. Es ertönte ein ſcharfes Geheul, des Pudels Kopf ſchnellte in die Höhe, und das Tier flog ein paar Meter weit fort und lag nun wieder hilflos auf dem Rücken. Die nächſtſitzenden Zuſchauer ſtießen ſich mit geheimem Vergnügen an, einzelne Geſichter verſchwanden hinter Fächern und Taſchentüchern, und Tom war ganz glücklich. Der Hund machte ein böſes Geſicht und war wohl auch ſo geſtimmt. Er war im Herzen gekränkt und brütete Rache. So ging er wieder zu dem Tier und machte einen neuen, heftigen Angriff, indem er von verſchiedenen Punkten eines Kreiſes aus, deſſen Mittelpunkt ſein Opfer bildete, auf dieſes zuſprang, mit den Vorderpfoten dicht vor ſeinen Augen fuchtelte, mit den Zähnen nach ihm ſchnappte und den Kopf dicht vor ihm ſchüttelte, daß die Ohren flogen. Nach einer Weile wurde es ihm wieder langweilig. Er begann ein Spiel mit einer Fliege, aber das bot keinen rechten Erſatz. Darauf lief er ein paarmal im Kreis herum, die Schnauze dicht an der Erde und bekam auch das ſatt. Er gähnte, ſeufzte, vergaß das Tier völlig und ſetzte ſich gerade darauf. Wieder ein durchdringender Schrei, und der Pudel ſprang hilfeſuchend auf einen Stuhl. Das Geſchrei dauerte fort, und der Pudel tanzte dicht vor dem Altar herum, lief einen Gang hinunter, ſprang an der Tür in die Höhe und flehte um menſchliche Hilfe. Seine Angſt nahm fortwährend zu, bis er plötzlich wie ein behaarter Komet in ſeinem Weltenraum herumfuhr. Schließlich verließ der zum Wahnſinn getriebene Dulder ſeine Bahn und ſprang auf den Schoß ſeines Herrn. Dieſer warf ihn aus dem Fenſter, und die Stimme des unglücklichen Geſchöpfes entfernte ſich und erſtarb in der Ferne.
Inzwiſchen ſaß die ganze Verſammlung, rot vor unterdrücktem Lachen, und die Predigt hatte völlig aufgehört. Jetzt wurde ſie wieder aufgenommen, aber ſie ging ſtockend und abgeriſſen vor ſich, und mit der Aufmerkſamkeit war es nichts mehr. Denn ſelbſt die heiligſte Andacht war beeinflußt durch ſchlecht unterdrückte höchſt unheilige Heiterkeit, als wenn der arme Geiſtliche irgend einen ſchlechten Witz gemacht hätte. Es bedeutete eine wahre Erleichterung für die Verſammlung, als der Gottesdienſt zu Ende und der Segen geſprochen war.
Tom ſchlenderte höchſt gemütlich heim und dachte bei ſich, ſo ein Gottesdienſt wäre doch ganz nett, wenn ein bißchen Abwechſelung dabei ſei. Nur ein Gedanke quälte ihn; er hatte allerdings die Abſicht gehabt, den Hund mit ſeiner „Beißzange“ ſpielen zu laſſen, aber er hätte ſie nicht fortſchleppen ſollen.
Der Montagmorgen fand Tom höchſt übler Laune. Jeder Montagmorgen fand ihn ſo, denn er eröffnete eine neue Woche voll von Schul-Leiden und -Sorgen.
Stets wurde dieſer Tag mit Seufzen begonnen; er hätte in dieſem Augenblick gewünſcht, daß es gar keine die Woche unterbrechenden Feiertage geben möge; denn doppelt ſchwer war es danach, ſich in neue Sklaverei und Fronarbeit zu begeben.
Tom lag und dachte nach. Plötzlich kam ihm dann der Wunſch, krank zu ſein, um zu Hauſe bleiben zu können. Das war ein Gedanke. Er überlegte ſich die Sache. Aber er konnte keine Krankheit finden und grübelte und grübelte. Einmal glaubte er Anzeichen von Kolik zu entdecken und fing bereits an, ſich trügeriſchen Hoffnungen hinzugeben. Aber bald wurden dieſe Symptome wieder ſchwächer, um endlich ganz zu verſchwinden. Alſo mußte er weiter denken. Plötzlich entdeckte er etwas. Einer ſeiner Oberzähne war locker. Das war ein Glücksfall. Er war im Begriff, anzufangen zu ſtöhnen („Starter“ pflegte er eine ſolche Improviſation zu nennen), als ihm noch rechtzeitig einfiel, daß ſeine Tante, wenn er damit zutage trat, den Zahn ganz einfach ausziehen würde, und das würde weh tun. So nahm er ſich vor, die Sache mit dem Zahn in Reſerve zu halten und nach etwas anderem zu ſuchen. Während einiger Zeit wollte ihm nichts einfallen, dann aber entſann er ſich, den Doktor von einem gewiſſen „Etwas“ reden gehört zu haben, das zwei oder drei Wochen auf einem Patienten gelaſtet und ihn beinahe einen Finger gekoſtet habe. So zog er ſeine wunde Zehe unter der Bettdecke hervor und unterzog ſie einer genauen Unterſuchung. Jetzt aber wußte er nicht, welches die nötigen Symptome ſeien. Immerhin ſchien ſich hier eine Ausſicht zu bieten, er fing alſo voll Geiſtesgegenwart an, zu ſtöhnen.
Aber Sid ſchlief felſenfeſt.
Tom ſtöhnte lauter und bildete ſich ein, in ſeiner Zehe wirklich Schmerz zu empfinden.
Keine Wirkung auf Sid.
Tom fing an, vor Anſtrengung Herzklopfen zu bekommen. Er machte einen letzten Verſuch, ſog ſich voll Luft und ſtieß eine Reihe wundervoller Seufzer heraus.
Sid ſchnarchte weiter.
Tom wurde ſchlimm. „Sid, Sid,“ ſagte er und ſtieß ihn an. Der Stoß wirkte, und Tom konnte wieder anfangen, zu ſtöhnen. Sid gähnte, ſtreckte ſich, richtete ſich auf einem Ellbogen auf und begann Tom anzuſtarren. Tom ſtöhnte aus Leibeskräften.
Sid ſagte: „Tom, du, Tom!“
Keine Antwort.
„So hör doch, Tom, Tom! Was haſt du, Tom?“
Und er ſtieß ihn an und ſchaute ihm ängſtlich ins Geſicht.
Tom mit kläglicher Stimme: „Tu's nicht, Sid. Stoß mich nicht!“
„Warum — was gibt's, Tom? Ich will Tante rufen.“
„Nein, nein! Es wird ſchon allmählich vorübergehen. Ruf niemand.“
„Aber, ich muß es tun! Stöhn' nicht ſo, Tom, es iſt gräßlich! Wie lange dauert das ſchon?“
„Stundenlang! Au, au!! Stör' mich nicht, Sid, du wirſt mich töten!“
„Tom, warum haſt du mich nicht früher geweckt? Nicht, Tom, tu's nicht! Es geht mir durch und durch, das zu hören! — Sag, Tom!?“
„Ich vergebe dir alles, Sid. (Stöhnen.) Alles, was du mir mal getan haſt. Wenn ich tot bin —“
„Tom, du biſt verrückt, glaub' ich! Du ſollſt nicht ſterben — nicht, Tom?“
„Ich vergebe allen, Sid. (Stöhnen.) Sag's ihnen, Sid. — Und Sid, meine gelbe Türklinke und meine Katze — die mit dem einen Auge — ſollſt du dem neuen Mädchen geben, das geſtern gekommen iſt, und ſag' ihr —“
Aber Sid war in ſeine Kleider gefahren und war fortgelaufen. Tom ſtöhnte jetzt wirklich, ſo lebhaft hatte er ſich alles eingebildet; ſo hatte ſein Stöhnen einen ganz natürlichen Ton bekommen.
Sid flog hinunter und ſchrie: „O, Tante Polly, komm, Tom ſtirbt!“
„Stirbt?!“
„Ja doch! Komm doch nur ſchnell!“
„Ach Unſinn! Ich glaub's nicht.“
Trotzdem rannte ſie die Treppe hinauf, Sid und Mary hinter ihr drein. Ihr Geſicht war ganz weiß, und die Lippen bebten. Am Bett angekommen, ſtieß ſie aus:
„Tom, Tom! Was iſt das mit dir?“
„Ach, Tante, ich —“
„Was iſt mit dir? Was iſt mit dir, Kind?“
„Ach, Tante, meine wehe Zehe tut ſo ſchrecklich weh!“
Die alte Dame fiel in einen Stuhl, lachte ein wenig, weinte ein wenig, dann beides gleichzeitig. Das erleichterte ſie, und ſie ſagte: „Tom, wie haſt du mich erſchreckt! Aber nun fertig mit dem Unſinn, aufſtehen!“
Das Stöhnen hörte auf, und der Schmerz wich aus der Zehe. Tom kam ſich ein bißchen töricht vor und ſagte kleinlaut: „Tante Polly, es ſchien ſchrecklich und tat ſo weh, daß ich ſogar meinen Zahn darüber vergeſſen hatte.“
„So, deinen Zahn! Was iſt denn mit deinem Zahn?“
„Einer iſt loſe und tut ganz ſchrecklich weh!“
„Na, ſchon gut, ſchon gut! Fang nur nicht wieder an zu ſtöhnen! Mund auf! Ja, der Zahn iſt loſe, aber du wirſt nicht dran ſterben. Mary, gib mir ein Stück Faden und eine glühende Kohle aus dem Ofen!“
„Ach, bitte, bitte, Tante,“ bettelte Tom, „nicht ausziehen, 's tut gar nicht mehr weh! Ich will nicht mehr aufſtehen können, wenn's noch weh tut! Bitte, tu's nicht, Tante! Ich will ja gar nicht mehr aus der Schule bleiben!“
„Wirklich nicht? Alſo all der Lärm, weil du aus der Schule bleiben wollteſt und fiſchen gehen, wahrſcheinlich? Tom, Tom, ich habe dich ſo lieb, und du ſcheinſt keinen anderen Wunſch zu haben, als mein altes Herz zu brechen mit deinen Torheiten!“
Inzwiſchen waren die zahnärztlichen Marterwerkzeuge gekommen. Die alte Dame legte das eine Ende der Schnur um Toms Zahn, das andere um den Bettpfoſten. Dann nahm ſie die Kohle und hielt ſie plötzlich dicht vor Toms Geſicht. Im nächſten Augenblick hing der Zahn am Bettpfoſten.
Aber jedes Unglück hat ſein Gutes. Als Tom nach dem Frühſtück zur Schule bummelte, war er der Gegenſtand des Neides bei allen Jungen, denn die Lücke in ſeiner Zahnreihe befähigte ihn, auf ganz neue und wunderbare Weiſe auszuſpucken. Bald hatte er ein ganzes Gefolge, das ſeinen Vorführungen mit höchſtem Intereſſe beiwohnte. Und einer mit einem geſchnittenen Finger, der bisher der Mittelpunkt der Verehrung und Bewunderung geweſen war, ſah ſich auf einmal ohne Anhänger und ſeines Glanzes beraubt. Das Herz wurde ihm ſchwer und eine Verachtung heuchelnd, die er nicht fühlte, meinte er, es wäre wohl was Rechtes, ausſpucken zu können wie Tom Sawyer. Aber die anderen riefen ihm zu: „Saure Trauben!“ und er ging davon — ein geſtürzter Held.
Kurz darauf begegnete Tom dem jugendlichen Paria des Dorfes, Huckleberry Finn, dem Sohn des Dorf-Trunkenboldes. Huckleberry war rieſig verhaßt und gefürchtet bei allen Müttern des Ortes, denn er war unerzogen, ruchlos, gemein und ſchlecht — und deswegen von allen Kindern ſo bewundert und ſeine Geſellſchaft ſo geſucht und ihr Wunſch ſo heiß, zu ſein wie er. Tom war, wie alle wohlerzogenen Knaben, neidiſch auf Huckleberrys freies, ungehindertes Leben und hatte ſtrengen Befehl, nicht mit ihm zu ſpielen. Natürlich ſpielte er darum erſt recht mit ihm, wo ſich's tun ließ.
Huckleberry war ſtets in abgelegte Kleider Erwachſener gekleidet, und dieſe Kleider mußten jahrelang aushalten und flogen in Fetzen um ihn herum.
Sein Hut war eine troſtloſe Ruine, mit großen Lücken in dem herunterhängenden Rande. Sein Rock — wenn er einen hatte — baumelte ihm faſt bis auf die Hacken und hatte die hinteren Knöpfe in der Höhe des Knies. Ein Tragband hielt ſeine Hoſen. Der Hoſenboden hing ſackartig hinunter — ein luftleerer Raum, ſozuſagen. Huckleberry kam und ging, wie er mochte. Er ſchlief auf Türſchwellen bei ſchönem Wetter und in Regentonnen bei ſchlechtem; er brauchte weder zur Schule zu gehen, noch zur Kirche, keinen Herrn anzuerkennen und niemand zu gehorchen. Er konnte fiſchen und ſchwimmen, wann und wo er nur wollte, und ſich dabei ſolange aufhalten, wie es ihm beliebte. Im Frühling war er ſtets der erſte, der barfuß lief und der letzte, der im Herbſt ſich wieder in das dumme Leder bequemte. Er brauchte ſich weder zu waſchen, noch reine Kleider anzuziehen. Fluchen konnte er herrlich. Mit einem Worte — was das Leben koſtbar machte — er hatte es. So dachten alle die wohlerzogenen, ſittſamen, reſpektablen Buben in St. Petersburg.
Tom rief den romantiſchen Helden ſofort an: „Holla, Huckleberry!“
„Holla, du, wie geht's dir?“
„Was haſt du da?“
„Ne tote Katze.“
„Laß ſehen, Huck. Donnerwetter, wie ſteif ſie iſt! Woher haſt du die?“
„Von 'nem Jungen gekauft.“
„Was haſt du dafür gegeben?“
„Einen blauen Zettel und eine Schweinsblaſe aus dem Schlachthaus.“
„Und woher hatteſt du den blauen Zettel?“
„Vor zwei Wochen von Ben Rogers für einen Stock gekauft.“
„Sag — was machſt du mit der toten Katze?“
„Was? Warzen heilen.“
„So. Wirklich? Ich weiß was Beſſeres.“
„Wird was ſein! Was iſt's denn?“
„Na — faules Waſſer!“
„Faules Waſſer! Geb dir keinen Heller für dein faules Waſſer!“
„So, nicht? Haſt du's vielleicht probiert?“
„Ich nicht, Bob Tanner.“
„Wer hat dir das geſagt?“
„Na, er hat's Jeff Thatcher geſagt, und Jeff hat's Johnny Baker geſagt, und Johnny dem Jim Hollis, und Jim Hollis dem Ben Rogers, und Ben ſagte's 'nem Neger, und der hat's mir geſagt. So, nun weißt du's!“
„Na, weißt du, die haben alle gelogen. Alle, bis auf den Neger, den kenn ich nicht. Aber ich hab' nie einen Neger geſehen, der nicht gelogen hätte. Aber ſag' doch, wie macht's Bob Tanner denn, Huck?“
„Na, er nimmt ſeine Hand und taucht ſie in einen verfaulten Baumſtumpf, worin faules Waſſer iſt.“
„Am Tage?“
„Natürlich!“
„Mit dem Geſicht nach dem Baum?“
„Ja — das heißt, ich glaube.“
„Sagte er was?“
„Ich glaube nicht — aber ich weiß nicht.“
„Na — der will darüber ſprechen, wie man Warzen heilt — ſo ein alter Schafskopf! Da hätt' er auch ſonſt was tun können! Alſo, du mußt mitten in den Wald gehen, wo du weißt, daß ein Baumſtamm mit faulem Waſſer iſt, und gerade um Mitternacht mußt du das Geſicht gegen den Baum wenden und die Hand hineinſtecken, und dann ſagſt du:
‚Iſt das Waſſer faul und dumpf —
Frißt's die Warz' mit Stiel und Stumpf!‘
und dann trittſt du langſam zurück, elf Schritt, mit geſchloſſenen Augen, und dann drehſt du dich dreimal herum und gehſt nach Hauſe, ohne mit jemand zu ſprechen. Denn ſonſt hilft's nichts.“
„Ja, das kann ſein; aber Bob Tanner hat's anders geſagt.“
„Na, weißt du, dann verſteht er's halt nicht. Darum hat er auch am meiſten Warzen von allen im Dorf, und er hätte nicht eine, wenn er das mit dem faulen Waſſer wüßte, wie's iſt. Ich hab' auf dieſe Weiſe tauſend Warzen fortgekriegt, Huck. Ich bekomme ſo viel Fröſche in die Hand, daß ich immer eine Maſſe Warzen habe. — Zuweilen mach' ich ſie mit 'ner Bohne ab.“
„Ja, Bohne iſt gut, damit hab' ich's auch ſchon gemacht.“
„So? Wie machſt du's denn?“
„Na, man nimmt die Bohne und ſchneidet ſie durch, und dann ſchneidet man die Warze, bis Blut herauskommt, und dann läßt man das auf die eine Hälfte der Bohne tropfen, und dann nimmt man die und gräbt bei Vollmond am Kreuzweg ein Grab, und da tut man ſie dann hinein. Dann, weißt du, zieht die eine Hälfte der Bohne, wo das Blut darauf iſt, die andere Hälfte an, und ſo hilft das Blut, um die Warze fortzuziehen, ſo lang, bis ſie fort iſt.“
„Ja, Huck, das iſt ganz richtig. Nur, wenn du ſie begräbſt und dazu ſagſt: ‚Bohne fort — komm nicht mehr an dieſen Ort,‘ iſt's noch beſſer. So macht's John Harper, und der iſt ſchon mal bis Coonville und überall geweſen. Aber ſag' — wie heilſt du ſie denn mit 'ner toten Katze?“
„Weißt du, du nimmſt die Katze und gehſt auf den Kirchhof gegen Mitternacht, dahin, wo ein Gottloſer begraben iſt. Wenn's dann Mitternacht iſt, kommt ein Teufel — oder auch zwei oder drei — du kannſt ihn aber nicht ſehen, ſondern hörſt nur ſo was wie den Wind, oder hörſt ihn ſprechen. Und wenn ſie dann den Kerl fortſchleppen, wirfſt du die Katze hinterher und rufſt:
‚Teufel hinterm Leichnam her,
Katze hinterm Teufel her,
Warze hinter der Katze her —
Seh' euch alle drei nicht mehr!’
Das heilt jede Warze.“
„Das läßt ſich hören. Haſt du's ſchon mal verſucht, Huck?“
„Nein, aber die alte Hopkins hat's mir erzählt.“
„Ja, ich glaub', 's iſt ſo, denn die ſieht aus wie 'ne Hexe.“
„Das glaub' ich! Weißt du, Tom, ſie iſt eine Hexe! Sie hat meinen Alten behext. Er hat's ſelbſt geſagt. Er begegnete ihr mal ganz allein und ſah, daß ſie ihn behexen wollte, da hob er einen Stein auf, und wenn ſie ſich nicht gebückt hätte, hätt' er ſie geworfen. Na, in der Nacht darauf fiel er von einem Schuppen, auf dem er beſoffen gelegen hatte, und brach den Arm.“
„Das iſt ja ſchrecklich! Woher wußte er, daß ſie ihn behext hatte?“
„Gott, das weiß mein Alter halt. Er ſagt, wenn die dich recht ſteif anſchaut, behext ſie dich, beſonders wenn ſie dabei murmelt. Dann ſpricht ſie nämlich das Vaterunſer rückwärts.“
„Sag, Huck, wann willſt du das mit der Katze probieren?“
„Dieſe Nacht. Ich denke, ſie werden dieſe Nacht den alten Hoss Williams holen.“
„Aber der iſt doch am Samſtag ſchon beerdigt, Huck. Haben ſie ihn nicht ſchon Samſtag nacht geholt?“
„Ach, Unſinn! Wie konnten ſie's denn vor Mitternacht? Und dann war's Sonntag. Am Sonntag kommen doch die Teufel nicht herauf!“
„Daran hab' ich nicht gedacht. Dann iſt's richtig. Darf ich mitgehen?“
„Meinetwegen — wenn du dich nicht fürchteſt?“
„Fürchten? Das iſt das wenigſte. Willſt du miauen?“
„Ja, und du mußt auch miauen, wenn du kommen kannſt. Letztes Mal haſt du mich ſo lange warten laſſen, bis der alte Hays einen Stein nach mit warf und ſchrie: ‚Der Teufel hol' die Katz!‘ Da hab' ich ihm einen Stein ins Fenſter geſchmiſſen — aber ſag's nicht weiter!“
„Bewahre! Damals konnte ich nicht miauen, weil mir meine Tante aufpaßte; aber diesmal werde ich beſtimmt miauen. — Du, Huck, was iſt das?“
„Das? Ach, nur 'ne Baumwanze.“
„Woher haſt du die?“
„Aus dem Wald mitgebracht“
„Was willſt du dafür haben?“
„Ich — ich weiß nicht. Ich will ſie gar nicht verkaufen.“
„Na ja, 's iſt ja auch nur 'ne lump'ge Wanze.“
„Oho, nach ſo 'ner Wanze kannſt du lange laufen. Mir gefällt ſie ſchon.“
„'s gibt 'ne Menge ſolcher Wanzen. Wenn ich wollte, könnt ich tauſend ſolche haben.“
„So, warum willſt du denn nicht? Weil du ganz gut weißt, daß du's nicht kannſt! Dies iſt eine ganz beſondere Wanze. Es iſt die erſte, die ich dies Jahr geſehen hab'.“
„Du, Huck, ich geb' dir meinen Zahn dafür.“
„Laß ſehen.“
Tom holte ein Papier hervor und rollte es ſorgfältig auf. Huckleberry unterſuchte es genau. Dann ſagte er:
„Iſt er auch echt?“
Tom machte den Mund auf und zeigte ſeine Zahnlücke.
„Gut.“ ſagte Huckleberry, „er iſt echt.“
Tom verſchloß die Wanze in der Schachtel, die vorher das Gefängnis der „Kneifzange“ geweſen war, und die beiden trennten ſich, jeder höchlichſt zufrieden mit ſeinem Tauſch.
Als Tom das kleine, einſam gelegene Schulhaus erreicht hatte, ging er ganz luſtig, wie einer, der ſich möglichſt beeilt hat, hinein. Er hängte ſeine Mütze auf und ſetzte ſich mit geſchäftiger Eile auf ſeinen Platz. Der Lehrer, auf einem großen Lehnſtuhl thronend, hatte ein bißchen geſchlafen und fuhr bei Toms Anſtalten in die Höhe.
„Thomas Sawyer!“
Tom wußte, daß, wenn ſein Name ganz geſprochen wurde, die Situation kritiſch war.
„Herr!“
„Komm vor! Wo biſt du denn wieder mal ſo lange geweſen?“
Tom wollte ſeine Zuflucht zu einer Lüge nehmen, als er zwei lange, helle Zöpfe einen Rücken herabhängen ſah und ſie infolge geheimer Sympathie erkannte. Und daneben, auf der Mädchen-Seite, war der einzigſte Freiplatz! Sofort entgegnete er: „Ich mußte mit Huckleberry Finn etwas beſprechen.“
Des Lehrers Pulſe ſtockten, er ſtarrte hilflos um ſich. Alles Geräuſch der Arbeitenden verſtummte. Die Schüler glaubten, dieſer kühne Burſche habe den Verſtand verloren.
Der Lehrer fragte nochmals: „Du — du mußteſt was?“
„Mit Huckleberry Finn ſprechen.“
Ein Irrtum war nicht mehr denkbar.
„Thomas Sawyer, das iſt die ſtaunenerregendſte Antwort, die ich je erhalten habe. Darauf kann nur die Rute antworten. Zieh die Jacke aus!“
Des Lehrers Arm arbeitete, bis er völlig ermattet und die Rute kaput war. Dann hieß es: „So, nun geh, und ſetz dich zu den Mädchen! Und laß dir das zur Warnung dienen!“
Das Kichern, welches jetzt durch das Schulzimmer ging, ſchien Tom in Verlegenheit zu bringen, in Wahrheit aber war es vielmehr die wundervolle Nähe ſeines unbekannten Idols und die mit Ehrfurcht gemiſchte Freude dieſes Glücksfalls. Er ließ ſich auf dem Ende der Bank nieder, und das Mädchen wandte ſich ab, indem es oſtentativ den Kopf drehte. Kichern, Flüſtern und Tuſcheln erfüllten das Zimmer, aber Tom ſaß mäuschenſtill, die Arme auf das lange Pult vor ſich gelegt, und ſchien eifrig zu lernen. Nach und nach legte ſich die allgemeine Beſchäftigung mit ihm, und das gewöhnliche Schulſummen füllte wieder die Luft. Sofort begann Tom verſtohlen glänzende Blicke auf das Mädchen zu werfen. Dieſes merkte es, ſchnitt ihm 'ne Grimaſſe und drehte für die Zeit einer Minute den Kopf von ihm ab. Als ſie vorſichtig wieder herumſah, lag ein Pfirſich vor ihr. Sie ſtieß ihn weg. Tom ſchob ihn ihr liebenswürdig wieder zu; ſie ſchob ihn nochmals fort, aber weniger heftig. Tom legte ihn geduldig zum dritten Mal auf ihren Platz. „Bitte — nimm, ich hab' noch mehr!“ Das Mädchen lächelte bei dieſer Anrede, machte aber ſonſt kein Zeichen des Einverſtändniſſes. Nun begann der Burſche etwas auf ſeine Tafel zu zeichnen, wobei er ſein Werk ſorgfältig mit der Hand bedeckte. Eine Zeitlang tat das Mädel gleichgültig; aber ihre Neugier begann ſich doch bald bemerkbar zu machen durch begehrliche Blicke. Tom arbeitete weiter, ohne eine Ahnung davon. Das Mädel bewerkſtelligte eine Art Verrenkung, um einen Blick auf Toms Werk werfen zu können, der aber merkte noch immer nichts.
Schließlich gab ſie nach und flüſterte zögernd: „Laß mich ſehen!“
Tom enthüllte ſofort eine klägliche Karikatur eines Hauſes mit zwei ſchiefen Giebeln und korkzieherförmigem Rauch über dem Schornſtein. Das Intereſſe der Kleinen an dem Werk wurde immer lebhafter, ſie vergaß alles darüber. Als es beendet war, betrachtete ſie es einen Moment und flüſterte dann: „Zu niedlich! Mach einen Mann!“
Der Künſtler errichtete im Vordergrund einen Mann, einen wahren Maſtbaum. Er hätte mit Leichtigkeit über das Haus wegſteigen können; aber die Kleine war nicht kritiſch. Sie war zufrieden mit dem Monſtrum.
„Ein wundervoller Mann — jetzt mach mich, wie ich daher komme!“
Tom malte ſo etwas wie ein Zifferblatt, darüber einen Vollmond auf einem Strohhalm von Hals, und Arme, in deren ausgeſpreizten Fingern ein mächtiger Fächer ſteckte. Das Mädchen ſagte: „Reizend, Tom. Ich wollte, ich könnte auch zeichnen.“
„'s iſt ganz leicht,“ flüſterte Tom, „ich will's dich lehren.“
„Ja, willſt du? Wann?“
„Am Mittag. Gehſt du zum Eſſen nach Haus?“
„Wenn du bleibſt, bleib ich auch.“
„Na, gut alſo. — Wie heißt du denn?“
„Becky Thatcher. — Und du? Ach, ich weiß: Thomas Sawyer.“
„So heiß ich, wenn ich was getan hab'. Wenn ich brav bin, nennt man mich Tom. Du wirſt mich Tom nennen, nicht wahr?“
„Ja.“
Nun begann Tom etwas auf die Tafel zu kritzeln, was das Mädchen wieder nicht ſehen ſollte. Aber ſie ließ ſich nicht mehr abweiſen. Sie verlangte, es zu ſehen.
„Es iſt nichts,“ ſagte Tom gleichgültig.
„Es iſt doch was.“
„Nein, es iſt nichts. Du brauchſt's nicht zu ſehen.“
„Doch, ich will's ſehen. Ich will. — Laß mich ſehen, bitte!“
„Ich will's dir ſagen.“
„Nein, ich will nicht — ich will, ich will, ich will es ſehen!“
„Aber du ſagſt es doch niemand? So lang du lebſt?“
„Nein, ich ſag's niemand. Jetzt laß mich ſehen!“ Und ſie legte ihre kleine Hand auf ſeine, und ein kleines Handgemenge folgte. Tom tat, als wehre er ſich im Ernſt, ließ aber doch ſeine Hand langſam abgleiten, bis die Worte ſichtbar wurden:
„Ich liebe dich!“
„Garſtiger Junge!“ Dabei gab ſie ihm einen kleinen Klaps, ſchien aber doch nicht allzu böſe zu ſein.
Gerade in dieſem ſchönen Moment fühlte Tom einen ſchweren Griff am Ohr und eine unwiderſtehlich emporziehende Gewalt. So wurde er durch das Schulzimmer eskortiert und auf ſeinen eigenen Platz befördert, unter einem Kreuzfeuer von Spott und Gelächter der ganzen Schule. Dann blieb der Lehrer während eines ſchrecklichen Augenblickes neben ihm ſtehen und kehrte dann endlich auf ſeinen Thron zurück, ohne ein Wort geſprochen zu haben. Aber obwohl Toms Ohr ſchmerzte, war ſein Herz doch voll Jubel.
Als die Schule wieder beruhigt war, machte Tom einen ſehr ehrenwerten Verſuch, zu arbeiten, aber der Sturm in ihm war zu heftig. Dann ſollte er leſen und brachte ein klägliches Geſtümper zu Tage, in der Geographieſtunde machte er Seen zu Bergen, Berge zu Flüſſen, Flüſſe zu Erdteilen, bis das Chaos wieder hereinbrach. Schließlich beim Buchſtabieren wühlte er ſich durch eine Menge einzelner Worte und Silben, bis er ſich völlig feſtgerannt hatte und die Zinn-Medaille, die er vor Monaten als beſondere Auszeichnung gewonnen hatte, wieder abgeben mußte.
Je gewiſſenhafter Tom ſich bemühte, ſeine Gedanken an das Buch zu feſſeln, um ſo mehr ſchweiften ſie in die Ferne. So gab er es ſchließlich mit einem Seufzer auf und gähnte. Es wollte ihm ſcheinen, als werde es heute niemals Mittagszeit. Die Luft ſtand bewegungslos; kein Hauch. Es war der ſchläfrigſte aller ſchläfrigen Tage. Das halb erſtickte Murmeln der fünfundzwanzig Kinder, die da ſo eifrig ſtudierten, lullte Toms Seele ein, gleich dem Geſumſe der Bienen. Draußen im prallen Sonnenſchein reckte Cardiff Hill ſein im ſaftigſten Grün prangendes Haupt durch den ſchimmernden Schleier der Luft, die aus der Ferne geſehen, die Farbe des Purpurs angenommen hatte — infolge der großen Hitze. Ein paar Vögel wiegten ſich auf müßigen Schwingen hoch im Zenith. Sonſt war kein Lebeweſen ſichtbar, außer ein paar Kühen, und die ſchliefen auch. Toms Herz lechzte nach Freiheit oder wenigſtens irgend welcher Beſchäftigung, um damit dieſe traurigen Stunden totzuſchlagen. Seine Hand wanderte in die Taſche, und über ſein Geſicht huſchte ein Schimmer freudiger Dankbarkeit, ihm ſelbſt unbewußt. Dann wurde die Zündholzſchachtel ans Tageslicht befördert. Er befreite die Wanze und ſetzte ſie vor ſich auf die Bank. Das unvernünftige Tier wurde wahrhaftig von demſelben Ausdruck des Dankes verſchönt, aber es hatte zu früh frohlockt, denn als es Miene machte, ſich dankerfüllt davonzubegeben, ſchubſte Tom es mit dem Griffel zurück und zwang es, eine andere Richtung einzuſchlagen. Toms Buſenfreund ſaß neben ihm, ſeufzend, wie es Tom noch eben getan hatte; jetzt war er ſofort von tiefſtem und dankbarſtem Intereſſe erfüllt für dieſen reizenden Zeitvertreib. Dieſer Buſenfreund war Joe Harper. Die beiden Burſchen waren die Woche hindurch unzertrennliche Freunde — Samſtags waren ſie erbitterte Feinde. Joe zog einen Griffel aus ſeinem Kaſten und begann ſich an den Exerzitien des Gefangenen zu beteiligen. Der neue Sport gewann von Minute zu Minute an Intereſſe. Aber bald bemerkte Tom, daß ſie einander ins Gehege kamen und eigentlich keiner recht was von der Wanze habe. So legte er Joes Tafel auf den Tiſch und zog daran entlang einen ſenkrechten Strich mit dem Griffel. „So,“ ſagte er, „ſo lange ſie auf deiner Seite iſt, kannſt du mit ihr herumſchubſen, und ich laſſe ſie in Ruhe, ſobald du ſie aber auf meine Seite entkommen läßt, mußt du ſie in Ruhe laſſen, und ich darf ſie behalten, ſo lange ich ſie auf meiner Seite halten kann.“
„Na, alſo — los!“
Die Wanze entſchlüpfte ſofort von Toms Gebiet und überſchritt den Äquator. Joe drangſalierte ſie eine Weile, und dann kroch ſie wieder zu Tom. So ging es mehrmals hin und her. Während ſich einer der beiden voll Eifer mit der Wanze herumſchlug, ſchaute der andere begierig zu; beider Köpfe waren, dicht aneinander gedrängt, über den Tiſch gebeugt, und beider Geiſt war von gleichem Intereſſe erfüllt. Schließlich ſchien ſich das Glück für Joe zu entſcheiden. Die Wanze verſuchte dies und das, ſchlug immer neue Wege ein und wurde ſo hitzig und aufgeregt wie die Jungen ſelbſt, aber jedesmal, wenn ſie Joe überliſtet und den Sieg davongetragen zu haben ſchien, und es Tom bereits in den Fingern zuckte, zu beginnen, trieb Joes Griffel die Wanze noch im letzten Augenblick zurück und hielt ſie wiederum gefangen. Schließlich konnte Tom es nicht länger aushalten. Die Verſuchung war zu groß. So holte er aus und half mit ſeinem Griffel ein bißchen nach. Das ärgerte Joe mächtig. „Tom, laß das!“
„Ich will ſie jetzt auch mal wieder ein bißchen zum Spielen haben, Joe.“
„Halt, das gibt's nicht; laß ſie los!“
„Sag, was du willſt — ich muß ſie jetzt mal haben!“
„Ich ſag dir — laß ſie!“
„Fällt mit grad ein!“
„Du ſollſt aber — ſie iſt auf meiner Seite!“
„Du hör', Joe — wem gehört die Wanze?“
„Iſt mit ganz egal, wem ſie gehört — ſie iſt auf meiner Seite, und du ſollſt ſie nicht anfaſſen!“
„Sooo — ich will aber — nu grade! Zum Teufel, mir gehört die Wanze! Ich werd' doch mit ihr tun dürfen, was ich will!“
Tom fühlte einen ſchrecklichen Schlag auf der Schulter, im nächſten Augenblick fühlte Joe ihn, und während der nächſten Minuten flog der Staub in dichten Wolken von ihren Jacken, und die ganze Schule jubilierte. Die beiden waren viel zu ſehr in ihren Streit vertieft geweſen, um die plötzliche Stille zu bemerken, die ſich über die Klaſſe gelagert hatte, während der Lehrer auf den Zehen von ſeinem Pult heruntergeſchlichen kam. Er hatte einen guten Teil der Auseinanderſetzung mit angehört, bis er tätig eingriff.
Als die Schule mittags aus war, ſchlich Tom zu Becky und flüſterte ihr ins Ohr:
„Setz deinen Hut auf und tu ſo, als wenn du nach Hauſe gingeſt. Wenn du um die Ecke biſt, laß die anderen laufen und komm durch die Seitengaſſe zurück. Ich will 'nen anderen Weg gehen und komme dann auch zurück.“
So ging eins mit einem Trupp Schüler fort, das andere mit 'nem andern. Eine kurze Weile danach trafen ſie ſich am Ende des Gäßchens wieder, und als ſie wieder bei der Schule anlangten, waren ſie da ganz ungeſtört.
Dann ſaßen ſie zuſammen, vor ſich eine Tafel, und Tom gab Becky ſeinen Griffel, führte ihr die Hand, und ſie zeichneten zuſammen ein wundervolles Haus. Sobald das Intereſſe an der Kunſt zu ſchwinden begann, fingen ſie an, ſich was zu erzählen. Tom ſchwamm in Seligkeit.
„Haſt du Ratten gern?“ fragte er Becky.
„Pfui, ich haſſe ſie!“
„Ja, ich auch — das heißt lebendige. Aber ich meinte tote, die man an 'nem Strick ſich um den Kopf herumſchwingen laſſen kann.“
„Nein, ich mag überhaupt gar keine Ratten. Ich möchte Gummi zum Kauen.“
„Das mein ich! Ich wollt', ich hätt' welchen!“
„Möchteſt du? Ich hab' welchen. Du kannſt ihn 'ne Weile kriegen, aber dann mußt du ihn mir wiedergeben!“
Und dann kauten ſie Gummi und ſtemmten die Knie gegen die Bank und waren ſeelenvergnügt.
„Warſt du ſchon mal im Zirkus?“ fragte Tom.
„M — ja, mein Papa hat mich ſchon 'n paarmal mitgenommen, wenn ich artig war.“
„Ich bin ſchon drei- oder viermal dort geweſen — vielmal! — Die Kirche iſt gräßlich langweilig neben dem Zirkus. Ich möchte immer in den Zirkus gehen. Wenn ich groß bin, will ich Clown im Zirkus werden.“
„Ach, willſt du wirklich? Das iſt aber nett. Die ſind alle ſo hübſch geputzt.“
„M — ja. Und dann verdienen ſie eine Unmenge Geld — Ben Rogers ſagt, mehr als einen Dollar täglich. — Sag, Becky, warſt du ſchon mal verlobt?“
„Was iſt das?“
„Nun — wenn man ſich heiraten will.“
„Nein.“
„Möcht's du's mal ſein?“
„Ich weiß nicht. Ich denke ja. Iſt denn das nett?“
„Nett? Ich weiß nicht, was netter iſt. Du brauchſt nur zu einem Knaben zu ſagen, du möchteſt keinen anderen jemals als ihn, niemals, niemals, niemals, und dann küßt ihr euch — und dann iſt's fertig. Jeder kann das.“
„Küſſen? Warum denn küſſen?“
„Weil das halt zu ſchön iſt, weißt du! Die Leute tun das immerfort.“
„Immer?“
„Natürlich, jeder, der 'nen andern lieb hat, tut's. Weißt du nicht mehr, was ich auf die Tafel geſchrieben habe?“
„J — ja“
„Was denn?“
„Ich — ich kann's nicht ſagen.“
„Soll ich's dir ſagen?“
„J — ja — aber ein andermal.“
„Nein, jetzt.“
„Nein, nicht jetzt — morgen.“
„Nein — jetzt, Becky. Bitte! Ich will's auch ganz leiſe ſagen; ins Ohr will ich's dir ſagen.“
Als Becky zögerte, nahm Tom ihr Stillſchweigen für Zuſtimmung, ſchlang ſeinen Arm um ihre Schulter, legte ſeinen Mund an ihr Ohr und flüſterte ihr die alte Zauberformel zu. Und dann ſagte er: „Nun, mußt du's mir ſagen — grad ſo!“
Sie wehrte ſich eine Weile und bat dann: „Aber, du mußt das Geſicht fortwenden, daß du's nicht ſehen kannſt — dann tu ich's. Aber du darfſt es niemand ſagen, willſt du, Tom? Na, ſag, willſt du?“
„Selbſtverſtändlich, Becky! Alſo jetzt!“
Er drehte den Kopf zur Seite. Sie beugte ſich hinüber, bis ihr Atem ihn berührte, und flüſterte dann ganz leiſe: „Ich — liebe — dich!“
Und dann ſprang ſie auf und lief um Tiſche und Bänke herum, Tom hinterher, und flüchtete ſchließlich in einen Winkel, ihre weiße Schürze vor dem Geſicht. Tom faßte ſie um und ſprach leiſe auf ſie ein.
„Na, Becky — 's iſt ja ſchon gut — alles, bis auf den Kuß! Fürchte dich nur nicht davor, ich tu dir gewiß nichts. Sei gut, Becky!“
Damit zupfte er an der Schürze und an den Händen. Allmählich gab ſie nach und ließ die Hände ſinken. Ihr Geſichtchen, glühend vor Scham, erſchien wieder. Tom küßte ſie auf die roten Lippen und ſagte: „So, nun iſt's ganz vorbei, Becky! Und jetzt weißt du wohl, darfſt du nie wieder 'nen anderen gern haben, außer mir, und darfſt auch keinen heiraten, außer mir, nie, nie nie! Willſt du?“
„Nein, ich will nie 'nen anderen lieb haben als dich, Tom, und ich will nie 'nen anderen heiraten als dich, und du darfſt auch nie eine andere heiraten als mich, niemals.“
„Na, gewiß! Verſteht ſich doch! Und, wenn wir jetzt wieder in die Schule gehen, oder wenn wir von der Schule nach Haus kommen, mußt du immer mit mir gehen, wenn's die anderen nicht ſehen — und du wählſt mich und ich dich beim Spazierengehen — ſo iſt's unter Verlobten!“
„Nett iſt das. Ich hatte davon noch nie gehört.“
„O, es iſt ſo luſtig! Als ich und Amy Lawrence —“
Die erſtaunten Augen belehrten Tom über ſeine Dummheit, und er hielt verwirrt inne.
„Ach, Tom, alſo bin ich nicht die erſte, mit der du verlobt warſt?“
Das Mädchen begann zu heulen.
Tom bat: „Nicht weinen, Becky. Ich mag ſie ja gar nicht mehr leiden.“
„Doch, du magſt ſie noch, Tom, du weißt ganz gut, daß du ſie noch magſt!“
Tom verſuchte, ſeinen Arm um ihren Hals zu legen, aber ſie ſtieß ihn fort, drehte das Geſicht nach der Wand und fing wieder an zu heulen. Tom machte mit ſeinen ſüßeſten Schmeicheleien einen neuen Verſuch und wurde abermals abgeſchlagen. Da erwachte ſein Stolz, er wandte ſich ab und ging hinaus. Draußen blieb er ein wenig ſtehen, ſchwankend und unentſchloſſen, ſchielte nach der Tür und hoffte, ſie würde bereuen und ihm nachkommen. Aber ſie kam nicht. Schließlich wurde er weich; er fühlte, daß das Unrecht auf ſeiner Seite wäre. Es war wohl ſehr ſauer, ihr nochmals entgegenzukommen, aber er machte ſich ſelbſt Mut und ging hinein. Sie ſtand immer noch in ihrem Winkel, das Geſicht zur Wand gekehrt. Toms Herz wollte brechen. Er ging zu ihr, ſtand einen Augenblick zögernd und wußte nicht, was tun. Dann ſagte er ganz ſchüchtern: „Becky — ich — ich kümmere mich um keine andere als dich.“
Keine Antwort. Schluchzen.
„Becky,“ in bittendem Ton. „Becky, willſt du nicht wenigſtens was ſagen?“
Immer lauteres Schluchzen. Tom zog ſeinen koſtbarſten Schatz hervor, den abgebrochenen Knopf irgend eines alten Hausgerätes, hielt ihn ihr dicht vor die Augen und ſchmeichelte: „Na, Becky, willſt du den haben?“
Sie ſchlug ihn ihm aus der Hand, daß er bis zur Tür flog. Da marſchierte Tom denn aus der Tür, über Berg und Tal, um an dem Tage nicht mehr zur Schule zurückzukehren. Sofort drehte ſich Becky um. Sie lief zur Tür. Er war nicht mehr zu ſehen. Sie rannte hinaus auf den Spielplatz. Er war nicht dort. Nun begann ſie aus Leibeskräften zu ſchreien: „Tom, komm zurück — Tom!!“
Sie horchte angeſtrengt, aber keine Antwort kam. Sie war alſo allein in der Stille und Verlaſſenheit ringsum. So fing ſie wieder an zu ſchreien, um ſich ſelbſt zu ermutigen, bis die Schüler wieder zur Schule zu kommen begannen und ſie ihren Kummer hinunterſchlucken und ihr gebrochenes Herz einſtweilen beruhigen mußte. So nahm ſie ihr Kreuz eines ganzen langweiligen Nachmittags auf ſich, ohne unter all dieſen Fremden eine einzige mitfühlende Seele zu finden, die ihren Schmerz mit ihr geteilt hätte.
Tom ſchlenderte immer weiter durch die Gaſſen, bis er zu weit von der Schule entfernt war, um noch zum Nachmittagsunterricht gehen zu können, dann ſetzte er ſich in Trab. Ein paarmal paſſierte er kleine „Flußarme“, da ihm ein weitverbreiteter, jugendlicher Aberglaube ſagte, daß er ſich dadurch vor Verfolgung ſichern könne. Nach einer halben Stunde war er hinter Douglas Manſion auf dem Gipfel von Cardiff Hill verſchwunden, das Schulhaus lag weit unten im Nebel, kaum noch ſichtbar. Er „nahm“ einen dichten Wald, ſchlug einen Weg in das Innere ein, der keiner war, und ſetzte ſich auf eine Moosbank unter das weite Blätterdach einer Eiche. Kein Lüftchen regte ſich. Die ſchwere Nachmittagsluft ließ ſogar die Vögel verſtummen. Die ganze Natur lag in ſtarrer Dumpfheit, nur zuweilen unterbrochen durch entferntes Pochen eines Spechtes, wodurch das Schweigen und das Gefühl des Alleinſeins nur um ſo fühlbarer wurde. Der kleine Burſche verſank in melancholiſche Träume. Seine Empfindungen ſtanden vollkommen in Einklang mit ſeiner Umgebung. Lange ſaß er, die Ellbogen auf die Knie geſtemmt, das Kinn in der Hand, und dachte nach. Es wollte ihm ſcheinen, daß das ganze Leben im beſten Fall eitel Kummer und Sorge ſei, und er beneidete mehr als je Jimmy Hodges. Es muß ſehr friedvoll ſein, dachte er, für immer zu liegen und zu ſchlummern und zu träumen, wenn der Wind in den Blättern flüſtert und Gras und Blumen auf dem Grab fächelt — und von nichts mehr gedrückt und beläſtigt zu werden — nie mehr. Hätte er nur ein gutes Sonntagsſchulzeugnis gehabt — wie leicht hätte er für immer dem Leben Valet geſagt. Und dann dieſes Mädchen. Was hatte er ihr eigentlich getan? Nichts! Er hatte die beſte Abſicht von der Welt gehabt und war artig geweſen wie ein Hund — wie ein wohlerzogener Hund. Sie würde ein paar Tage traurig ſein — vielleicht! Ach, wenn er doch für einige Zeit wenigſtens hätte ſterben können.
Aber der leichte Sinn der Jugend läßt ſich nicht lange niederdrücken. Tom begann ſehr bald wieder in ſein altes Lebenselement zurückzutreiben. Wie, wenn er jetzt fortging und auf geheimnisvolle Weiſe verſchwände? Wenn er weit, weit in unbekannte Länder, jenſeits des großen Waſſers, gelangte und nie wieder zurückkäme. Was würde ſie dann wohl fühlen? Der Gedanke, ein Clown zu werden, kam ihm wieder, wurde aber mit Abſcheu abgewieſen. Für dumme Witze und Poſſen und gemalte Kleider war ſein Geiſt, der ſich eben noch in den kühnſten Träumen verloren hatte im Reich der Romantik, wenig disponiert. Nein, er wollte Soldat werden und nach langen Jahren als kriegserfahrener, berühmter Mann zurückkehren. Oder noch beſſer, er wollte zu den Indianern gehen, mit ihnen Büffel jagen, in den wilden Bergen und den verlaſſenen Prärien den Kriegspfad beſchreiten, um dann einmal als großer Häuptling, geſchmückt mit Federn, mit allen nur denkbaren Farben ſcheußlich bemalt, zurückzukommen, eines ſchönen Morgens mit blutdürſtigem Kriegsgeheul in die Sonntagsſchule einbrechen und alle ſeine Gefährten in unerträglichem Neid vergehen zu ſehen!
Aber ihm fiel etwas noch Großartigeres ein! Ein Pirat wollte er werden! Das war's! Jetzt erſt lag ſeine Zukunft klar vor ihm, ſtrahlend in unausſprechlichem Glanz. Wie würde ſein Name die Welt erfüllen und die Menſchen ſchaudern machen. Wie ſtolz würde er die ſchäumende See durchfurchen auf ſeinem großen, kohlſchwarzen Dreimaſter, dem „Sturmgeiſt“, mit der gräßlichen Flagge am Maſt! Und dann, auf dem Höhepunkt ſeines Ruhmes angelangt, würde er plötzlich in dem alten Dorfe erſcheinen, und, ein braungebrannter, wetterfeſter Held in ſchwarzer Jacke, langſchaftigen Seemannsſtiefeln, hochroter Schärpe, den Hut mit wallenden Federn geſchmückt, die ſchwarze Fahne mit den Totenſchädeln und den gekreuzten Gebeinen darauf entfaltet, mit lähmendem Entſetzen die guten Leute in der Kirche erfüllen! „Es iſt Tom Sawyer, der Pirat! Der ſchwarze Rächer des ſpaniſchen Meeres!!“
Ja — es war beſchloſſen, ſein Schickſal beſiegelt. Er wollte von zu Hauſe fortlaufen und drauf los! Gleich am nächſten Morgen mußte er anfangen. Deshalb hieß es jetzt mit den Vorbereitungen beginnen. Er wollte zunächſt ſeine Schätze zuſammenſcharren. Er ging zu einem hohlen Baum in der Nähe und begann am Fuße deſſelben mit ſeinem Meſſer den Boden aufzukratzen. Bald traf er auf hohlklingendes Holz. Er legte ſeine Hand drauf und deklamierte mit feierlicher Stimme: „Was nicht hier iſt, komme, was ſchon hier iſt, bleibe!“
Dann entfernte er die Erde und förderte einen von Schindeln gebildeten Behälter zu Tage. Er hob ihn auf und öffnete eine kleine Schatzkammer, deren Boden und Seiten gleichfalls durch Schindeln gebildet wurden. Darin lag eine Glaskugel. Toms Erſtaunen war grenzenlos! Er ſchüttelte den Kopf, machte ein verdutztes Geſicht und ſagte: „Nun, das iſt ſtark!“
Dann ſchleuderte er die Glaskugel wütend von ſich und verſank in Nachdenken. Die Wahrheit war, daß hier ein alter Aberglaube zunichte geworden war, den er und alle ſeine Kameraden ſtets für unfehlbar gehalten hatten. Wenn man nämlich eine Glaskugel mit gewiſſen vorgeſchriebenen Worten vergrub und nach einer Zeitlang die Grube mit den gleichen Worten wieder öffnete, ſo fand man alle Kugeln, die man nur jemals beſeſſen und verloren hatte, beiſammen, und wären ſie auch noch ſo weit zerſtreut geweſen. Und nun war das auf ſo ſchmerzliche Weiſe und ſo augenſcheinlich fehlgeſchlagen. Toms ganzer Glaube war in ſeinen Grundfeſten erſchüttert. Er hatte wohl ſehr oft von derartigen geglückten Unternehmungen, niemals aber von fehlgeſchlagenen gehört. Es fiel ihm nicht ein, daß er es ſchon mehrmals verſucht und nachher den Platz des Begräbniſſes nicht hatte wiederfinden können. Er grübelte eine Zeitlang darüber nach und entſchied ſchließlich, daß irgend eine Hexe den Zauber geſtört haben müſſe. Er dachte ſich von dieſem Punkt zu überzeugen, ſo ſuchte er, bis er eine Sandſtelle mit einer trichterartigen Vertiefung darin fand. Gleich legte er ſich nieder, preßte den Mund feſt darauf und rief:
„Wanze, komm herauf vom Grund,
Tu mir, was ich möchte, kund!“
Der Sand begann ſich zu heben und eine kleine, ſchwarze Wanze erſchien für einen Augenblick, verſchwand aber ſchleunigſt wieder.
„Sie wagt's nicht! Es war alſo eine Hexe! Ich wußte es ja!“
Er ſah ſofort die Nutzloſigkeit eines Kampfes gegen Hexen ein und gab es mutlos auf. Aber wenigſtens hätte er die eben fortgeworfene Glaskugel gern wieder gehabt und begann ſofort umherzuſuchen, konnte ſie aber nicht finden. Nun ging er zu ſeiner Schatzkammer zurück und ſtellte ſich genau ſo, wie er vorher geſtanden, als er die Kugel fortwarf. Dann zog er eine andere aus der Taſche, warf ſie ebenſo fort und deklamierte dabei: „Bruder, ſuch den Bruder!“ Er paßte genau auf, wo ſie niederfiel, ging dorthin und ſuchte umher. Aber ſie mußte entweder näher oder weiter geflogen ſein — er wiederholte alſo den Verſuch noch zweimal. Der letzte Verſuch hatte Erfolg. Die beiden Kugeln lagen kaum einen Fuß voneinander.
In dieſem Augenblick drang der Ton einer Zinntrompete durch den Wald herüber. Tom entledigte ſich blitzartig ſeiner Jacke und Hoſe, machte ſich aus einem Hoſenträger einen Gürtel, räumte einen Haufen Geſtrüpp hinter dem hohlen Baum fort, holte einen rohgeſchnitzten Bogen und Pfeil hervor, ein hölzernes Schwert, eine Zinntrompete, raffte alles zuſammen und raſte davon, barbeinig, in flatterndem Hemd. Bald hielt er unter einer großen Ulme, ſtieß antwortend in die Trompete und ſchlich auf den Zehen vorwärts, um vorſichtig nach allen Richtungen auszulugen. Zu einer eingebildeten Heldenſchar gewandt, flüſterte er:
„Halt, tapfere Gefährten! Haltet hier, bis ich blaſe!“
In dieſem Augenblick erſchien Joe Harper, ebenſo gekleidet und bewaffnet wie Tom. Tom rief: „Halt! Wer kommt ohne meine Erlaubnis in den Sherwood-Wald?!“
„Guy von Guisborne wagt's! Wer biſt du, daß — daß —“
„Daß du es wagen darfſt, ſo zu ſprechen,“ ergänzte Tom prompt, denn ſie ſpielten „nach dem Buch“ und deklamierten aus dem Gedächtnis.
„Daß du es wagen darfſt, ſo zu ſprechen?“
„Wer ich bin? Robin Hood, wie dein ſchuftiger Leichnam bald fühlen ſoll!“
„Du wäreſt in der Tat jener berühmte Geächtete? Mit Vergnügen will ich mit dir um die Herrſchaft dieſes herrlichen Waldes ſtreiten! Paß auf!“
Sie zogen ihre hölzernen Schwerter, warfen alle anderen Waffen auf die Erde, nahmen eine Fechterſtellung an, Fuß bei Fuß, und begannen einen heißen, kühnen Kampf „zwei oben und zwei unten.“ Plötzlich ſagte Tom:
„Du, wenn's dir recht iſt — ſtärker!“
So gingen ſie denn noch ſtärker los, ſchnaufend und ſchwitzend.
Zuweilen ſtieß Tom hervor: „Fall', fall', warum fällſt du nicht?!“
„Fällt mir nicht ein! Warum fällſt du nicht ſelbſt? Du bekommſt die meiſten Schläge!“
„Ach, das iſt ja gleich! Ich kann doch nicht fallen! Das ſteht doch nicht im Buch! Im Buch ſteht doch: Und mit einem ſchrecklichen Hieb fällte er den armen Guy von Guisborne! Du mußt dich umdrehen, und ich geb dir eins hinten drauf!“
Gegen ſolche Autorität ließ ſich nicht ſtreiten, Joe drehte ſich um, erhielt ſeinen Hieb und fiel. „So,“ ſagte er, ſich wieder aufrappelnd, „nun laß du mich dich töten. Das iſt recht und billig!“
„Gibt's nicht, ſteht nicht im Buch!“
„So? Na, meinetwegen. 's iſt aber eine rechte Gemeinheit von dem Buch! — So, jetzt kannſt du Friar Tuck ſein, Tom, oder Much, des Müllers Sohn, und mich mit einem Zaunpfahl lahm prügeln; oder ich bin der Sheriff von Nottingham, und du biſt jetzt mal Robin Hood und töteſt mich.“
Tom war's zufrieden, und auch dieſe Abenteuer wurden durchgefochten. Dann war wieder Joe Robin Hood und bekam von der verräteriſchen Nonne die Erlaubnis, all ſeine furchtbare Kraft mit dem Blut ſeiner Wunden davonfließen zu ſehen. Zuletzt ſchleifte ihn Joe, der jetzt eine ganze Bande weinender Geächteter repräſentierte, vorſichtig davon, gab ihm ſeinen Bogen in die ſchwache Rechte, und Tom flüſterte mit erſterbender Stimme:
„Wo dieſer Pfeil niederfällt, da begrabt den armen Robin Hood unter grünen Bäumen.“ Dann ſchoß er einen Pfeil ab, fiel zurück und würde tot geweſen ſein — aber er hatte ſich in Neſſeln geworfen und ſprang in die Höhe — etwas zu ſchnell für einen Toten.
Sie zogen ſich wieder an, verbargen ihre Kriegsgeräte und gingen fort, bedauernd, daß es keine Geächteten mehr gab, und ſich fragend, was die moderne Ziviliſation getan habe, um dieſen Verluſt verſchmerzen zu laſſen. Sie waren ſich beide vollkommen klar, daß ſie lieber ein Jahr hindurch Geächtete im Sherwood-Walde geweſen wären als für Lebenszeit Präſident der Vereinigten Staaten.
Um halb neun wurden Tom und Sid, wie gewöhnlich, zu Bett geſchickt. Sie ſprachen ihre Gebete, und Sid war bald eingeſchlafen. Tom lag wach und wartete in peinvoller Ungeduld. Als es ihm ſchien, daß es bald wieder Tag werden müſſe, hörte er es zehn Uhr ſchlagen. Das war zum Verzweifeln. Er hätte um ſich ſchlagen mögen, wie es ſeine Nerven verlangten, aber er fürchtete, Sid aufzuwecken. So lag er ſtill und ſtarrte in die Dunkelheit. Es war ſo ſchrecklich ſtill! Allmählich begannen aus der Stille heraus kleine, geheimnisvolle, kaum hörbare Stimmen ſich bemerkbar zu machen.
Zuerſt vernahm er nur das Ticken der Uhr. Dann begannen morſche Balken geheimnisvoll zu brechen. Auch im Fußboden regte es ſich. Es war kein Zweifel, daß Geiſter ihr Weſen trieben. Ein dumpfer, ſich regelmäßig wiederholender Ton drang aus Tante Pollys Schlafzimmer herauf. Und jetzt begann das eintönige Zirpen einer Grille, das keine menſchliche Macht zum Schweigen zu bringen vermag. Dann wieder ließ das unheimliche Klopfen des Totenkäfers in einem Balken über ſeinem Kopf Tom erſchauern — gewiß waren irgend jemandes Tage gezählt. Jetzt erfüllte das langgezogene Heulen eines Hundes die nächtliche Stille und wurde ſofort durch ein noch entfernteres Heulen beantwortet. Tom lag halb betäubt. Er glaubte, alle Zeit habe aufgehört und die Ewigkeit beginne. Trotz aller Anſtrengung ſchlief er ein. Die Uhr ſchlug elf, aber er hörte nichts mehr. Und dann miſchte ſich in ſeine halbbewußten Träume ein höchſt melancholiſches Katzengeheul. Das Aufreißen eines benachbarten Fenſters ſchreckte ihn in die Höhe. Der wütende Ruf: „Hol der Teufel die verfluchte Katze!“ und der Anprall einer leeren Flaſche gegen die Rückwand von Tante Pollys Holzſchuppen ermunterten ihn vollends; eine Minute ſpäter war er völlig angekleidet, ſtieg aus dem Fenſter und noch auf allen Vieren am Dach eines kleinen Anbaues entlang. Während dieſes Spazierganges miaute er ein- oder zweimal halblaut, dann kletterte er auf das Dach des Holzſchuppens und ſprang von dort zur Erde. Huckleberry Finn war da mit ſeiner toten Katze. Die Jungen machten ſich davon und verſchwanden in der Dunkelheit. Eine halbe Stunde ſpäter wateten ſie durch das naſſe Gras des Kirchhofes.
Es war ein Kirchhof in der althergebrachten Art des Weſtens. Er lag auf einem Hügel, über ein und eine halbe Meile vom Dorfe entfernt. Umgeben war er von einem halb morſchen alten Zaun, der ſich bald nach innen, bald nach außen lehnte und doch ſich immer noch aufrecht erhielt. Gras und Unkraut überwucherten den ganzen Gottesacker. Die meiſten der älteren Gräber waren längſt eingeſunken. Nicht ein einziger Grabſtein war zu ſehen. Roh geſchnitzte, wurmſtichige Holzkreuze ſteckten auf den Hügeln, einen Anhalt ſuchend und keinen findend. „Zum ewigen Gedächtnis“, das und ähnliches war auf einige gemalt, aber man konnte es meiſtens nicht mehr leſen — auch nicht bei hellem Tageslicht. Ein leichter Wind ſäuſelte in den Bäumen, und Tom argwöhnte, daß es Stimmen von Toten ſein könnten, die ſich über die Störung ihrer Ruhe beklagten.
Nur leiſe, mit verhaltenem Atem, wagten die beiden zu ſprechen, Zeit und Stunde und die troſtloſe Schwermut und Verlaſſenheit ihrer Umgebung bedrückten ihren Geiſt. Sie fanden das neugeſchaufelte Grab, das ſie ſuchten, und ſtellten ſich in den Schutz und Schatten dreier mächtiger Ulmen, welche, ein paar Schritte vom Grabe entfernt, ſich dicht aneinander drängten.
Dann warteten ſie lange ſchweigend auf das, was da kommen ſollte. Das Huſten einer entfernten Eule war der einzige Ton, der die tiefe Stille zuweilen unterbrach. Toms Beklemmung wuchs. Er mußte durchaus ſprechen. So ſagte er mit flüſternder Stimme: „Hucky, glaubſt du, daß die Toten es leiden werden, daß wir hier ſind?“
Huckleberry gab flüſternd zurück: „Ich wollte, ich wüßte es. 's iſt ſchrecklich traurig hier, nicht?“
„Ich glaub' wohl!“
Während der nächſten Minuten ſchwiegen beide, die Frage innerlich weiter verarbeitend. Dann wiſperte Tom wieder: „Sag, Hucky — meinſt du, daß Hoss Williams uns ſprechen hört?“
„O, ſicher, wenigſtens ſein Geiſt.“
Nach einer Pauſe Tom wieder: „Hätt' ich doch nur Herr Williams geſagt! Aber ich hab's ja nie anders gehört. Alle nennen ihn einfach Hoss.“
„Ja. Tom, man kann gar nicht vorſichtig genug ſein in dem, was man über die Leute da unten ſagt.“
Dies war ungemütlich, und die Unterhaltung erſtarb wieder. Plötzlich packte Tom ſeinen Kameraden am Arm und raunte: „Pſcht!“
„Was denn, Tom?“ Und die beiden drängten ſich klopfenden Herzens aneinander.
„Pſcht! Da iſt's wieder! Haſt du denn nichts gehört?“
„Ich —“
„Da! Nun hörſt du's doch!“
„Herr Gott, Tom, ſie kommen! Sie kommen ganz beſtimmt! Was tuſt du?“
„Ich? Nichts! Meinſt du, daß ſie uns ſehen werden?“
„O, Tom, die ſehen in der Dunkelheit wie die Katzen. — Ich wollte nur, ich wär' nicht hergekommen!“
„Ach was, fürchte dich nicht! Ich glaub' nicht, daß ſie uns was tun! Wir haben ja nichts Schlechtes getan. Wenn wir ganz ſtill ſind, werden ſie uns vielleicht gar nicht bemerken!“
„Ich will's verſuchen, Tom, aber, Herr Gott, ich bin halb tot vor Angſt!“
„Still!“
Sie ſteckten die Köpfe zuſammen und wagten kaum zu atmen. Dumpfes Stimmengewirr wurde vom anderen Ende des Kirchhofes hörbar.
„Sieh, ſieh doch!“ flüſterte Tom. „Was iſt das?“
„'s iſt Teufelsſpuk! Ach, Tom, wie ſchrecklich!“
Ein paar unbeſtimmte Figuren tauchten aus der Dunkelheit auf, eine altertümliche Blendlaterne mit ſich führend, welche die Umgebung mit zahlloſen Lichtſtreifen erhellte. Schaudernd flüſterte Huckleberry: „Ganz gewiß, es ſind Teufel! Drei auf einmal! Gott, Gott, Tom, wir ſind verloren! Weißt du kein Gebet?“
„Ich will's verſuchen, aber ſei doch nicht ſo bange! Sie werden uns ja nicht erwiſchen. Müde bin ich, geh zur Ruh —“
„Pſcht!“
„Was gibt's Huck?“
„Das ſind ja Menſchen! Einer wenigſtens! Die eine Stimme gehört dem alten Muff Potter!“
„Iſt das gewiß?“
„Wenn ich dir's doch ſage! Nur ganz ſtill! Er wird uns ſchwerlich bemerken! Beſoffen, wie gewöhnlich — erbärmlicher, alter Trunkenbold!“
„'s iſt ſchon gut, ich bin ja ganz ſtill! — Jetzt bleiben ſie ſtehen — ſie können's nicht finden — jetzt kommen ſie wieder näher — heiß — kalt — wieder heiß — rieſig heiß! Da — da ſind ſie jetzt ganz in der Nähe! — Du, Huck, ich kenne die zweite Stimme — 's iſt die von Indianer-Joe.“
„'s iſt richtig! Dieſe mörderiſche Beſtie! Ich wollt' faſt lieber, es wären Teufel! Was ſie wohl vorhaben?“
Mit dem Tuſcheln war's jetzt aus; die drei waren beim Grab angelangt und ſtanden kaum ein paar Fuß vom Verſteck der beiden Abenteurer.
„Hier iſt es,“ ſagte die dritte Stimme, worauf einer der anderen die Laterne in die Höhe hielt — ſie beleuchtete des jungen Dr. Robinſon Geſicht. Potter und Indianer-Joe hatten einen Schubkarren mit einem Strick und ein paar Schaufeln mitgebracht. Sie ſetzten ihre Laſt nieder und begannen, das Grab zu öffnen. Der Doktor ſetzte die Laterne auf das Kopfende des Grabes und ſetzte ſich mit dem Rücken gegen eine der Ulmen nieder. Er war ſo nahe, daß die beiden Burſchen ihn hätten berühren können.
„Hurtig, Leute,“ ſagte er leiſe. „Der Mond wird gleich herauskommen!“
Sie grunzten was als Antwort und gruben weiter. Einige Zeit war nichts zu hören als der dumpfe Ton der Schaufeln, die ihre Ladung von Erde und Steinen abluden. Es klang ſehr eintönig. Endlich ſtieß eine Schaufel krachend auf den Sargdeckel — zwei Minuten ſpäter hatten die Männer den Sarg herausgeſchoben und niedergeſetzt.
Darauf brachen ſie mit ihren Schaufeln den Deckel auf, zogen die Leiche heraus und warfen ſie brutal auf die Erde. Der Mond trat in dieſem Augenblick hinter den Wolken hervor und beleuchtete grell die ſcheußliche Szene. Der Schubkarren wurde herbeigeholt, der Körper daraufgelegt, mit einer Decke eingehüllt und mit Stricken feſtgebunden. Potter zog ein großes Meſſer hervor, ſchnitt das überhängende Stück des Strickes ab und ſagte: „So, das wär getan, Beinſäger, jetzt noch 'nen Fünfer 'raus, oder das da bleibt ſtehen.“
„'s iſt ganz richtig,“ ſtimmte der Indianer-Joe bei.
„Seht mal! Was ſoll das heißen?“ fragte der Doktor. „Ihr habt euer Geld im voraus verlangt, und ich hab's euch gegeben.“
„Ja — und 's iſt das letzte Mal geweſen,“ ſchrie der Indianer-Joe, ſich dem Doktor nähernd, der raſch aufgeſtanden war. „Vor fünf Jahren haſt du mich vom Hauſe deines Vaters bei Nacht und Nebel vertrieben, als ich um was zu eſſen bat, und haſt geſagt, ich hätt' wohl was anderes vorgehabt; und als ich ſchwor, wir würden noch mit 'nander abrechnen, und wär's erſt in hundert Jahren, hat mich dein Vater als Landſtreicher eingeſperrt. Dachteſt du, ich hätt's vergeſſen? Ich hab' nicht umſonſt Indianerblut! Und jetzt will ich's dir geben, und du wirſt zum ſtillen Mann gemacht!“
Bis jetzt hatte er dem Doktor mit der Fauſt unter der Naſe herumgefuchtelt. Plötzlich holte dieſer aus und ſtreckte den Raufbold zu Boden. Potter warf ſein Meſſer zu Boden, und mit den Worten: „Halt einmal, du ſollſt meinen Freund nicht hauen!“ ſtürzte er ſich auf den Doktor, und im nächſten Augenblick lagen beide wütend ringend, und Gras und Erde mit den Füßen zerſtampfend, auf dem Grab. Der Indianer-Joe war gleich wieder auf den Beinen, ſeine Augen glühten unheimlich, er ergriff Potters Meſſer und umkreiſte katzengleich die Kämpfenden, auf eine Gelegenheit lauernd. Aber auf einmal gelang es dem Doktor, ſich freizumachen, er ergriff den ſchweren Sargdeckel und ſchlug Potter damit zu Boden — ebenſo raſch hatte Joe ſeinen Vorteil wahrgenommen und ſtieß das Meſſer bis ans Heft in des jungen Mannes Bruſt. Der Doktor ſtieß einen Schrei aus und fiel auf Potter, ihn mit ſeinem Blute färbend; und im ſelben Moment verhüllten die Wolken das ſchreckliche Schauſpiel, während die beiden zu Tode erſchrockenen Burſchen Hals über Kopf in der Dunkelheit verſchwanden.
Sobald der Mond wieder hervorkam, ſtand Joe über den beiden regungslos Liegenden und betrachtete ſie. Der Doktor murmelte etwas Unverſtändliches, tat einen langen Seufzer — und war ſtill.
„Beim Satan — der Stich ſitzt,“ brummte Joe und begann die Leiche zu berauben, worauf er das verräteriſche Meſſer in Potters offene Hand ſteckte und ſich auf den geöffneten Sarg ſetzte. Drei — vier — fünf Minuten verfloſſen, und dann begann Potter ſich zu bewegen und zu ſtöhnen. Seine Hand ſchloß ſich um das Meſſer, er hob es auf, blickte darauf und ließ es ſchaudernd fallen. Dann richtete er ſich auf, ſchob die Leiche von ſich und ſtarrte verwirrt um ſich. Joe anzuſehen, vermied er.
„Herr Gott, Joe, wie war das?“ ſagte er mit zitternder Stimme.
„'s iſt 'ne faule Geſchichte,“ entgegnete Joe grob. „Wozu tatſt du's?“
„Ich! Ich hab's nicht getan!“
„Sieh mal! Na — mit ſolchem Geſchwätz kommſt du nicht los!“
Potter zitterte und wurde aſchfahl.
„Ich hatte mir doch vorgenommen, nüchtern zu bleiben! Warum mußte ich auch nachts trinken. — Hab's ja noch im Kopf — mehr, als wie wir kamen. — Immer betrunken — völlig — auf gar nichts kann ich mich beſinnen! Sag, Joe, ehrlich, alter Burſche — hab ich's getan?! Ich wollt's nicht tun — auf Ehr und Seligkeit, Joe, ich wollt's nicht tun! O, 's iſt ſchrecklich — und er war ſo jung und hoffnungsvoll —“
„Na, ihr habt halt gerauft, und er gab dir eins rüber mit dem Sargdeckel, und du fielſt hin. — Und dann kamſt du wieder auf, wankteſt und konnteſt dich kaum auf den Füßen halten, hobſt das Meſſer auf — na, und ſtießeſt es ihm in den Leib, grad, wie er dir noch 'nen tüchtigen Schlag geben wollte, und dann haſt du hier wie 'n toter Klotz gelegen bis jetzt.“
„O — ich wußte ja nicht mehr, was ich tat. 's kam wohl alles vom Branntwein und von der Wut — ſchätz' ich. Ich hab' nie vorher in meinem Leben ſo was getan, Joe! 's können's mir alle bezeugen. Geprügelt — ja, aber geſtochen niemals, Joe. Joe, ſag's niemand! Sag mir, Joe, daß du's niemand ſagen willſt! Sei 'n guter Burſche! Joe! Ich hab' dich immer gern gehabt, Joe, und hab' deine Partei genommen. Weißt du nicht, Joe? Joe, du ſagſt es nicht, Joe, nicht?!“ Und der arme Kerl fiel auf die Knie vor den kaltherzigen Mörder und hob beſchwörend die Hände.
„Na, du biſt immer treu und brav zu mir geweſen, Muff Potter, und ich werd' dich nicht verraten. — Das iſt doch wie 'n Kerl geſprochen, he?“
„O, Joe, ja, du biſt ein Engel, Joe. Ich will dich ſegnen, ſo lang ich leb'!“ Und Potter begann zu weinen.
„Na, komm, 's iſt jetzt genug davon. 's iſt 'ne verdammt ſchlechte Zeit zum Heulen. Mach, daß du in der Richtung fortkommſt, und ich will hierhin gehen. Vorwärts, mach fort — und laß nichts liegen, zum Teufel!“
Potter ſetzte ſich in Trab, woraus bald regelrechter Galopp wurde. Joe ſchaute ihm nach, brummend: „Wenn er ſo betäubt von dem Prügeln und voll von Schnaps iſt, wie er ausſieht, ſo wird er an das Meſſer erſt denken, wenn er ſo weit fort iſt, daß er's nicht wagt, an ſo 'nen Ort zurückzukommen — Haſenfuß!“
Zwei oder drei Minuten ſpäter ſah nur noch der Mond den Ermordeten, den eingebundenen Körper des Toten, den aufgebrochenen Sarg und das leere Grab. Tiefe Stille herrſchte wieder wie vorher.
Die beiden Burſchen liefen dem Dorfe zu, ſprachlos vor Schreck. Von Zeit zu Zeit blickten ſie ängſtlich über die Schulter zurück, als fürchteten ſie ſich vor Verfolgern. Jeder Baumſtumpf, der an ihrem Wege aus der Dunkelheit auftauchte, ſchien ihnen ein Mann und ein Feind, und ließ ſie bis ins Mark erzittern. Und als ſie bei einigen außerhalb des Dorfes gelegenen Niederlaſſungen vorbeikamen, ſchien ihnen das Bellen der erwachten Hunde Flügel zu verleihen.
„Wenn wir — nur bis zu der alten Gerberei — kommen — bevor wir — zuſammenbrechen —“ ſtieß Tom abgeriſſen zwiſchen mühſamem Atemholen hervor.
„Ich — ich kann — nicht mehr — länger!“
Huckleberrys pochendes Herz war ſeine ganze Antwort; beide hefteten ihre Augen feſt auf das Ziel ihrer Hoffnung und machten die äußerſten Anſtrengungen, es zu erreichen. Sie kamen ihm immer näher, und ſchließlich Bruſt an Bruſt, fielen ſie förmlich durch die offene Tür — dankbar und atemlos, in den ſchützenden Schatten. Allmählich beruhigten ſich ihre Pulſe, und Tom flüſterte:
„Du, Huckleberry, was meinſt du, wird von all dem kommen?“
„Na, ich denke, wenn Dr. Robinſon ſtirbt, wird Gehenktwerden davon kommen.“
„Meinſt du?“
„Nicht meine, ich weiß, Tom!“
Tom dachte 'ne Weile nach, dann ſagte er: „Wer wird's denn verraten? Wir?“
„Was fällt dir ein? Angenommen, 's käm' was dazwiſchen und Indianer-Joe müßt nicht hängen, wird er uns früher oder ſpäter ſo gewiß töten, daß wir grad ſo gut ſchon jetzt hier liegen könnten!“
„Huck, das hab' ich mir auch gedacht.“
„Wenn's jemand ſagen ſoll, mag's doch Muff Potter tun, wenn er dumm genug iſt. Der iſt ohnehin immer betrunken genug!“
Tom ſagte nichts — er brütete über etwas. Plötzlich wiſperte er: „Huck, Muff Potter weiß es nicht. Wie kann er's ſagen?“
„Warum ſollt er's nicht wiſſen?“
„Weil er grad den ekligen Klaps bekommen hatte, als es Joe tat. Meinſt du, da hätt' er's ſehen können? Meinſt du wirklich, er könnt's wiſſen?“
„Beim Henker, 's iſt ſo, Tom!“
„Und dann — weißt du — ſollt' ihm nicht der Hieb den Reſt gegeben haben?“
„Kaum glaublich, Tom! Er hatte Schnaps in ſich. Ich konnt's ſehen; übrigens hat er das immer. Wenn mein Alter voll iſt, kannſt du ihn nehmen und ihn mit 'nem Kirchturm überhauen — er ſpürt's nicht. Er ſagt's auch ſelbſt. Grad ſo iſt's heut mit Muff Potter. Aber wenn einer klar im Kopf iſt, ſchätz' ich, daß ſo 'n Klaps genug für ihn ſein möchte.“
Nach abermaligem nachdenklichem Schweigen fuhr Tom abermals fort:
„Huck, biſt du ſicher, daß du den Mund halten kannſt?“
„Tom, wir müſſen den Mund halten! Du weißt doch! Dieſer Indianer-Teufel würde nicht mehr Umſtände machen, uns abzuſchneiden, wie mit 'nen paar Katzen, wenn wir ſo dumm wären, zu plappern, und ſie henkten ihn nicht. Nun, Tom, komm mal her, laß uns einander ſchwören — das müſſen wir, Tom! — ſchwören, den Mund zu halten!“
„Mir recht, Huck. 's wird wohl das beſte ſein. Wollen wir alſo die Hand hochhalten und ſchwören, daß wir —“
„Halt mal, ſo geht's nicht! Das iſt gut genug für kleine, alltägliche Dinge, zum Beiſpiel bei Mädchen, wenn die einem überall nachlaufen, und wenn ſie — hm — wenn man ſich verrannt hat, mein' ich — aber ſo was geht bei ſo 'ner häßlichen Geſchichte nicht — da muß was Schriftliches ſein — und Blut!“
Tom ſtimmte von ganzem Herzen zu. Die Idee war tief — und dunkel — und ſchrecklich; die Stunde, die Umſtände, die Umgebung — alles wirkte zuſammen. Er nahm eine glänzend geſchliffene Schindel auf, die im Mondlicht lag, zog ein Stückchen Rotſtift aus der Taſche, ließ das Mondlicht ſein Werk beſcheinen, und kritzelte mühſam, jeden ſchwerfälligen Grundſtrich hervorhebend, indem er die Zunge zwiſchen die Zähne klemmte und ſie bei den Haarſtrichen wieder freiließ, folgende Zeilen: „Huck Finn und Tom Sawyer ſchwöhren, Sie wolen über dies den Mund Halten und ſie wünſchen, dahs Sie Tot niederfallen auff ihren Wech, wenn ſie jemalls plautern oter ſchreiben.“
Huckleberry war ganz erfüllt von Toms Fähigkeit im Schreiben und ſeinem glanzvollen Stil. Er war im Begriff, mit einem Nagel ſich das Fleiſch zu ritzen, als Tom einfiel: „Halt, nicht ſo. Nagel iſt Eiſen. Der könnte Grünſpan haben.“
„Grünſpan — was iſt das?“
„'s iſt Gift, das iſt es! Du würdeſt ſofort davon aufgeſchwellt werden — ſollſt du ſehen!“ Darauf nahm Tom eine Nadel, und beide ritzten ſich den Ballen des Daumens und drückten einen Blutstropfen heraus. Schließlich, nach vielem Quetſchen machte ſich Tom daran, ſeine Anfangsbuchſtaben zu malen, indem er den kleinen Finger als Feder benutzte. Dann zeigte er Huckleberry, wie er ein H und ein F zu machen habe — und dann war der Eid bekräftigt.
Sie vergruben die Schindel, häuften unter allerhand Zeremonien und Zauberformeln einen Hügel darüber, und die ihre Zungen bindenden Feſſeln waren geſchmiedet und der Schlüſſel dazu lag in der Erde.
Eine menſchliche Figur ſchlüpfte vorſichtig durch eine Lücke am anderen Ende des verfallenen Gebäudes, aber ſie merkten es nicht.
„Tom,“ wiſperte Huckleberry, „ſichert uns das davor, zu ſchwatzen — für immer?“
„Aber, natürlich tut's das! Mag jetzt geſchehen, was will — wir müſſen ſchweigen. Wir wollen tot niederfallen — weißt du's denn nicht?“
„Ja, ich rechne, 's iſt an dem.“
Sie tuſchelten noch 'ne Weile fort. Plötzlich ſchlug ein Hund mit langem, kläglichem Ton an, gerade jenſeits der Stelle der Mauer, wo ſie ſaßen — keine zehn Schritt davon. Die Burſchen packten einander unwillkürlich in verſteinerndem Schreck.
„Wen von uns mag er meinen?“ flüſterte Huckleberry.
„Ich weiß nicht — ſchau durch die Ritze — ſchnell!“
„Nein, tu du's, Tom!“
„Ich kann's — kann's nicht!“
„Bitte, Tom! — Da iſt's wieder!“
„Ach, Gott ſei Dank,“ wiſperte Tom, „ich kenne ſeine Stimme, 's iſt Bull Harbiſon.“
„Ach, das iſt mal gut! Ich ſag dir, Tom, ich war wirklich zu Tod erſchrocken! Meinte wahrhaftig, 's wär 'n fremder Hund.“
Der Hund heulte wieder. Die Herzen der Burſchen ſanken wieder in die Hoſen.
„Ach, verflucht, das iſt nicht Bull Harbiſon!“ flüſterte Huckleberry weinerlich.
Tom, zitternd vor Furcht, rappelte ſich auf und legte das Auge an die Lücke.
Der Ton ſeiner Stimme war erbarmungswürdig, als er jetzt flüſterte: „O, Huck, 's iſt ein fremder Hund —!“
„Schnell, Tom, ſchnell, wen von uns meint er?“
„Huck, er muß uns beide meinen! — Wir ſtehen dicht beieinander.“
„O, Tom, ich fürchte — wir ſind futſch! Ich rechne, wohin ich komme, darüber kann kein Zweifel ſein. Ich bin ſo ſchlecht, Tom!“
„Der Teufel hol's! Das kommt davon, wenn man Blindekuh ſpielt und alles tut, wovon der Lehrer ſagt, daß man's nicht tun ſoll! Ich wollt', ich wär ſo artig geweſen wie Sid — wenn ich's gekonnt hätte. Aber nein, ich mocht's nicht ſein! Aber wenn ich hier fortkomm', ich ſag' dir, ich werd' immer in die Sonntagsſchule gehen.“ Und Tom begann ein bißchen zu heulen.
„Du ſchlecht?“ Und Huckleberry heulte zur Geſellſchaft mit. „Ich ſag's dir, Tom, du biſt einfach Gold gegen mich! O, Gott, Gott, Gott — ich wollte, ich wäre nur halb ſo gut wie du!“
Tom fuhr zuſammen und flüſterte: „Schau, Hucky, ſchau nur! Er wendet uns ja den Rücken zu!“
Hucky ſchaute hinaus, und Freude erfüllte ſein Herz.
„Teufel, 's iſt ſo! Tat er's vorher auch ſchon?“
„Ja, er tat's, aber ich Dummkopf dachte nicht daran. Na, das iſt mal famos. Aber — wen kann er nur meinen?“
Das Heulen hörte auf. Tom ſpitzte die Ohren. „Pſcht —was iſt das?“
„'s klingt wie — wie Schweinegrunzen. Oder, Tom — doch nicht, 's ſchnarcht jemand.“
„Iſt's das? Wo aber, Hucky?“
„Ich glaub' dort, am anderen Ende. 's klingt wenigſtens ſo. Pop pflegt zuweilen da zu ſchlafen — mit den Schweinen, aber, Gott ſegne dich, er macht alles zittern, wenn er ſchnarcht. Und dann, ich rechne, hierher kommt er nicht zurück!“
Die Abenteuerluſt begann ſich in den Seelen der beiden Burſchen zu regen.
„Hucky, gehſt du mir nach, wenn ich vorangehe?“
„Sehr gern nicht, Tom! Denk, 's könnt Joe ſein!“
Tom zauderte. Aber ſofort regte ſich wieder die Verſuchung, und ſie beſchloſſen, den Verſuch zu wagen, unter dem Vorbehalt, daß ſie fliehen dürften, ſobald das Schnarchen aufhören würde. So gingen ſie auf den Fußſpitzen weiter, einer hinter dem anderen. Als ſie nur noch fünf Schritt von dem Schnarchenden entfernt waren, trat Tom auf einen Zweig, der mit lautem Knacken brach. Der Mann grunzte, wälzte ſich ein bißchen herum, das Mondlicht fiel, auf ſein Geſicht — es war Muff Potter. Die Herzen der Burſchen hatten ſtill geſtanden — wie ihre Leiber, als ſich der Mann rührte, aber jetzt war ihre Furcht vergangen. Sie ſchlichen zurück, ſchlüpften durch die geborſtene Mauer und blieben in einiger Entfernung ſtehen, um ſich zu verabſchieden, Das lange unheimliche Geheul erhob ſich wieder und klang durch die Nachtluft. Sie wandten ſich um und ſahen den fremden Hund wenige Schritt von der Stelle entfernt, wo Muff Potter lag, mit dem Kopf dieſem zugewandt, die Schnauze zum Himmel gerichtet.
„Herrje, den meint er!“ riefen beide in einem Atem.
„Sag, Tom, ſie ſagen, ein ſcheußlicher Köter ſoll um Johnny Millers Haus herumgeheult haben — vor mehr als zwei Wochen. Und dann hat ſich auch 'ne Eule auf das Dach geſetzt und da geheult, am ſelben Abend. Und da iſt doch bis heute noch keiner geſtorben!“
„Ja, ich weiß. Und ich mein', das beweiſt nichts. Fiel nicht am nächſten Samſtag Gracie Miller auf den Küchenherd und verbrannte ſich ſchrecklich?“
„Ja — aber ſie iſt doch nicht geſtorben. Noch mehr, ſie iſt bald wieder ganz geſund.“
„Schon recht, wart' nur und red' dann! Sie iſt futſch, ſo gewiß als Muff Potter dort futſch iſt! Die Neger ſagen's, und die wiſſen ſo was ganz genau, Hucky.“
Damit gingen ſie nachdenklich auseinander.
Als Tom in ſein Schlafzimmerfenſter ſchlüpfte, war die Nacht ſchon vorbei.
Er entkleidete ſich mit äußerſter Vorſicht und ſchlief ein, ſich beglückwünſchend, daß niemand etwas von ſeinem Streifzug gemerkt habe. Er hatte nicht geſehen, daß der brave, ſchnarchende Sid wach war — ſeit einer Stunde.
Als Tom aufwachte, war Sid bereits angezogen und fort. Das Licht draußen erſchien Tom ſo ſpät wie auch die Luft. Er ſtutzte. Warum hat man ihn nicht gerufen — da er doch um dieſe Zeit ſtets ſchon auf war? Der Gedanke fiel ihm ſchwer aufs Herz.
In fünf Minuten war er angekleidet und die Treppe hinunter, übel gelaunt und ſchläfrig. Die Familie ſaß noch um den Tiſch, hatte aber bereits gefrühſtückt.
Kein Tadel, aber abgewandte Geſichter. Tiefes Stillſchweigen und ein Hauch von Trauer; ſchwer laſteten ſie auf des Sünders Haupt. Er ſetzte ſich und tat ganz luſtig, aber es war ſehr ſchwer. Er bekam kein Lächeln, keine Antwort und verſank in Stillſchweigen, und ſein Herz verſank in die tiefſte Tiefe.
Nach dem Frühſtück nahm ihn ſeine Tante auf die Seite, und Tom atmete ordentlich auf, in der Hoffnung, daß er jetzt werde geprügelt werden; aber es ſollte anders kommen. Seine Tante vergoß Tränen über ihn und fragte ihn, wie er hingehen und ihr armes Herz brechen könne. Und ſchließlich ſagte ſie, er ſolle nur ſich ſelbſt ruinieren und ihre grauen Haare mit Kummer in die Grube fahren laſſen, denn ſie habe den Mut in bezug auf ihn nun verloren.
Dies war ſchlimmer als tauſend Prügel, und Toms Herz wurde noch ſchwerer, als es heute morgen geweſen. Er heulte, er bat um Verzeihung, verſprach Beſſerung wieder und immer wieder, und er erhielt ſchließlich ſeine Entlaſſung mit dem Gefühl, nur halbe Verzeihung und ſchwaches Vertrauen gefunden zu haben.
Er empfand die Gegenwart gar zu trübſelig, um ein Rachegefühl gegen Sid aufkommen zu laſſen. So war des letzteren eiliger Rückzug durch die Hintertür überflüſſig. Er ſchlich in düſterſter Gemütsverfaſſung zur Schule und empfing dort ſeine Prügel wegen des Schwänzens mit Joe Harper am vorigen Tage mit der Miene eines, deſſen Herz von ſchweren Kümmerniſſen belaſtet und ganz unempfindlich für Kleinigkeiten iſt. Dann verzog er ſich auf ſeinen Platz, ſtützte die Ellbogen auf den Tiſch und das Kinn auf die Hände und ſtarrte auf die Wand mit dem ſtarren Geſichtsausdruck des Leidens, das den höchſten Punkt erreicht hat und nun nicht mehr geſteigert werden kann. Sein Ellbogen drückte auf einen harten Gegenſtand. Nach langer Zeit änderte er ſchläfrig und gleichgültig ſeine Stellung und nahm den Gegenſtand in Augenſchein. Er war in Papier gewickelt. Er rollte das Papier auf. Ein langer, ſtarrer, verſchleierter Blick — und ſein Herz brach! Es war der wundervolle abgebrochene Knopf von geſtern! Dieſer letzte Tropfen machte das Gefäß überlaufen.
Kurz nach neun Uhr wurde das ganze Dorf durch die ſchreckliche Neuigkeit alarmiert. Obwohl ſich damals noch niemand etwas von einem Telegraphen träumen ließ, flog die Nachricht doch von Mund zu Mund, von Haus zu Haus, mit faſt telegraphiſcher Eile. Natürlich gab der Schullehrer für nachmittags frei. Man hätt's ihm ſehr übel genommen, hätte er's nicht getan. Ein blutiges Meſſer war bei der Leiche gefunden und durch ein paar Leute als das des Muff Potter rekognosziert worden — ſo hieß es. Und man ſagte ferner, ein verſpäteter Bürger habe Muff Potter in der Gegend des Verbrechens um ein oder zwei Uhr getroffen, wie er ſich in einem Waſſergraben wuſch, und Muff Potter ſei plötzlich ausgeriſſen — alles verdächtige Umſtände, beſonders das Waſchen, was ſonſt gar nicht zu Potters Gewohnheiten gehörte. Man ſagte auch, der Ort ſei nach dem „Mörder“ durchſucht (das Volk iſt nicht träge, belaſtende Momente zu ſuchen und zu einem Urteilsſpruch zu gelangen), daß er aber nicht gefunden worden ſei. Reiter waren nach allen Himmelsrichtungen ausgeſandt, und der Sheriff hatte die beſte Hoffnung, man werde ihn (nicht den Sheriff!) noch vor der Nacht erwiſcht haben.
Der ganze Ort war unterwegs nach dem Kirchhof. Toms Herzeleid ſchwand, und er ſchloß ſich der Prozeſſion an, nicht weil er nicht tauſendmal lieber anderswohin gegangen wäre, als vielmehr unter dem Zwang eines ſchrecklichen, unerklärlichen Antriebs. An dem gräßlichen Schauplatz angelangt, zwängte er ſeinen kleinen Körper durch die Menge und genoß den ganzen traurigen Anblick. Es ſchien ihm eine Ewigkeit, ſeit er hier geweſen. Jemand packte ſeinen Arm. Er fuhr herum, und ſein Blick traf auf Huckleberry. Dann ſahen beide wie auf Verabredung ſeitwärts und fürchteten, es möge ihnen jemand das Einverſtändnis vom Geſicht leſen können. Aber alles ſchwatzte durcheinander und achtete nur auf den ſchrecklichen Anblick vor ſich.
„Armer Burſche!“ „Armer, junger Burſche!“ „Eine Lehre für Leichenräuber!“ „Muff Potter muß hängen für das da, wenn man ihn erwiſcht!“ Das waren ſo die Bemerkungen, die fielen, und der Geiſtliche ſagte: „Es war ein Gericht. Seine Hand iſt hier ſichtbar!“ In dieſem Augenblick erſchauerte Tom von Kopf bis zu Fuß, denn ſeine Augen fielen auf des Indianer-Joes gleichgültiges Geſicht.
Die Menge begann zu flüſtern und zu tuſcheln. „Er iſt's, er iſt's! Er kommt!“
„Wo, wo?“ fragten zwanzig Stimmen. „Muff Potter! Hallo, er ſteht ſtill! Seht mal, er kommt hierher zurück! Laßt ihn nicht entwiſchen!“
Leute, die in den Zweigen der Bäume über Tom ſaßen, ſagten, er habe nicht den geringſten Verſuch gemacht, zu entſchlüpfen, er ſtand nur und ſchaute zweifelnd und wie erſtarrt um ſich.
„Teufliſche Frechheit!“ ſagte einer der Umſtehenden. „Wagt's, zurückzukommen und ſein Werk ganz ruhig zu betrachten! Hat wohl nicht gedacht, ſchon Geſellſchaft hier zu finden!“
Die Menge teilte ſich jetzt, und der Sheriff kam oſtentativ hindurchgeſchritten, Potter am Arm führend. Des armen Burſchen Geſicht ſah blaß aus, und aus ſeinen Augen ſprach die Furcht, die ihn beherrſchte. Als er vor dem Ermordeten ſtand, zuckte er wie unter einem Hieb zuſammen, verbarg das Geſicht in den Händen und brach in Tränen aus.
„Ich hab's nicht getan, Freunde.“ ſchluchzte er. „Auf Ehr' und Seligkeit, ich tat's nicht!“
„Wer hat dich denn angeklagt?“ ſchrie eine Stimme. Dieſer Hieb ſaß. Potter nahm die Hände vom Geſicht und ſchaute in ſichtbarſter Hilfloſigkeit um ſich. Er ſah Joe und rief aus: „O, Joe, du verſprachſt mir, niemals —“
„Iſt das Euer Meſſer?“ Und es wurde vom Sheriff vorgehalten.
Potter wäre umgefallen, wenn man ihn nicht aufgefangen und ihn auf die Erde niedergelaſſen hätte. Dann ſagte er: „Dacht' ich mir's doch, wenn ich nicht zurückkäme und —“, er ſchauderte. Dann erhob er ſeine kraftloſe Hand mit müder Gebärde und flüſterte: „Sag's ihnen, Joe, ſag's ihnen — 's iſt nichts mehr zu machen.“
Dann ſtanden Huckleberry und Tom ſtumm und ſtarr und hörten den kaltherzigen Lügner ganz gemütlich Bericht erſtatten; ſie erwarteten jeden Augenblick, Gottes Blitzſtrahl werde ihn treffen, und wunderten ſich, ihn ſolange unberührt ſtehen zu ſehen. Und nachdem er geendet hatte und geſund und heil blieb, dachten ſie nicht mehr daran, ihren Eid zu brechen und des armen Gefangenen Leben zu retten, denn es war zweifellos, daß Joe ſich dem Satan verſchrieben hatte, und es wäre wohl gefährlich geweſen, ſich mit einer ſolchen Macht einzulaſſen.
„Warum liefſt du nicht davon? Warum, zum Teufel, kamſt du hierher zurück?“
„Konnt' nicht anders — ich konnt' nicht anders,“ ſtöhnte Potter. „Ich wollt' wohl fortlaufen, aber ich konnt' nirgends hinkommen als hierher!“
Und er fing wieder an zu ſchluchzen.
Joe wiederholte ſeinen Bericht, ebenſo ruhig, ein paar Minuten ſpäter und beſchwor ihn auf Verlangen, und die Burſchen, die den Lichtſtrahl immer noch nicht hervorbrechen ſahen, wurden dadurch in ihrem Glauben, daß er einen Pakt mit dem Teufel geſchloſſen habe, noch mehr beſtärkt. Er war mit einem Schlage für ſie der Gegenſtand des unheimlichſten Intereſſes geworden, wie nichts anderes, und ſie konnten die bezauberten Blicke nicht von ihm wenden. Sie beſchloſſen innerlich, ihn nachts, wenn ſich einmal die Gelegenheit böte, zu belauern, in der Hoffnung, ſeines ſchrecklichen Herrn und Meiſters anſichtig zu werden.
Joe half den Körper des Ermordeten aufheben und auf einen Karren laden, um ihn fortzuſchaffen. Und es ging ein Flüſtern durch das ſchaudernde Volk, daß die Wunde ein wenig zu bluten anfinge! Die Knaben hofften, dieſer glückliche Umſtand werde den Verdacht in die wahre Richtung lenken. Aber ſie waren enttäuſcht, als mehrere der Leute ſagten: „Er war nur drei Schritt von Muff Potter entfernt, als es geſchah.“
Toms ſchreckliches Geheimnis, ſeine furchtbare Mitwiſſerſchaft ſtörte ſeinen Schlaf während mehr als einer Woche; und eines Morgens beim Frühſtück ſagte Sid:
„Tom, du wirfſt dich im Schlaf herum und ſprichſt ſo viel, daß du mich die halbe Nacht wach erhältſt.“
Tom erbleichte und ſenkte die Augen.
„'s iſt ein böſes Zeichen,“ ſagte Tante Polly mit Nachdruck. „Was haſt du auf dem Herzen, Tom?“
„Nichts — nichts — ich weiß nicht.“ Aber ſeine Hand zitterte ſo, daß er ſeinen Kaffee verſchüttete.
„Und du ſchwatzt ſolchen Unſinn,“ fuhr Sid fort. „In der letzten Nacht ſagteſt du: ‚'s iſt Blut, 's iſt Blut, nichts als Blut.‘ Du ſagteſt das immer wieder. Und dann ſagteſt du: ‚Ängſtigt mich nicht — ich will alles ſagen.‘ Sagen — was? Was willſt du ſagen?“
Tom ſchwamm alles vor den Augen. Es iſt nicht zu ſagen, was geſchehen ſein würde, wenn nicht plötzlich die Spannung aus Tante Pollys Geſicht gewichen wäre und ſie Tom, ohne es zu wiſſen, zu Hilfe gekommen wäre. Sie ſagte: „Kann mir's denken! Der ſchreckliche Mord iſt's. Ich ſelbſt träume jede Nacht davon. Manchmal träum' ich, ich ſelbſt hätt's getan.“
Mary ſagte, ſie wäre gerade ſo angegriffen davon. Sid ſchien befriedigt. Tom ging aus der Affäre ſo beruhigt hervor, als es nur immer möglich war, ſimulierte während einer Woche Zahnſchmerzen und band ſich jede Nacht die Backen feſt zu. Er wußte nicht, daß Sid wachte und des öfteren die Bandage lockerte und dann, auf den Ellbogen geſtützt, eine gute Weile lauerte, dann wieder alles in Ordnung brachte und ſich hinlegte. Toms Gemütsverſtimmung wich nach und nach, und die Zahnſchmerzen begannen ihm läſtig zu werden und wurden ganz abgeſchafft. Wenn es Sid gelungen war, etwas von Toms unbewußtem Murmeln aufzufangen, ſo behielt er es jedenfalls für ſich. Tom ſchien es, als könnten ſeine Schulkameraden nicht oft genug Totenſchau über Katzen halten und dadurch ſeine Erinnerung immer wieder auffriſchen. Sid fiel auf, daß Tom niemals den Beſchauer ſpielen wollte, obwohl er ſonſt doch gewöhnt war, bei allem den Führer abzugeben; er merkte auch, daß Tom ſich nie unter den Zeugen befand — und das war auffallend. Schließlich entging Sid durchaus nicht die entſchiedene Abneigung Toms gegen dieſe ganze Spielerei, und ſeine Bemühungen, ihr aus dem Wege zu gehen. Sid grübelte darüber, ſagte aber nichts. Indeſſen, ſchließlich ſchwand alle Unruhe und hörte auf, Toms Geiſt zu quälen.
Jeden Tag oder doch jeden zweiten in dieſer traurigen Zeit paſſte Tom auf eine Gelegenheit, um zu dem kleinen Gitterfenſter zu laufen und allerhand kleine Annehmlichkeiten für den „Mörder“ hineinzuſchmuggeln. Das Gefängnis war ein trübſeliges, kleines, halbverfallenes Loch und ſtand in einem Sumpfe außerhalb des Dorfes. Wärter waren nicht aufgeſtellt, denn es hatte ſelten Gäſte zu beherbergen. Dieſe Geſchenke halfen ſehr dazu, Toms Gemüt aufzuheitern. Die Dörfler hatten nicht übel Luſt, Joe beim Kragen zu nehmen und ihm wegen der Leichenberaubung den Prozeß zu machen, aber ſo furchtbar war ſein Ruf, daß niemand ſich fand, der Luſt gehabt hätte, die Sache zu übernehmen. So wurde ſie denn unterlaſſen. Vorſichtigerweiſe hatte Joe bei ſeinen Geſtändniſſen jedesmal gleich mit der Rauferei begonnen, ohne über die vorhergegangene Leichenberaubung ein Wort zu verlieren. Daher ſchien es das weiſeſte, wenigſtens vorläufig die Angelegenheit nicht vor Gericht zu ziehen.
Einer der Gründe, die Toms Geiſt von ſeiner geheimen Erregung abgezogen hatten, war, daß er einen neuen und wichtigen Gegenſtand des Intereſſes fand. Becky Thatcher hatte aufgehört, zur Schule zu kommen. Tom hatte mehrere Tage mit ſeinem Stolze gekämpft und verſucht, ſie „unter den Wind zu bekommen,“ aber vergeblich. Er ertappte ſich dabei, wie er um ihres Vaters Haus herumſtrich, nachts, und ſich dabei ſehr unglücklich fühlte. Sie war krank. Wie, wenn ſie ſterben mußte! In dem Gedanken war Verzweiflung. Er hatte kein Vergnügen mehr am Kriegspielen, nicht einmal mehr an ſeinem Piraten-Beruf. Der Glanz des Lebens war dahin, nichts als Finſternis war geblieben. Er ließ ſeinen Reifen liegen und ſeinen Bogen; er hatte keinen Spaß mehr daran. Seine Tante war beunruhigt. Sie fing an, allerhand Medizinen an ihm zu probieren. Sie gehörte zu den Leuten, die auf jede Medizin ſchwören und alle neu erfundenen Heilmethoden. Sie war unermüdlich in ihren Experimenten. Sobald ſie von etwas Neuem in der Branche hörte, brannte ſie darauf, es zu probieren; nicht an ſich ſelbſt, denn ſie war nie leidend; aber am erſten beſten, der ihr in die Hände fiel. Sie war Abonnentin ſämtlicher „Heil“-Zeitſchriften und jedes gedruckten, wiſſenſchaftlichen Betruges; den größten Unſinn, mit dem nötigen feierlichen Ernſt vorgetragen, nahm ſie wie ein Evangelium auf in ihrer Unwiſſenheit. Alle Abhandlungen über Ventilation, das Zubettgehen und Aufſtehen, Eſſen und Trinken, über das Maß der nötigen Bewegung, die Gemütsverfaſſung, die Art der Kleidung, erſchienen ihr einfach einwandfrei, und ſie merkte gar nicht, daß die Geſundheits-Journale des laufenden Monats gewöhnlich all das widerriefen, was ſie im Monat vorher empfohlen hatten. Sie war einfachen Herzens und ſo ehrenhaft, wie der Tag lang iſt, und ſo war ſie ein leichtes Opfer. Sie ſammelte ihre prahleriſchen Zeitſchriften mit den Quackſalber-Medizinen, und ſo gewaffnet, ritt ſie, den Tod hinter ſich, auf ihrem fahlen Pferd, „die Hölle hinter ſich,“ um eine Metapher zu brauchen. Aber ſie argwöhnte niemals, daß ſie nicht ein Engel der Geneſung und der Balſam des Herrn in Perſon für die leidende Nachbarſchaft ſei.
Die Waſſerbehandlung war neu und Toms übles Befinden kam ihr wie gerufen. Jeden Morgen in aller Frühe wurde er herausgeholt, in einen Holzſchuppen geſchleppt und mit einer Sintflut kalten Waſſers überſchüttet. Dann rieb ſie ihn trocken mit einem Handtuche, gleich einer Feile, und er wurde zurücktransportiert. Darauf wurde er in ein naſſes Tuch gerollt und wieder unter ſeine Bettdecke geſtopft, bis er ſchwitzte, wie eine Seele im Fegfeuer, und „ihre Schmutzflecken drangen durch alle Poren heraus,“ wie Tom ſagte. Indeſſen, alledem zum Trotz, wurde der Junge immer melancholiſcher, niedergeſchlagener und gleichgültiger. Sie fügte heiße Bäder, Sitzbäder, Gießbäder und Sturzbäder hinzu. Der Junge blieb leblos wie eine Leiche. Sie begann das Waſſer mit Blaſen ziehenden Haferſchleimpflaſtern zu verſetzen. Sie überlegte ſeine Aufnahmefähigkeit und füllte ihn wie einen Krug täglich mit allen möglichen quackſalberiſchen Mittelchen an.
Tom war allmählich gegen all dieſe Verfolgungen gleichgültig geworden. Dieſer Zuſtand erfüllte der alten Dame Herz mit Entſetzen. Dieſe Gleichgültigkeit mußte um jeden Preis gebrochen werden. Zu dieſer Zeit gerade vernahm ſie vom „Schmerzentöter“. Sie ordnete ſofort täglich ein Lot an. Sie verſuchte es ſelbſt und war ſehr befriedigt davon. Es war wie Feuer in flüſſiger Form. Sie ließ die Waſſerkur und alle anderen Methoden und beſchränkte ſich auf den Schmerzentöter. Sie gab Tom einen Teelöffel und wartete ängſtlich auf die Wirkung. Ihre Unruhe war mit einem Schlage zu Ende, ihr Geiſt hatte wieder Frieden. Denn die „Gleichgültigkeit“ war gebrochen. Der Burſche hätte kein wilderes, mehr von Herzen kommendes „Intereſſe“ zeigen können, wenn ſie ein Feuer unter ihm angezündet hätte.
Tom fühlte, daß es Zeit war, aufzuwachen. Dieſe Lebensweiſe hätte ja ganz romantiſch ſein können, war aber nachgerade zu anſtrengend und zu eintönig. So grübelte er über verſchiedenen Plänen ſeiner Befreiung und verfiel ſchließlich darauf, ſich als Freund des Schmerzentöters zu bekennen. Er verlangte ſo oft danach, daß er läſtig wurde, und ſeine Tante ihm ſchließlich befahl, ſich ſelbſt zu helfen und ſie in Ruhe zu laſſen. Wäre es Sid geweſen, kein Schatten würde ihre Freude getrübt haben; da es aber Tom war, beobachtete ſie die Flaſche mit Aufmerkſamkeit. Sie fand, daß die Medizin beſtändig weniger wurde, es fiel ihr aber nicht ein, daß der Junge eine Bodenritze im Speiſezimmer damit anfüllte.
Eines Tages war Tom wieder bei dieſer Arbeit, als Tante Pollys gelbe Katze des Weges kam, ſchnurrend, den Teelöffel begehrlich betrachtete und um ein bißchen bettelte. Tom ſagte zu ihr: „Bitt nicht drum, wenn du's nicht brauchſt, Peter!“
Aber Peter gab zu verſtehen, er habe es nötig.
„Überleg's noch mal.“
Peter blieb dabei.
„Na, du haſt drum gebeten, und ich will's dir geben; aber wenn's dir nicht gefällt, darfſt du niemand Vorwürfe machen als dir ſelbſt.“
Peter war einverſtanden; ſo öffnete Tom ſeine Schnauze und goß den Schmerzenztöter hinein. Peter machte einen Rieſenſatz in die Luft, ſtieß ein Kriegsgeheul aus und fuhr immer rund im Kreiſe herum durchs Zimmer, gegen Möbel ſtoßend, Blumentöpfe umwerfend, kurz, lauter Verwirrung anrichtend. Dann erhob er ſich auf die Hinterbeine und tanzte ſinnlos vor Vergnügen herum, den Kopf über die Schultern zurückgeworfen, mit einer Stimme, aus der grenzenloſes Behagen klang. Tante Polly kam gerade noch rechtzeitig herein, um ſie mit einem letzten Hurra durchs Fenſter fliegen zu ſehen, mit ihr die Reſte der Blumentöpfe. Die alte Dame ſtand ſtarr vor Erſtaunen, über ihre Brillengläſer hinwegſchauend. Tom lag auf der Erde und krümmte ſich vor Lachen.
„Tom, was um des Himmels willen fehlt der Katze?“
„Ich weiß nicht,“ ſtöhnte der Junge.
„So was hab' ich doch noch nicht geſehen! Was kann ſie haben?“
„In der Tat, ich weiß nicht, Tante. Katzen tun immer ſo, wenn ſie vergnügt ſind.“
„Tun ſie — wirklich?“ Es war etwas in dem Ton, was Tom ſtutzen machte.
„Hm — ja. Das heißt — ich meine, ſie tun's.“
„Du meinſt?“
„Hm — ja —“
Die alte Dame bückte ſich, Tom wartete mit ängſtlichem Intereſſe. Zu ſpät entdeckte er ihre Liſt. Der Griff des Teelöffels war unter der Tiſchdecke ſichtbar. Tante Polly zog ihn heraus und hielt ihn in die Höhe. Tom fuhr zuſammen und ſenkte die Augen. Tante Polly hob ihn an dem gewöhnlichen Henkel — ſeinem Ohr — in die Höhe und klopfte ihm mit ihrem Fingerhut tüchtig auf den Kopf.
„Nun, ſag' mal, wozu mußt du das arme Tier ſo quälen?“
„Ich hab's ja aus Mitleid getan — weil ſie keine Tante hat.“
„Hat keine Tante! Hansnarr! Was hat das hier zu tun?“
„'ne Menge. Denn hätt' ſie eine gehabt, ſo würd' ſie ſelbſt 's ihm gegeben haben! Sie hätt' ihr die Gedärme rausgeröſtet, ohne mehr zu fühlen, als wenn's ein Menſch geweſen wäre!“
Tante Polly fühlte plötzlich Gewiſſensbiſſe. Das ſetzte die Sache in ein neues Licht. Was grauſam war gegen eine Katze, mußte auch gegen einen kleinen Burſchen grauſam ſein. Sie begann, zu ſeufzen, ſie fühlte ſich traurig. Ihre Augen wurden ein bißchen feucht, ſie legte die Hand auf Toms Kopf und ſagte freundlich:
„Ich hab's gut gemeint, Tom. Und Tom, es hat dir genützt!“
Tom ſchaute zu ihr auf mit ein bißchen Schelmerei in ſeinem Ernſt und ſagte:
„Ich weiß wohl, Tante, daß du's gut meinteſt, und ich meinte es gut mit Peter. Es tat ihm auch gut! Ich hab' ihn nie ſo luſtig rumlaufen geſehen —“
„Na, mach, daß du weiter kommſt, Tom, ehe du mich wieder ärgerſt. Und verſuch doch mal 'n braver Junge zu ſein, und du brauchſt auch keine Medizin mehr zu nehmen.“
Tom kam ſehr frühzeitig zur Schule. Es war bekannt geworden, daß dieſes ſehr ſeltene Ereignis in letzter Zeit jeden Tag ſich zugetragen hatte. Und dann, wie ſeit kurzem ſtets, lungerte er am Tor des Schulhofes, ſtatt mit ſeinen Kameraden zu ſpielen. Er ſagte, er wäre krank, und er ſah auch ſo aus. Er ſtellte ſich, als ſähe er überall hin, wohin ſeine Blicke tatſächlich beſtändig gerichtet waren — die Straße hinunter. Plötzlich kam Jeff Thatcher in Sicht und Toms Miene hellte ſich aus. Er ſpähte einen Augenblick angeſtrengt und wandte ſich dann betrübt ab. Als Jeff ankam, hielt ihn Tom an und ſuchte ihn geſchickt über Becky auszuholen, aber der herzloſe Jeff tat, als ſähe er den Köder gar nicht. Tom wartete und wartete, hoffend, ſobald ein wehender Rock in Sicht kam und die Inhaberin deſſelben verwünſchend, ſobald er ſah, daß es nicht die Rechte war. Schließlich erſchienen keine Röcke mehr, und er verfiel in hoffnungsloſen Trübſinn. Dann auf einmal kam doch noch ein Rock durchs Tor herein, und Toms Herz tat einen mächtigen Sprung. Im nächſten Moment war er draußen und ſchoß drauf los wie ein Indianer, ſpringend, lachend, Buben ſtoßend, mit Riſiko von Leib und Leben über den Zaun ſetzend, Purzelbäume machend, auf dem Kopf ſtehend — kurz, lauter heroiſche Dinge verrichtend und fortwährend hinüber ſchielend, ob Becky Thatcher ihn beobachtete. Aber ſie ſchien von alledem gar nichts wahrzunehmen; ſie ſchaute nicht hin. War es möglich, daß ſie ſeine Anweſenheit wirklich nicht bemerkt hatte? Er betrieb ſeine Kunſtſtücke in ihrer unmittelbaren Nähe; fuhr, ein Kriegsgeheul ausſtoßend, um ſie herum, ſchlug einem Jungen die Mütze herunter, ſchleuderte ſie auf den Schulhof, brach durch eine Gruppe, ſie nach allen Richtungen auseinanderſprengend und fiel dabei ſelbſt gerade Becky vor die Naſe hin, ſie faſt umſtoßend — ſie wandte ſich ab, das Näschen rümpfend, und er hörte ſie ſagen:
„Pa! Einige Burſchen kommen ſich ſchon ſehr wichtig vor — immer müſſen ſie ſich breit machen!“
Tom wurde blutrot. Er rappelte ſich auf und trollte davon, zermalmt und mutlos.
Tom zögerte nun nicht länger. Ihn erfüllte ein finſterer, verzweifelter Gedanke. Er wäre ein verlaſſener, freundloſer Junge dachte er. Niemand liebte ihn. Wenn ſie merken würden, wozu ſie ihn getrieben, würden ſie vielleicht betrübt ſein. Er hatte verſucht, das Rechte zu tun und brav zu werden, aber man ließ ihn nicht. Da man ſich durchaus von ihm befreien wollte, mochte es ſo ſein. Und man würde ihn für die Folgen verantwortlich machen — warum auch nicht? Welches Recht haben Freundloſe, ſich zu beklagen? Ja, ſie hatten ihn zum äußerſten getrieben, er würde ein Leben voll Verbrechen führen; 's gab keine Wahl. — Inzwiſchen war er weit hinunter zu „Meadow-Land“ gekommen, und die Schulglocke tönte lockend an ſein Ohr — ſie wollte ihn wohl zurückhalten. Er ſeufzte bei dem Gedanken, nie, nie wieder den alt-vertrauten Ton hören zu ſollen — es war ſehr hart, aber mußte ſein; da er in die kalte Welt hinausgetrieben war, mußte er ſich unterwerfen — aber er vergab ihnen! Dann kamen Tränen — ſchwer und bitter.
Gerade in dieſem Augenblick begegnete ihm ſein Herzensfreund Joe Harper — mit trüben Augen und zweifellos einen großen, ſchrecklichen Entſchluß im Herzen. Offenbar waren hier „zwei Seelen und ein Gedanke.“ Tom ſeine Augen mit dem Ärmel trocknend, begann etwas herauszuſtottern von einem Entſchluß, aus grauſamer und liebloſer Behandlung zu fliehen, in die weite Welt zu gehen und nie wiederzukommen und ſchloß damit, daß er hoffe, Joe werde ihn nicht vergeſſen.
Aber es zeigte ſich, daß Joe im Begriff geweſen, an Tom das gleiche Verlangen zu ſtellen und ihn zu dieſem Zweck geſucht hatte. Seine Mutter hatte ihn gezüchtigt, weil er Rahm getrunken haben ſollte, den er nie geſehen, von dem er überhaupt gar nichts wußte; es war klar, ſie mochte ihn nicht mehr und wollte nichts von ihm wiſſen, ſie wollte ihn einfach los ſein. Da ſie es ſo wollte, war für ihn nichts zu tun, als nachzugeben. Er hoffte, ſie würde glücklich ſein und nie bereuen, daß ſie ihren armen Jungen in die fühlloſe Welt hinausgetrieben hatte, zu leiden und zu ſterben.
Indem die beiden Burſchen trübſelig weiterſchlichen, machten ſie einen neuen Bund, einander beizuſtehen, Brüder zu ſein und ſich nie zu trennen, bis ſie der Tod einſt von ihren Kümmerniſſen erlöſen werde. Dann begannen ſie Pläne zu ſchmieden. Joe war dafür, Eremit zu werden, in einer elenden Hütte aus Stroh zu liegen und einmal vor Kälte, Mangel und Kummer zu ſterben. Aber, nachdem er Tom angehört hatte, ſah er ein, daß ein Verbrecherleben voll von aufregenden Abenteuern vorzuziehen ſei und ſtimmte zu, Pirat zu werden.
Drei Meilen unterhalb St. Petersburgs, an einem Fluß, wo der Miſſiſſippi die Kleinigkeit von einer Meile Breite hatte, war eine lange, ſchmale, bewaldete Inſel, mit einer Sandbank an der Spitze, die wählten ſie als Rendezvouzplatz aus. Sie war unbewohnt, lag fern der heimatlichen Küſte, gegenüber einem dichten und völlig unbewohnten dickichtartigen Walde. So wurde die Jackſon-Inſel gewählt. Wer der Gegenſtand ihrer Seeräuberei ſein ſollte, war eine Frage, die ſie weiter nicht bekümmerte. Dann ſuchten ſie Huckleberry Finn auf, und er verband ſich ihnen ſofort, denn ihm war jede Karriere recht; er war einverſtanden. Sie trennten ſich einſtweilen, um ſich an einer einſamen Stelle auf der Sandbank, zwei Meilen oberhalb des Dorfes um ihre Lieblingsſtunde, das heißt, um Mitternacht, wieder zu treffen. Es befand ſich dort ein kleines Holzfloß, das ſie zu kapern beſchloſſen. Jeder ſollte Haken und Stricke mitbringen und ſolchen Proviant, den er auf möglichſt unauffällige und geheime Weiſe würde ſtehlen können — wie es ſich für Ausgeſtoßene ſchickt. Und bevor noch der Nachmittag um war, hatten ſie ſich den Genuß verſchafft, das Gerücht auszuſtreuen, das Dorf werde ſehr bald „was hören“. Alle, denen dieſe geheimnisvolle Mitteilung wurde, hatte man gebeten, „den Mund zu halten und zu warten.“
Gegen Mitternacht kam Tom mit einem gekochten Schinken und ein paar Kleinigkeiten an und blieb in dichtem Geſtrüpp auf einem kleinen Ufervorſprung ſtehen, den Platz der Zuſammenkunft überſchauend. Es war ſternklar und totenſtill, der gewaltige Strom lag ruhig — gleich einem Ozean. Tom lauſchte einen Augenblick, aber kein Ton ſtörte die Stille. Dann ließ er ein langgezogenes, beſonderes Pfeifen hören. Es wurde von unten beantwortet. Tom pfiff nochmals; auch dieſes Signal wurde ebenſo erwidert. Dann ſagte eine vorſichtige Stimme:
„Wer iſt da?“
„Tom Sawyer, der ‚ſchwarze Rächer des ſpaniſchen Meeres’. Nennt eure Namen!“
„Huck Finn, ‚der Bluthändige‘ und Joe Harper, ‚der Schrecken der Meere‘.“ Tom hatte dieſe Namen aus ſeinen Lieblingsbüchern gewählt.
„'s iſt gut. Gebt die Loſung!“
Zwei heiſere Stimmen ſtießen dasſelbe ſchreckliche Wort gleichzeitig in die betrübende Nacht hinaus: „Blut!“ Darauf rollte Tom ſeinen Schinken über den Abhang und ließ ſich ſelbſt ebenſo hinunter, bei dem Experiment Kleider und Haut in Mitleidenſchaft ziehend. Es gab zwar einen bequemen, leichten Weg die Küſte entlang bis unterhalb des Ufervorſprungs, aber er ermangelte der Anregung durch Schwierigkeit und Gefahr, die doch ſo wertvoll ſind für einen Seeräuber.
Der ‚Schrecken der Meere‘ hatte eine Speckſeite mitgebracht und hatte ſich mit dem Hierherſchleppen faſt ausgerenkt. Finn, ‚der Bluthändige‘, hatte einen kleinen Keſſel geſtohlen und eine Quantität halb trockene Tabakblätter, auch ein paar Maiskolben, um Pfeifen daraus zu machen. Aber keiner der Piraten rauchte oder kaute — außer er ſelbſt. Der ‚ſchwarze Rächer des ſpaniſchen Meeres‘ ſagte, man könne ohne Feuer nichts anfangen. Das war ein weiſer Gedanke; Zündhölzer waren zu der Zeit noch völlig unbekannt. Sie ſahen ein Feuer flackern auf einem großen Floß, hundert Meter oberhalb, ſchlichen heimlich hin und ſetzten ſich in den Beſitz einer Fackel. Sie machten eine bedeutende Unternehmung daraus, alle Augenblicke „Pſt!“ ſagend und dann und wann plötzlich innehaltend und den Finger an die Lippen legend; markierten Dolchſtöße und gaben Befehle in düſterſtem Tone, daß, wenn der Feind angriffe, er eins haben ſolle, denn „ein toter Mann verrät nichts.“ Sie wußten allerdings ganz gut, daß die Schiffer alle im Dorfe unten ſeien, um zu ſchlafen oder zu trinken, das war aber kein Grund für ſie, dieſe Sache in nicht ſeeräubermäßiger Weiſe zu betreiben.
Sie fuhren ſogleich ab, Tom kommandierend, Huck am Hinterteil, Joe vorn ſitzend. Tom ſtand in der Mitte, lichtbeſchienen und mit verſchränkten Armen und gab mit lauter, ſtrenger Stimme ſeine Befehle.
„Laviert und bringt's Schiff vor den Wind!“
„Ganz recht, Herr!“
„Tüchtig, tüch—tig!!“
„Wohl, wohl, Herr.“
„'nen Strich abfallen laſſen!“
„Abgefallen iſt, Herr!“
Wie ſie ſo beſtändig und eintönig in der Mitte des Stromes dahintrieben, war es ſelbſtverſtändlich, daß dieſe Befehle nur der Form wegen gegeben wurden und in Wirklichkeit an niemand gerichtet waren.
„Was für Segel führt's Schiff?“
„Hauptſegel, Toppſegel und Klüverſegel, Herr.“
„Bramſegel rauh! Bringt's vor den Wind, ſechs von euch an die Vortopmarsſegel! Vorwärts, Leute, luſtig!!“
„Ho, ho, Herr!“
„Marsſegel runter! Schoten und Braſſen! Vor — wärts, Jungens!“
„Ho, ho, Herr!“
Das Floß trieb in der Mitte des Stromes. Die Jungen legten ſich zurecht und lagen dann ſtill auf dem Ohr. Der Fluß ging nicht ſo hoch, ſo machten ſie nicht mehr als zwei bis drei Meilen. Während der nächſten dreiviertel Stunden wurde kein Wort geſprochen. Jetzt kam das Floß dem Dorf gegenüber vorbei. Zwei oder drei Lichtpunkte zeigten, wo es lag, friedlich ſchlafend, dicht an der breiten Fläche des lichtbeſchienenen Fluſſes, ohne Ahnung von dem Unerhörten, das ſich hier zutrug. Der ‚ſchwarze Rächer‘ ſtand unbeweglich, die Arme gekreuzt, den letzten Blick auf den Schauplatz ſeiner glücklichen Jugend und ſeiner letzten Leiden werfend und in dem Wunſche, „ſie“ könnte ihn hier ſehen, draußen auf der wilden See, Gefahr und Tod mit furchtloſem Herzen ins Angeſicht ſehend, mit einem grimmigen Lächeln auf den Lippen ſeinem Schickſal entgegengehend. Es war nur eine Kleinigkeit für ſeine Einbildungskraft, Jackſons Inſel aus dem Geſichtskreiſe des Dorfes fortzudenken, und ſo konnte er den letzten Blick mit gebrochenem, aber befriedigtem Herzen hinüberſenden. Die anderen Piraten nahmen gleichfalls Abſchied. Und ſie alle ſchauten ſolange, daß ſie nahe daran waren von der Strömung aus dem Bereich der Inſel getrieben zu werden. Aber ſie entdeckten die Gefahr noch rechtzeitig und trafen Vorkehrungen, ſie abzuwenden. Um zwei Uhr morgens landete das Floß auf der Sandbank, zweihundert Meter oberhalb der Spitze der Inſel, und ſie wanderten hin und her, bis ſie ihre Ladung geborgen hatten. Zu dem kleinen Floße gehörte auch ein altes Segel, das ſpannten ſie in den Büſchen an einer abgelegenen Stelle auf, um ihre Vorräte darunter zu bergen. Sie ſelbſt aber wollten bei gutem Wetter in freier Luft ſchlafen, wie es Ausgeſtoßenen ziemt.
Sie machten ein Feuer an zwanzig bis dreißig Fuß im tiefſten Schatten des Waldes und kochten dann ein paar Kleinigkeiten als Abendeſſen in ihrer Bratpfanne und verzehrten die Hälfte des mitgebrachten Schinkens.
Es ſchien ihnen herrlich, in dieſer wild-ungebundenen Weiſe im jungfräulichen Wald eines unentdeckten und unbewohnten Eilandes zu ſchmauſen, fern von den Hütten der Menſchen, und ſie nahmen ſich vor, nie wieder in die Ziviliſation zurückzukehren. Das flackernde Feuer erhellte ihre Geſichter und warf ſeinen roten Schein auf die Baumſäulen ihres Waldtempels und auf das Laubwerk und das Gewirr der Schlinggewächſe. Als die letzte Schinkenkruſte den Weg alles Eßbaren gegangen war, ſtreckten ſich die Burſchen auf dem Graſe aus, erfüllt von Behagen. Sie hätten einen kühleren Platz finden können, aber ſie wollten ſich nicht eines ſo romantiſchen Vergnügens berauben, wie es das praſſelnde Lagerfeuer ihnen bot.
„Iſt's nicht nett!“ fragte Joe.
„Herrlich iſt's!“ beſtätigte Tom.
„Was würden die Jungs ſagen, wenn ſie uns ſehen könnten?“
„Sagen? Na, die würden doch gleich ſterben, um hier ſein zu können — nicht, Hucky?“
„Denk wohl,“ brummte Hucky. „Mir paßt's ſchon. Möchte nirgends ſein als hier. Hab' niemals genug zu eſſen gehabt — und hier kann niemand kommen und einen für 'nen Landſtreicher nehmen und anfahren.“
„'s iſt gerad ein Leben für mich,“ bekräftigte Tom. „Man braucht morgens nicht aufſtehen, braucht nicht zur Schule zu gehen, ſich nicht zu waſchen und ähnliche Dummheiten.“
„Du ſiehſt, Joe, ein Pirat braucht nichts zu tun, wenn er zu Hauſe iſt, aber ein Einſiedler, der muß immerfort beten, und dann darf er keinen Scherz treiben, und immer ſo allein!“
„O, 's iſt ſo,“ ſagte Joe, „aber ich hatt' nicht dran gedacht — weißt du. Ich bin ein gut Teil lieber Pirat, als daß ich's damit verſucht hätte.“
„Du mußt wiſſen,“ fuhr Tom fort, „Einſiedler werden die Menſchen nicht mehr ſo viel wie früher, aber vor 'nem Piraten haben ſie immer Reſpekt. Und ein Einſiedler muß auf der härteſten Stelle, die er finden kann, ſchlafen und ſich den Kopf mit Sackleinwand und Aſche bedecken und draußen im Regen ſtehen und —“
„Warum muß er Sackleinwand und Aſche auf den Kopf tun?“ fragte Huck.
„Weiß ſelbſt nicht. Aber 's iſt beſtimmt ſo. Einſiedler tun's immer. Du müßteſt's auch tun, wenn du 'n Einſiedler wärſt.“
„Heißt, wenn ich's möcht'.“
„Na, was wollteſt du denn tun?“
„Das weiß ich nicht. Aber ich tät's nicht!“
„Na, Hucky, du mußt's! Wie wollteſt du dich drum drücken?“
„Weil ich's halt einfach nicht täte. Ich lief fort — glaub' ich.“
„Lief fort! Na, du würdeſt ein ſchöner Kerl von 'nem Einſiedler ſein! 'ne Schande!“
Der ‚Bluthändige‘ gab keine Antwort, er hatte Beſſeres zu tun. Eben hatte er einen Maiskolben fertig ausgehöhlt, tat jetzt Tabakblätter hinein, drückte eine glühende Kohle drauf, machte aus einem Binſenrohr einen Stiel und ſtieß dicke Rauchwolken hervor; er befand ſich im Zuſtand ausſchweifendſten Behagens.
Plötzlich ſagte Huck: „Was haben Piraten zu tun?“
„O, die haben zuweilen luſtige Zeiten,“ belehrte Tom, „nehmen Schiffe weg und verbrennen ſie, vergraben alles Gold daraus an einer unheimlichen Stelle ihrer Inſel, wo Geiſter und ſolche Dinger ſie bewachen, und töten alle auf dem Schiff — laſſen ſie über 'ne Planke ſpringen.“
„Und ſie ſchleppen die Frauen auf ihre Inſel,“ ſagte Joe, „die Frauen töten ſie nicht.“
„Nein,“ ſtimmte Tom zu, „ſie töten keine Frauen — dazu ſind ſie zu edel, Und dann ſind die Frauen auch immer wunderſchön, immer!“
„Und tragen die aller-allerſchönſten Kleider. Lauter Gold und Diamanten,“ ſagte Joe wieder mit Begeiſterung.
„Wer?“ fragte Huck.
„Na — die Piraten.“
Huck beſchaute kritiſch ſeine eigenen Kleider. „Ich ſchätze, ich wäre für 'nen Piraten zu ſchlecht gekleidet,“ ſagte er mit traurigem Pathos, „aber ich hab' keine anderen als dieſe.“
Aber die anderen beiden tröſteten ihn damit, daß die ſchönen Kleider früh genug kommen würden, wenn ſie nur erſt mal ihr Abenteuerleben begonnen haben würden; ſie machten ihm begreiflich, daß ſeine Lumpen es für den Anfang ſchon täten, obwohl es für beſſere Piraten ſich ſchickte, in anſtändigerer Garderobe zu erſcheinen.
Allmählich wurde die Unterhaltung einſilbig und Müdigkeit begann ſich auf die Augenlider der kleinen Landſtreicher zu ſenken. Die Pfeife entfiel den Fingern des ‚Bluthändigen‘, und er ſchlief den Schlaf des Gerechten und des Müden.
Der ‚Schrecken des Meeres‘ und der ‚ſchwarze Rächer des ſpaniſchen Meeres‘ kamen nicht ſo leicht zum Schlafen. Sie ſagten ihr Abendgebet innerlich und legten ſich nieder, da niemand hier war, deſſen Autorität ſie hätte zwingen können, niederzuknien und es laut zu ſprechen. In Wahrheit hatten ſie Luſt, es überhaupt nicht zu ſprechen, aber ſie hatten doch Furcht, ſoweit vom Wege abzuirren, um nicht ein plötzliches, ſpeziell für ſie beſtimmtes Donnerwetter vom Himmel herabzubeſchwören. Dann endlich befanden ſie ſich ganz dicht am Rande des Schlafes — als noch einmal ein Störenfried auftrat, der ſich nicht abweiſen laſſen wollte. Es war das Gewiſſen. Sie begannen die unbeſtimmte Empfindung zu haben, daß ſie doch wohl unrecht getan hätten, fortzulaufen. Danach dachten ſie an die geſtohlenen Lebensmittel und damit begann erſt die rechte Selbſtquälerei für ſie. Sie verſuchten ſie von ſich abzuwenden, indem ſie ſich des geſtohlenen Zuckerwerks und der Äpfel erinnerten, die ſie auf dem Kerbholz hatten. Aber das Gewiſſen ließ ſich durch ſolche mageren Einwände nicht beruhigen. Es ſchien ihnen ſchließlich doch unmöglich, um die unumſtößliche Tatſache herumzukommen, daß Äpfelſtehlen lediglich „ſtibitzen“ ſei, während das Forttragen von Schinken, Speckſeiten und ſolchen Wertgegenſtänden nur als vollgültiger, klarer Diebſtahl bezeichnet werden könne — und dagegen gab es ein Verbot in der Bibel! Worauf ſie innerlich beſchloſſen, daß, ſolange ſie auch bei dem Geſchäft bleiben würden, ihre Seeräubereien nicht wieder durch das Verbrechen des Diebſtahls gebrandmarkt werden ſollten. Ihr Gewiſſen ſchloß auf dieſer Grundlage denn auch Waffenſtillſtand, und dieſe merkwürdig inkonſequenten Piraten fielen in tiefen Schlummer.
Als Tom morgens erwachte, war er ſehr erſtaunt über ſeine Umgebung. Er ſetzte ſich auf, rieb ſich die Augen und ſchaute um ſich; dann begriff er. Es herrſchte kühle, graue Dämmerung und ein wundervoller Hauch von Ruhe und Frieden in der tiefen, alles durchdringenden Stille und Lautloſigkeit des Waldes. Nicht ein Blatt rührte ſich, nicht ein Laut ſtörte das große Nachdenken der Natur. Tautropfen lagen auf Blättern und Gräſern. Eine weiße Schicht Aſche bedeckte die Feuerſtelle, und ein dünner, blauer Streifen Rauch hob ſich in die Luft empor. Joe und Huck ſchliefen noch. Jetzt plötzlich begann ein Vogel im Innern des Waldes zu ſingen; andere antworteten; dann machte ſich das Hämmern eines Spechtes hörbar. Allmählich erhellte ſich der kühl-trübe Grauton des Morgens, und ebenſo allmählich vermehrten ſich die Stimmen, und das Leben nahm zu. Alle Wunder der den Schlaf abſchüttelnden und an die Arbeit gehenden Natur entfalteten ſich vor dem ſtaunenden Knaben. Ein kleines, grünes Kriechtier kam über ein von Tau bedecktes Blatt daher, zwei Drittel des Körpers von Zeit zu Zeit in die Luft erhebend, herumſchnüffelnd, dann wieder weiterkriechend, „maßnehmend“, wie Tom bei ſich ſagte. Und als die Raupe ſich ihm ſelbſt näherte, ſaß er mäuschenſtill und hoffte, je nachdem ſie ſich auf ihn zu bewegte oder eine andere Richtung einſchlug; und als ſie ſchließlich, nachdem ſie einen Augenblick peinvoller Erwartung für Tom ihren gekrümmten Leib aufgerichtet gehalten hatte, entſchieden auf Tom losmarſchierte und eine Entdeckungsreiſe auf ihm antrat, war ſein ganzes Herz voll Vergnügen, denn er hoffte daraufhin ganz zweifellos, einen neuen Anzug zu bekommen — eine herrliche Piratenuniform. Nun erſchien eine Prozeſſion Ameiſen, Gott weiß, woher, um ſich an ihre Arbeit zu machen; eine ſchleppte ganz mutig eine tote Spinne, die fünfmal ſo groß war wie ſie ſelbſt, und zerrte ſie auf einen Baumſtrunk. Ein braun geflecktes Käferchen kraxelte einen Grashalm in die Höhe, und Tom beugte ſich zu ihm herab und ſang:
„Käferchen, Käferchen, flieg nach Haus,
Kinder allein in dem brennenden Haus!“
worauf es die Flügel ausbreitete, um heimwärts zu fliegen und nach den allein gelaſſenen Kinderchen zu ſehen, was Tom nicht weiter überraſchte, denn er kannte längſt die Leichtgläubigkeit und die Furcht dieſes Tieres vor Feuer und hatte ſie mehr als einmal ruchlos ausgenutzt.
Die ganze Natur war jetzt wach und in Bewegung, lange Nadeln von Sonnenlicht brachen durch das dichte Laub fern und nah, und kleine Schmetterlinge flatterten hin und her.
Tom weckte die anderen Piraten, und alle ſtürmten heulend davon, waren in zwei oder drei Minuten entkleidet und jagten ſich und ſtießen ſich herum in dem ſeichten, klaren Waſſer der Sandbank. Sie empfanden nicht das geringſte Verlangen nach dem kleinen Dorfe, das in der Ferne an der majeſtätiſchen Waſſerwüſte noch feſt ſchlief. Eine zufällige Strömung oder eine ſchwache Welle hatte das Floß fortgetrieben. Indeſſen freuten ſie ſich eher darüber, denn durch ſein Verſchwinden war die Brücke zwiſchen ihnen und der Ziviliſation gleichſam abgebrochen.
Sie kehrten wunderbar erfriſcht zu ihrem Lagerplatz zurück, vergnügt und heißhungrig; bald hatten ſie das Lagerfeuer wieder angezündet. Huck fand eine Quelle goldklaren Waſſers in der Nähe, ſie machten Becher aus Eichenrinde oder Blättern und konſtatierten, daß Waſſer, von ſolcher Wild-Wald-Romantik verſüßt, ein ſehr guter Erſatz für Kaffee ſei.
Während Joe ſich daran machte, Speck zum Frühſtück zu röſten, baten Tom und Huck ihn, einen Augenblick zu warten; ſie rannten nach einer vielverſprechenden Stelle der Sandbank und warfen dort ihre Angeln aus; faſt ſofort hatten ſie Erfolg. Joe hatte gar nicht Zeit gehabt, ungeduldig zu werden, als ſie ſchon zurück waren mit ein paar Handvoll Forellen, einem rieſigen Barſch und anderen Fiſchen, — Vorrat genug für eine ganze Familie. Sie brieten die Fiſche mit Speck und waren überraſcht; denn kein Fiſch war ihnen bisher ſo delikat erſchienen. Sie wußten nicht, daß ein Fiſch um ſo beſſer iſt, je eher er übers Feuer kommt; auch überlegten ſie ſich kaum, welche Würze Schlaf und Bewegung im Freien, ein Bad und die Zutat eines tüchtigen Hungers ausmachten.
Nach dem Frühſtück lagen ſie im Schatten herum, während Huck ein Pfeifchen ſchmauchte, und dann machten ſie ſich zu einer Entdeckungsreiſe durch den Wald auf die Füße. Sie trollten luſtig dahin über vermoderte Baumſtämme, durch wirres Geſtrüpp, zwiſchen ſchweigenden Königen des Waldes hindurch, die von oben bis unten mit allerhand Schlingpflanzen behangen waren. Ab und zu trafen ſie auf verborgene, mit Gras bewachſene und mit Blumen geſchmückte kleine Lichtungen.
Sie fanden eine Menge Dinge, die ihnen gefielen, aber nichts, was ſie in Entzücken geſetzt hätte. Sie ſtellten feſt, daß die Inſel über drei Meilen lang und eine Viertelmeile breit und daß die Küſte, wo ſie ihr am nächſten war, nur durch einen ſchmalen Kanal, kaum zweihundert Meter breit, von ihr getrennt ſei. Alle paar Stunden nahmen ſie ein Bad, ſo war es hoher Nachmittag, als ſie zum Lager zurückkehrten. Sie waren zu hungrig, um wieder Fiſche zu fangen, fielen daher tüchtig über ihren Schinken her, warfen ſich dann im Schatten nieder und plauderten. Aber das Geſpräch geriet bald ins Stocken und erſtarb dann ganz. Die Stille und Einſamkeit, die über dem Walde lagen, und die Empfindung der Verlaſſenheit begannen auf die Gemüter zu wirken. Sie verſanken in Nachdenken. Eine Art unbeſtimmter Sehnſucht ergriff ſie und laſtete immer ſchwerer auf ihnen — es war das Heimweh. Selbſt Finn, der Bluthändige, träumte von ſeinen Treppenſtufen und leeren Regentonnen. Aber ſie ſchämten ſich ihrer Schwäche, und niemand war tapfer genug, davon zu ſprechen.
Jetzt plötzlich wurden die Jungen durch einen ganz beſonderen Schall in der Ferne aufgeſchreckt, wie es wohl durch das Ticken einer Wanduhr geſchieht, das man ſchon lange gehört hat, ohne es zu bemerken. Indeſſen wurde der geheimnisvolle Ton beſtimmter und drängte ſich geradezu der Wahrnehmung auf. Die Jungen fuhren in die Höhe, ſchauten einander an, und dann verharrte jeder in lauſchender Stellung. Es folgte langes Stillſchweigen, tief und ungeſtört; dann kam ein tiefer, dumpfer Ton aus weiter Ferne herüber.
„Was iſt das,“ ſchrie Joe atemlos.
„Möcht's auch wiſſen,“ entgegnete Tom flüſternd.
„'s iſt nicht Donner,“ ſchloß ſich Huck in erſchrecktem Ton an, „denn Donner —“
„Still!“ befahl Tom, „horcht — dann ſprecht.“
Sie warteten eine Zeitlang, die ihnen eine Ewigkeit dünkte, und dann unterbrach derſelbe dumpfe Ton die tiefe Stille.
„Wollen wir hingehen und nachſehen?“
Sie ſprangen auf und rannten nach der dem Dorfe zugewandten Küſte. Sie teilten die Büſche auf der Sandbank und ſpähten hindurch über die Waſſerfläche. Das kleine, eiſerne Dampfboot befand ſich über eine Meile unterhalb des Dorfes, mit dem Strome treibend. Das Verdeck ſchien mit Menſchen bedeckt. Eine Menge Boote trieben ſich um den Dampfer herum oder ließen ſich von der Strömung treiben, aber die Jungen konnten nicht herausbringen, was die Leute vorhatten. Plötzlich ſchoß eine große weiße Dampfwolke vom Dampfboot aus über den Fluß, und als ſie ſich ausbreitete und in kleinen Wölkchen in die Höhe ſtieg, tönte derſelbe dumpfe Ton den Lauſchenden in die geſpitzten Ohren.
„Jetzt weiß ich!“ ſchrie Tom, „'s iſt jemand ertrunken!“
„'s iſt an dem,“ beſtätigte Huck. „Sie machten es letzten Sommer ſo, als Bill Turner unterging. Sie ſchoſſen 'ne Kanone über dem Waſſer ab und davon kam er wieder raus. Ja — und ſie nahmen Laibe Brot, taten Queckſilber 'rein und ließen ſie dann ſchwimmen, und wo einer dann ertrunken iſt, dahin ſchwimmen ſie ganz richtig und bleiben da ſtehen.“
„Ja,“ ſagte Joe, „das hab' ich auch gehört. Möchte aber wiſſen, was das Brot damit zu tun hat.“
„O, ich denke, 's Brot iſt's wenigſte,“ meinte Tom. „Ich meine, 's iſt mehr, was ſie drüber ſprechen, ehe ſie's ausſetzen.“
„Aber ſie ſprechen ja gar nichts drüber,“ warf Huck ein. „Ich hab's geſehen, und ſie taten's nicht!“
„Na, das iſt ſonderbar,“ kopfſchüttelte Tom. „Aber ſie ſagen gewiß was zu ſich ſelbſt. Natürlich tun ſie's. Jeder weiß das.“
Die anderen gaben zu, daß das, was Tom da ſage, was für ſich habe, denn ein lumpiges Stück Brot, nicht durch eine Beſprechung mit beſonderer Kraft ausgeſtattet, konnte ſich nicht ſo klug und geſchickt benehmen, wenn man es auf eine Unternehmung von ſolcher Wichtigkeit ausſchickte.
„Teufel,“ ſagte Joe, „ich wollt' ich wär' drüben!“
„Ich auch,“ beſtätigte Huck. „Ich gäb 'nen Haufen, um zu wiſſen, was das iſt.“
Die Jungen horchten und warteten. Plötzlich durchfuhr ein erleuchteter Gedanke Toms Hirn, und er rief aus:
„Jungs, ich weiß, wen ſie ſuchen dort drüben! Uns ſuchen ſie!“
Sie fühlten ſich ſofort als Helden. Hier war ein glänzender Triumph. Sie wurden vermißt. Sie wurden beweint. Herzen brachen ihretwegen. Tränen wurden vergoſſen. Anklagende Erinnerung an unfreundliche Handlungen gegen dieſe armen Verlorenen ſtiegen auf, und nutzloſes Bedauern und Gewiſſensbiſſe quälten die Herzen. Und das beſte — die Vermißten wurden zum öffentlichen Geſprächsthema des ganzen Dorfes, und dann der Neid aller Buben, ſoweit dieſe glänzende Botſchaft drang! Es war herrlich! Es gab dem Piratenſpielen erſt den rechten Wert.
Als die Dämmerung hereinbrach, kehrte das Dampfboot zu ſeinen gewöhnlichen Geſchäften zurück, und die Boote verſchwanden. Die Piraten kehrten in ihr Lager zurück. Sie waren noch ganz betäubt durch den Überſchwang ihrer neuen Größe und das wunderbare Aufſehen, das ſie erregten.
Sie fingen Fiſche, bereiteten ihr Abendeſſen, verzehrten es und legten ſich dann nieder, um Vermutungen anzuſtellen, was das Dorf über ſie denken und ſprechen möchte. Und die Bilder, die ſie ſich von der allgemeinen Beſtürzung, deren Urſache ſie waren, machten, entzückten ſie über alle Maßen. Aber als die Schatten der Nacht ſie zu umhüllen begannen, hörten ſie auf zu plaudern und ſaßen da, ſchauten ins Feuer, während ihr Geiſt augenſcheinlich ganz wo anders weilte. Der Rauſch war geſchwunden, und Tom und Joe konnten an niemand zu Hauſe zurückdenken, der ſich über ihre Heldentat ſo freuen mochte, wie ſie es taten. Trübe Ahnungen ſtellten ſich ein. Sie fühlten ſich unbehaglich und unglücklich. Ein oder zwei Seufzer entſchlüpften ihnen. Endlich wagte Joe einen Fühler auszuſtrecken, um zu ſehen, wie die anderen über die Rückkehr zur Ziviliſation denken mochten, — nicht jetzt natürlich — aber —
Tom wies ihn mit Verachtung zurück! Huck, bis jetzt noch ganz gleichmütig, ſtimmte Tom bei, und der Wankelmütige gab eine demütige „Erklärung“ ab und war froh, ſich mit einem ſo geringen Odium ſchwachherzigen Heimwehs, als es ſich nur immer machen ließ, aus der Affäre zu ziehen. Für den Augenblick war die Empörung alſo offenbar niedergeſchlagen.
Als die Nacht dunkelte, begann Huck zu nicken und ſogleich zu ſchnarchen. Joe war der nächſte. Tom lag eine Zeitlang unbeweglich auf den Ellbogen, die beiden aufmerkſam beobachtend. Schließlich erhob er ſich vorſichtig auf die Knie und kroch durch das Gras und den flackernden Widerſchein des Lagerfeuers. Er ſammelte und unterſuchte verſchiedene große Stücke weißer Sykomorenrinde und wählte ſchließlich zwei, die ihm die beſten ſchienen, aus. Dann kroch er wieder zum Feuer und kritzelte etwas mit Rotſtift auf jedes von ihnen. Eins rollte er zuſammen und ſchob es in ſeine Taſche, das andere tat er in Joes Hut und legte dieſen in einiger Entfernung von ſeinem Eigentümer hin. In den Hut tat er dann noch gewiſſe Schulbuben-Koſtbarkeiten von faſt unſchätzbarem Wert, darunter ein Stück Kreide, einen Klumpen Federharz, drei Angelhaken und eine jener Art Marbeln, die als „ſo gut wie Kriſtall“ bekannt ſind. Dann ſchlich er auf den Zehen vorſichtig zwiſchen den Bäumen hindurch, bis er außer Hörweite zu ſein glaubte, und dann ſetzte er ſich in ſcharfen Trab in der Richtung nach der Sandbank zu.
Wenige Minuten ſpäter befand ſich Tom im ſeichten Waſſer der Sandbank, der Illinois-Küſte zuwatend. Bevor ihm die Flut bis zur Hälfte des Körpers reichte, war er ſchon halb drüben. Die Strömung erlaubte jetzt kein Waten mehr; ſo machte er ſich zuverſichtlich daran, die letzten hundert Meter ſchwimmend zurückzulegen. Er ſchwamm querüber, aber bald wurde er ſtärker ſtromabwärts getrieben, als er gedacht hatte. Indeſſen, er erreichte die Küſte ſchließlich, trieb an ihr entlang und fand eine niedrige Stelle, wo er hinauskletterte. Er legte die Hand auf die Taſche, fand, daß ſeine Baumrinde darin wohlgeborgen ſei und ſchlug ſich dann mit triefenden Kleidern durch den Wald, der Küſte folgend. Kurz vor 10 Uhr kam er auf einen freien Platz dem Dorfe gegenüber und erblickte das Dampfboot im Schatten der Bäume und des hohen Ufers liegend. Alles war totenſtill unter den funkelnden Sternen.
Er kroch unter einen Ufervorſprung, tauchte ins Waſſer, tat ſchwimmend drei oder vier Stöße und kletterte in das Boot, welches, wie es ſich gehörte, am Stern des Dampfbootes befeſtigt war. Er legte ſich unter die Bank und wartete mit Herzklopfen. Plötzlich ſchlug die blecherne Glocke an, und eine Stimme gab Befehl, abzuſtoßen. Ein paar Minuten ſpäter wurde die Spitze des Bootes vom Dampfer ſtark angezogen, und die Reiſe hatte begonnen. Tom fühlte ſich erhoben durch ſeinen Erfolg — er wußte, daß es die letzte Fahrt ſei, die das Boot an dieſem Abend machte.
Nach langen zwölf bis fünfzehn Minuten ſtoppte das Fahrzeug, und Tom glitt über Bord und ſchwamm im Dunkeln dem Ufer zu; er landete fünfzig Meter unterhalb — zur Sicherheit vor etwaigen herumſtreichenden Bekannten. Er lief durch wenig belebte Straßen und befand ſich bald am hinteren Zaun ſeiner Tante. Er kletterte hinüber, näherte ſich behutſam dem Haus und ſpähte durch das Wohnzimmerfenſter, da er dort Licht ſah.
Da ſaßen Tante Polly, Sid, Mary und Joe Harpers Mutter, dicht zuſammengedrängt, eifrig ſchwatzend. Sie ſaßen am Bett, und dieſes ſtand zwiſchen ihnen und der Tür. Tom ſchlich vorſichtig zur Tür und begann vorſichtig den Drücker zu drücken. Dann drückte er kräftiger, und die Tür knarrte. Er ſetzte ſeine Tätigkeit fort und hielt jedesmal inne, ſobald es knarrte, bis er glaubte, auf den Knien durchkriechen zu können. Und ſo ſteckte er den Kopf hinein, und verſuchte es vorſichtig.
„Warum flackert das Licht ſo?“ ſagte Tante Polly. Tom beeilte ſich.
„Ich glaub gar, die Tür iſt offen! Wahrhaftig, ſie iſt offen! Hören denn die Geſpenſtergeſchichten heut gar nicht auf! Geh' hin und mach ſie zu, Sid!“
Im ſelben Moment verſchwand Tom unterm Bett. Er lag und verſchnaufte 'ne Zeitlang, und dann kroch er ſo weit vor, daß er Tante Pollys Füße faſt berühren konnte.
„Aber, wie ich ſagte,“ fing Tante Polly wieder an, „er war nicht ſchlecht, nur — wie ſoll ich ſagen — geriſſen! Nur ein bißchen unbeſonnen, wiſſen Sie, und gedankenlos-flüchtig. Er dachte nie mehr nach als ein Füllen. Bös meint' er's nie, er war der gutherzigſte Junge, der jemals dageweſen iſt,“ und ſie begann zu weinen.
„Grad' ſo war's mit meinem Joe — immer voll von Dummheiten und zu jedem Unfug aufgelegt; und ſo ſelbſtlos und gutmütig, wie nur einer ſein kann — und es ſchmerzt mich ſchrecklich, zu denken, daß ich hingehen konnte und ihm eine runterhauen, weil er die Milch genommen haben ſollte, und nicht daran dachte, daß ich ſie als ſauer ſelbſt fortgegoſſen hatte — und ich ſoll ihn nie wiederſehen in dieſer Welt, nie, nie, nie — armer verlaſſener Junge!“ Mrs. Harper ſchluchzte, als ſolle ihr das Herz brechen.
„Ich hoffe, Tom iſt beſſer dran, wo er iſt,“ ſagte Sid, „aber wenn er in manchen Dingen hier beſſer geweſen wäre —“
„Sid!“ Tom fühlte ordentlich den ſtrengen Blick aus den Augen der alten Dame, obwohl er ſie nicht ſehen konnte. „Nicht ein Wort gegen meinen Tom, nun er fort iſt! Gott wird ſich ſeiner annehmen, ſorg du nur für dich ſelbſt, mein Lieber. O, Mrs. Harper, ich weiß nicht, wie ich's ohne ihn aushalten ſoll — ich weiß nicht, wie ich's ohne ihn aushalten ſoll! Er war ſo anhänglich an mich — obwohl er mein altes Herz zuweilen faſt gebrochen hätte!“
„Der Herr hat's gegeben, der Herr hat's genommen, der Name des Herrn ſei gelobt! Aber 's iſt ſo hart — o, 's iſt ſo hart! Noch letzten Samſtag ließ Joe einen Schwärmer mir unter der Naſe platzen, und ich ſchlug ihn nieder. Damals wußt' ich freilich nicht, wie bald — o, wenn ich's noch mal erleben könnte, ich würd' ihn dafür umarmen und ſegnen.“
„Ja, ja, ich kann's mir denken, was Sie fühlen, Mrs. Harper, ganz genau weiß ich, was Sie fühlen! 's iſt noch nicht länger als geſtern abend, da nahm Tom die Katze und füllte ſie voll ‚Schmerzenstöter‘, und ich dachte, das Tier würd' das Haus einreißen! Und — Gott verzeih' mir — ich gab ihm eins mit dem Fingerhut auf den Kopf — armer Junge, armer toter Junge! Aber er iſt jetzt raus aus allen Schmerzen. Und die letzten Worte, die ich von ihm gehört habe, waren —“
Aber dieſe Erinnerung war zu viel für die alte Dame, und ſie brach völlig zuſammen. Tom ſchluchzte jetzt ſelbſt — mehr aus Mitleid mit ſich ſelbſt als mit ſonſt jemand. Er konnte auch Mary weinen und von Zeit zu Zeit ein freundliches Wort über ſich ſprechen hören. Er fing an, eine beſſere Meinung als bisher von ſich ſelbſt zu haben. Schließlich war er durch ſeiner Tante Kummer ſo tief ergriffen, daß er drauf und dran war, unter dem Bett hervorzukommen und ſie mit ſeiner Wiederkunft freudig zu überraſchen, und der Theatereffekt war ganz nach ſeinem Geſchmack, aber er widerſtand doch und verhielt ſich ſtill.
Er fuhr fort zu lauſchen und ſetzte ſich aus allerhand Andeutungen zuſammen, daß man erſt angenommen habe, die Burſchen ſeien beim Schwimmen umgekommen; dann wurde das kleine Floß vermißt; dann verkündeten ein paar Jungen, die Ausreißer hätten verſprochen, das Dorf ſolle bald „von ihnen hören“. Die weiſen Häupter hatten dies und das zuſammengereimt und erklärt, die Strolche ſeien auf dieſem Floß davongefahren und würden bald in der nächſten Stadt unterwärts anlangen. Aber gegen Mittag war das Floß gefunden worden, ungefähr fünf oder ſechs Meilen unterhalb des Dorfes an der Miſſouriküſte, und da hatte man die Hoffnung aufgegeben; ſie mußten ertrunken ſein, denn ſonſt hätte der Hunger ſie bei Einbruch der Nacht nach Haus getrieben — wenn nicht ſchon früher. Man glaubte, die Suche nach den Leichen ſei darum erfolglos geblieben, weil ſich das Unglück in der Mitte des Stromes zugetragen habe, denn die Jungen als gute Schwimmer würden ſich ſonſt ans Ufer gerettet haben. Das war Mittwoch abend. Wenn ſie bis Samſtag noch nicht gefunden ſein würden, müßte man alle Hoffnung aufgeben, und der Trauergottesdienſt ſollte dann am Sonntag morgen ſtattfinden. Tom ſchauderte.
Mrs. Harper wünſchte mit weinerlicher Stimme „Gute Nacht“ und rüſtete ſich zum Abmarſch. Dann, mit plötzlichem Impuls, umarmten ſich die beiden verwaiſten Frauen, weinten ſich nach Herzensluſt aus und trennten ſich. Tante Polly war doppelt zärtlich, indem ſie Sid und Mary „Gute Nacht“ ſagte. Sid ſchluchzte ein bißchen, Mary aber weinte aus Herzensgrund.
Tante Polly kniete nieder und betete für Tom ſo eindringlich, ſo leidenſchaftlich und mit ſo grenzenloſer Liebe in ihren Worten und ihrer alten, zitternden Stimme, daß er wieder, lange bevor ſie zu Ende war, in Tränen zerfloß.
Er mußte noch lange, nachdem ſie zu Bett gegangen war, warten, denn von Zeit zu Zeit ſtieß ſie immer noch mal einen herzbrechenden Seufzer aus, warf ſich unruhig hin und her und konnte nicht zur Ruhe gelangen. Aber ſchließlich war ſie doch ſtill und ſeufzte nur noch bisweilen im Schlaf.
Nun kroch der Junge hervor, richtete ſich am Bett in die Höhe, beſchattete das Licht mit der Hand und ſtand lange, ſie betrachtend. Sein Herz war voll Mitleid mit ihr. Er zog ſeine Sykomorenrinde hervor und legte ſie neben den Leuchter. Aber es fiel ihm etwas ein, und er überlegte. Auf ſeinem Geſicht lag der glückliche Widerſchein ſeiner Gedanken. Schnell ſteckte er die Rinde wieder in die Taſche, dann beugte er ſich herunter, küßte die welken Lippen und machte ſich verſtohlen davon, die Tür hinter ſich ſchließend.
Er nahm ſeinen Weg wieder zum Dampfboot, fand niemand dort vor und begab ſich kühn an Bord des Schiffes, welches, wie er wußte, verlaſſen war — bis auf einen Wächter, der ſich darin einzuſchließen und zu ſchlafen pflegte wie ein ſteinernes Bild. Er zog das kleine Boot heran, ſprang hinein und ſchwamm bald wieder draußen auf dem Strom. Als er eine Meile vom Dorfe entfernt war, ſteuerte er querüber und legte ſich tüchtig ins Zeug. Er erreichte genau die Landungsſtelle an der anderen Seite — eine Kleinigkeit für ihn. Große Luſt hatte er, das Boot zu kapern, denn er meinte, man müſſe es doch als „Schiff“ betrachten und es ſei ſomit legitime Beute für einen Seeräuber. Aber dann ſagte er ſich, daß genaue Nachforſchungen danach angeſtellt werden würden, und das hätte mit einer Entdeckung enden können. So ſprang er ans Ufer und drang in den Wald ein. Er ſetzte ſich nieder und hielt lange Raſt, ſich quälend mit Anſtrengungen, wach zu bleiben, und dann ſtrebte er wieder ſeiner „Heimat“ zu. Die Nacht war faſt zu Ende. Es war heller Morgen, bis er ſich der Inſel gegenüber befand. Er ruhte wieder, bis die Sonne ganz herauf war und den Fluß mit ihrem Glanz übergoß, und dann ſprang er ins Waſſer. Kurz darauf ſtand er triefend am Eingang des Lagers und hörte Joe ſagen: „Nein, Tom iſt treu, Huck, und er wird wiederkommen. Er wird nicht durchbrennen. Er weiß, daß es 'ne Schande für 'nen Seeräuber wär, und Tom iſt zu ſtolz für ſo was. Er iſt auf irgend was aus. Möcht' aber wohl wiſſen, was?“
„Na — die Sachen da gehören doch jetzt uns, nicht?“
„Beinahe, aber nicht ganz, Huck. Das Geſchreibſel ſagt, ſie ſind unſer Eigentum, wenn er nicht bis zum Frühſtück wieder da iſt.“
„Was er iſt,“ rief Tom in theatraliſcher Poſe, großartig ins Lager tretend.
Ein prächtiges Frühſtück, aus Schinken und Fiſch beſtehend, war bald zur Stelle, und während ſich die Jungen darüber hermachten, berichtete Tom (mit vielen Ausſchmückungen) ſeine Abenteuer. Sie waren eine edle, prahleriſche Geſellſchaft von Helden, als ſeine Erzählung beendet war. Dann machte Tom ſich davon an einen ſchattigen Ort, um bis Mittag zu ſchlafen, die anderen Piraten brachen auf zu Fiſchzug und Entdeckungsreiſen.
Nach dem Mittageſſen machte ſich die ganze Bande auf nach der Sandbank, um dort Schildkröteneier zu ſuchen. Sie ſtießen Löcher in den Sand, und wenn ſie eine hohle Stelle fanden, warfen ſie ſich auf die Knie und gruben mit den Händen. Manchmal erwiſchten ſie fünfzig bis ſechzig Eier auf einem Haufen. Es waren vollkommen runde, weiche Dinger, ein bißchen kleiner wie 'ne engliſche Walnuß. So hatten ſie ein köſtliches Eigericht für den Abend, und ebenſo am Freitag morgen. Nach dem Frühſtück liefen ſie mit Hurra und Purzelbäumen zum Strand, jagten ſich einander herum, warfen die Kleider ab und waren ganz nackt; und dann ſetzten ſie ihr luſtiges Treiben im ſeichten Waſſer fort, gegen die Strömung anlaufend, welche ihnen um die Beine ſpülte und den Spaß noch mehr erhöhte. Zuweilen ſtanden ſie zuſammen und ſpritzten ſich mit der flachen Hand gegenſeitig Waſſer ins Geſicht, indem ſie ſich, einander den Rücken zukehrend, heranſchlichen, um den Spritzern zu entgehen, und ſich dann plötzlich packten und ſo lange kämpften, bis der Stärkſte ſeinen Gegner geduckt hatte — und dann verwandelten ſie ſich alle drei in ein Gewirr von weißen Armen und Beinen, und tauchten zugleich wieder auf, ſchnaufend, lachend, ſpuckend und atemlos.
Nachdem ſie ſich ſo ordentlich ausgetobt hatten, ſtiegen ſie heraus, warfen ſich in den trockenen, heißen Sand, lagen da und bedeckten ſich ordentlich damit, und dann liefen ſie wieder zum Waſſer, und das Spiel begann von neuem. Schließlich fiel ihnen ein, daß ihr nackter Zuſtand mit fleiſchfarbigen Trikots große Ähnlichkeit habe. So zogen ſie einen Kreis in den Sand und hatten einen Zirkus — mit drei Clowns darin, denn niemand wollte dieſen ſtolzeſten Poſten einem anderen überlaſſen. Darauf ſuchten ſie ihre Murmeln hervor und ſpielten, bis auch dies Vergnügen langweilig wurde.
Huck und Joe ſchwammen hierauf abermals; Tom wollte nicht mitmachen, denn er fand, daß er beim Anziehen ſeine Klapperſchlangenſchnur von den Knöcheln verloren hatte, und er wunderte ſich, wie er ohne den Schutz dieſes geheimnisvollen Schutzmittels ſo lange vor einem Krampf bewahrt worden ſei. Er wagte ſich nicht wieder ins Waſſer, bis er ſie wiedergefunden hatte, und inzwiſchen waren die anderen müde und im Begriff, ſich auszuruhen. Herumſchlendernd, trennten ſie ſich allmählich, verfielen in Trübſinn und fingen an, über die breite Waſſerfläche hinüberzuſchauen, wo das Dorf ſchläfrig in der Sonne lag. Tom ertappte ſich dabei, wie er mit der Zehe „Becky“ in den Sand ſchrieb; er wiſchte es aus, ärgerlich über ſeine Schwäche. Aber er ſchrieb es nochmals — trotzdem; er konnte nichts dafür. Er wiſchte es nochmals aus und zog ſich aus aller Verſuchung, indem er die anderen Jungen zuſammentrieb und ſie gegeneinander ſchubſte.
Aber Joes Geiſt war allmählich gänzlich niedergedrückt. Er hatte ſolches Heimweh, daß er ſein Elend kaum noch tragen konnte. Die Tränen waren bei ihm dem Überlaufen nahe. Sogar Huck war melancholiſch. Toms Herz war ſchwer, doch er gab ſich Mühe, es nicht zu zeigen. Er hatte ein Geheimnis, das er noch nicht preisgeben wollte, wenn aber dieſe Depreſſion nicht bald gehoben werden konnte, mußte er es verraten. Er ſagte mit möglichſt ſichtbarer Heiterkeit: „Ich glaube, 's ſind ſchon vor uns Piraten auf der Inſel geweſen. Wollen wir doch mal nachſehen! Vielleicht haben ſie hier Schätze vergraben. Würd's euch nicht gefallen, irgendwo auf 'ne alte verroſtete Kiſte voll Gold oder Silber zu ſtoßen, he?“
Es erhob ſich aber nur ein ſchwacher Begeiſterungsſturm, der bald verflogen war. Tom verſuchte noch eine oder zwei Kriegsliſten; aber auch dieſe ſchlugen fehl. Es war recht entmutigend. Joe ſaß da, mit einem Stock im Sande ſtochernd und ſchaute ſehr trübſelig drein.
Schließlich ſagte er: „Ach, Jungens, laßt's uns aufgeben. Ich möcht' heim. 's iſt ſo einſam hier.“
„Ach was, Joe, das wird ſchon nach und nach beſſer werden,“ entgegnete Tom. „Allein ſchon die famoſe Gelegenheit zum Fiſchen.“
„Mag nichts wiſſen vom Fiſchen. Ich will heim!“
„Aber, Joe, nirgends kann man ſo gut ſchwimmen wie hier.“
„Schwimmen iſt nichts. Ich hab' gar keine Luſt zum Schwimmen, wenn nicht wer da iſt, der mir ſagt, ich ſoll's nicht tun. Ich will nach Haus!“
„Ach, Feigling! Wickelkind! Du möchtſt bloß zu deiner Alten — ſchätz' ich.“
„Ja — ich will zu meiner Mutter! Und du wolltſt auch, wenn du eine hättſt. Ich bin nicht mehr Wickelkind als du!“ Und Joe ſchluchzte ein wenig.
„Na, 's iſt gut, wollen wir das heulende Mutterſöhnchen nach Haus laſſen, nicht, Huck? Armes Ding — wenn's halt Sehnſucht hat, ſeine Mutter wiederzuſehen? Soll's halt. Du bleibſt hier, nicht, Huck? Wir wollen bleiben?“
„J — a,“ ſagte Huck, ohne viel Überzeugung.
„So lang' ich lebe, ſprech ich nicht mehr mit dir,“ ſagte Joe aufſehend. „Das haſt du davon.“ Trübſelig ſtand er auf und begann ſich anzukleiden.
„Mach mir auch was draus,“ warf Tom hin. „'s braucht dich niemand. Mach, daſs du heimkommſt und laß dich auslachen. Biſt 'n ſchöner Pirat! Huck und ich, wir ſind keine Schreibabies. Wir wollen bleiben, nicht, Huck? Laß ihn gehen, wenn er durchaus will. Denke doch, zur Not werden wir fertig ohne ihn.“
Aber trotzdem war Tom nicht recht wohl zumute, es beunruhigte ihn doch, zu ſehen, wie Joe trotzig fortfuhr, ſich anzuziehen. Und dann war's unangenehm, wie Huck mit den Augen den Vorbereitungen Joes folgte, ſo aufmerkſam und mit ſo unheimlichem Schweigen. Plötzlich begann Joe, ohne ein Wort des Abſchieds, auf das Illinoisufer zu waten. Tom begann das Herz zu ſinken. Er ſchielte nach Huck. Huck konnte den Blick nicht ertragen und ſenkte die Augen. Dann ſagte er: „Du — Tom — ich will auch gehen. 's war ſchon bis jetzt ſo einſam, jetzt wird's noch ſchlimmer werden. Gehen wir auch, Tom?“
„Ich geh' nicht! Du kannſt ja gehen, wenn du willſt. Ich bleib'!“
„Tom — ich will lieber gehen.“
„Na, 's iſt gut, ſo geh' doch! Wer hindert dich denn?“
Huck fing an, ſeine zerſtreuten Kleider aufzuſammeln.
„Tom,“ ſagte er, „wollt', du gingſt mit. Denk mal drüber nach. Wir wollen drüben am Ufer auf dich warten.“
„Da, da könnt ihr 'ne hübſch' lange Zeit warten, ſag' ich dir.“
Huck ſchlich kummervoll davon, und Tom ſchaute ihm nach, während ein heftiges Verlangen, ſeinem Stolz zum Trotz hinterher zu laufen, an ſeinem Herzen riß. Er hoffte, ſie würden ſtehen bleiben, aber ſie wateten langſam weiter.
Plötzlich überkam Tom das Bewußtſein, wie einſam und ſtill es dann ſein würde. Er kämpfte einen letzten Kampf mit ſeinem Stolz und dann rannte er ſeinen Kameraden nach, brüllend: „Wartet, wartet doch! Will euch was ſagen!“
Sie blieben ſofort ſtehen und drehten ſich um. Als er bei ihnen angelangt war, begann er, ſein Geheimnis auszukramen, und ſie hörten mürriſch zu, bis ſie zuletzt begriffen, was die Pointe bei der Sache ſei, und in ein wahres Kriegsgeheul von Beifall ausbrachen und ſagten, 's wäre großartig, und wenn er ihnen das früher geſagt hätte, würden ſie nicht fortgegangen ſein. Tom brachte eine plauſible Entſchuldigung vor; in Wahrheit aber hatte er gefürchtet, daß nicht einmal ſein Geheimnis ſie veranlaſſen würde, noch länger bei ihm zu bleiben, und darum hatte er es als letztes Auskunftsmittel zurückgehalten.
Die Ausreißer kehrten vergnügt zurück und nahmen mit Feuereifer ihre Spiele wieder auf, fortwährend mit ſtaunender Bewunderung über Toms fabelhaften Plan und ſeine Genialität ſich unterhaltend.
Nach einem opulenten Eier- und Fiſchſchmaus erklärte Tom, er wolle rauchen lernen. Joe gefiel die Idee, und er ſagte, er wolle es auch lernen. So machte Huck Pfeifen und füllte ſie. Die beiden Neulinge hatten bisher noch nie etwas anderes geraucht als Schokoladezigarren, und die haben niemals als männlich gegolten.
Nun ſtreckten ſie ſich aus, ſtützten ſich auf die Ellbogen und begannen zögernd zu paffen und mit wenig Vertrauen. Der Rauch hatte einen unangenehmen Geſchmack, und ſie räuſperten ſich ein wenig, aber Tom ſagte:
„Pah! 's iſt ja ſo leicht! Hätt' ich gewußt, daß das alles ſei, hätt ich's ſchon längſt gelernt!“
„Ich auch,“ meinte Joe. „'s iſt ja gar nichts.“
„Gott, wie oft hab' ich 'nen Mann rauchen geſehen, und gedacht: wollt', ich könnt's auch. Aber ich hab' nie gedacht, ich könnt's. So geht's mir immer, nicht, Huck? Du haſt's mich oft ſagen hören, nicht, Huck? Huck weiß, daß ich's geſagt hab'.“
„Ja, oft genug,“ ſagte Huck.
„Na, ich hab's auch,“ fing Tom nochmals an. „Hundertmal. Mal da unten beim Schlachthaus. Erinnerſt du dich nicht, Huck? Bob Tanner war da und Johnny Miller und Jeff Thatcher, damals, als ich's ſagte. Erinnerſt du dich nicht, Huck, daß ich's geſagt hab'?“
„Ja, 's iſt an dem,“ entgegnete Huck. „'s war den Tag, als ich 'ne weiße Murmel verloren hatte — nee, 's war den Tag vorher.“
„Da ſagt' ich's dir,“ beſtätigte Tom. „Huck erinnert's.“
„Glaub', ich könnt' die Pfeife rauchen — alle Tage,“ ſagte Joe. „Fühl' mich gar nicht ſchlecht.“
„Na, ich auch nicht. Ich könnt' alle Tage rauchen, aber ich wette, Jeff Thatcher könnt's nicht.“
„Jeff Thatcher! Lieber Gott — keine zwei Züge könnt' der vertragen! Laß 's ihn nur einmal verſuchen — er ſoll ſchon ſehen.“
„Ich wollt', er tät's, und Johnny Miller — wollt', ich könnt' Johnny Miller 's verſuchen ſehen.“
„Meinſt du, ich nicht? Na, der Johnny Miller würd's grad ſo wenig können wie ſonſt was! Bloß 'n biſſel Rauch würd' den ſchon umſchmeißen!“
„Natürlich würd's das, Joe! Du, ich wollt', die Jungens könnten uns jetzt mal ſehen.“
„Na, das mein' ich auch!“
„Wißt ihr was! Sagt nichts davon, und wenn ſie dann mal dabei ſind, geh' ich auf dich zu und ſag': ‚Joe, haſt du 'ne Pfeife? Möcht' mal rauchen!‘ Und du ſagſt, ſo ganz beiläufig, als wenn's nichts wär', du ſagſt: ‚Ja, ich hab' meine alte Pfeife, und dann noch eine, aber mein Tabak iſt nicht ſehr gut.‘ Und ich ſag': ‚O, 's iſt ſchon recht, wenn er uns ſtark genug iſt.‘ Und dann du raus mit den Pfeifen und wir ordentlich drauf los, und dann die Augen, die die machen werden!“
„Verdammt, das iſt famos, Tom! Wollt, 's wär' jetzt!“
So plauderten ſie noch 'ne Weile; aber plötzlich begann das Geſpräch zu ſtocken, und dann hörte es ganz auf. Das Stillſchweigen wurde drückend; das Ausſpucken nahm wunderbar zu. Jede Pore im Innern des Mundes ſchien bei den beiden ſich in einen ſpuckenden Springbrunnen zu verwandeln. Kaum konnten ſie die Behälter unter der Zunge oft genug entleeren, um eine Überſchwemmung zu vermeiden; trotz aller Anſtrengungen aber gelangten kleine Ergüſſe den Hals hinunter — und jedesmal folgte plötzliches Aufſchlucken darauf. Beide ſahen blaß und elend aus. Joes Pfeife fiel aus ſeinen kraftloſen Händen. Toms folgte. Beider Springbrunnen waren in voller Tätigkeit, und beider Pumpen arbeiteten fieberhaft.
Joe ſagte mit ſchwacher Stimme: „Hab' mein Meſſer verloren. Denke, 's wird gut ſein, hinzugehen und zu ſuchen.“
Tom, mit zitternden Lippen und ebenſo ſchwacher Stimme ſagte: „Ich helf dir. Du gehſt nach der Seite, und ich will nach der andern gehen — zur Quelle. — Nein — du brauchſt — nicht zu — kommen — — Huck, — wir — wir finden's — ſchon —“
So ſetzte ſich Huck nieder und wartete 'ne Stunde. Dann fand er, es ſei ſehr einſam und ging, ſeine Kameraden zu ſuchen. Sie waren weit weg im Walde, beide ſehr blaß, beide ſchliefen feſt. Aber etwas belehrte ihn, daß, hatten ſie irgend welche Beſchwerden gehabt, ſie ſich davon befreit hatten.
Beim Nachteſſen waren ſie eben nicht redſelig; ſie hatten einen hohlen Blick. Und als Huck nach der Mahlzeit ſeine Pfeife wieder ſtopfte und ihnen die ihrigen geben wollte, ſagten ſie: nein, ſie fühlten ſich nicht recht wohl — irgend etwas beim Mittageſſen ſei ihnen nicht gut bekommen.
Ungefähr um Mitternacht erwachte Joe und rief die Jungen an. Drückende Schwüle lag in der Luft, das hatte etwas zu bedeuten. Die Jungen drückten ſich aneinander und ſuchten die freundliche Geſellſchaft des Feuers, obwohl die matte, tote Hitze der regloſen Atmoſphäre erſtickend war. Sie ſaßen ſtill, horchend und wartend. Jenſeits des Lichtſchimmers ging alles in der Schwärze der Finſternis auf. Plötzlich fuhr ein zitternder Blitzſtrahl herunter, der auf einen Augenblick die Umgebung erleuchtete und dann wieder ſchwand. Nach kurzer Zeit kam wieder einer, etwas ſchwächer. Dann noch einer. Darauf ging ein leiſes Zittern durch die Bäume des Waldes, und die Knaben empfanden eine kurze Kühlung im Geſicht und zitterten bei dem Gedanken, daß der Geiſt der Nacht an ihnen vorübergegangen ſei. Dann eine Pauſe. Und dann verwandelte ein zauberhafter Blitzſtrahl die Nacht in den Tag und zeigte jeden einzelnen Grashalm, der um ihre Füße herum wuchs. Und außerdem zeigte er drei weiße entſetzte Geſichter. Ein ſchwerer Donnerſchlag kam rollend und polternd vom Himmel herunter und verlor ſich in der Ferne in dumpfem Grollen. Ein kühler Lufthauch machte ſich fühlbar, in den Blättern raſchelnd und die aufgehäufte Aſche über den Feuerherd wirbelnd. Ein neuer blendender Schein erhellte den Wald, und ein Krach folgte, der die Baumwipfel über den Häuptern der Kinder zu zerreißen ſchien. Sie fuhren erſchreckt zuſammen bei der vollkommenen Finſternis, die darauf folgte. Ein paar ſchwere Regentropfen fielen klatſchend auf die Blätter.
„Schnell, Jungens, zum Zelt,“ ſchrie Tom.
Sie rannten davon, über Wurzeln ſtolpernd und ſich in Schlinggewächſe verwickelnd — nicht zwei von ihnen in gleicher Richtung. Ein furchtbarer Windſtoß fuhr durch die Wipfel, jeden Laut verſchlingend. Ein blendender Blitz folgte dem anderen, ein krachender Donnerſchlag dem anderen. Und jetzt praſſelte durchnäſſender Regen nieder, und der tobende Orkan fegte ihn in Bündeln über die Erde hin.
Die Jungen ſchrien einander zu, aber der heulende Wind und die dröhnenden Donnerſchläge verſchlangen ihre Stimmen völlig. Indeſſen drangen ſie doch nacheinander durch und ſuchten Schutz unter dem Zelt, kalt, zitternd und triefend von Waſſer. Geſellſchaft im Unglück zu haben, ſchien ihnen alles erträglicher zu machen.
Sie konnten nicht ſprechen, das alte Segel ſchlug zu wahnſinnig, ſelbſt wenn die anderen Stimmen es ihnen erlaubt hätten. Der Sturm ſtieg höher und höher, und plötzlich flog das Segel, aus ſeinen Klammern losgeriſſen, auf den Flügeln des Windes davon. Die Knaben faßten ſich an den Händen und flohen, ſtolpernd und ſich wund ſtoßend, in den Schutz einer großen Eiche, die am Flußufer ſtand. Jetzt war der Kampf auf ſeinem Höhepunkt angelangt. Bei dem unaufhörlichen Leuchten, das den Himmel in Flammen ſetzte, trat alles rund umher in grelles, ſchattenloſes Licht; die ſich beugenden Bäume, der wogende, von Schaum weißgefärbte Strom, das treibende Flußwaſſer. Die ſteilen Felſenufer auf der anderen Seite ſchauten zuweilen durch die Regenwolken. Alle Augenblicke erlag ein Baumrieſe der Gewalt und brach krachend durch das Unterholz. Und die furchtbaren Donnerſchläge folgten ſich in ohrenzerreißendem, exploſionsähnlichem Schmettern, ſcharf und krachend und unbeſchreiblich ängſtigend. Der Sturm erhöhte ſich zu beiſpielloſer Wut, die die ganze Inſel in Stücke reißen, ſie zu verbrennen, bis zu den Baumwipfeln verſenken und jedes Lebeweſen auf ihr vernichten zu wollen ſchien, alles gleichzeitig und in einem Augenblick. Es war eine ſchreckliche Nacht für heimatloſe junge Herzen.
Aber endlich hatte der Kampf ausgetobt, die Naturkräfte ruhten, ſchwächer und ſchwächer tönend und brummend — Friede herrſchte. Die Jungen ſchlichen zum Lager zurück — nicht wenig eingeſchüchtert. Und doch fanden ſie dort, daß ſie alle Urſache hatten, dankbar zu ſein, denn die große Sykomore, die Beſchützerin ihres Lagers, war jetzt eine Ruine, vom Blitz zerſchmettert — und ſie waren während der Kataſtrophe nicht darunter geweſen.
Alles im Lager war durchnäßt, das Feuer erloſchen; denn ſie waren leichtſinnige Herumtreiber, wie alle ihresgleichen, und hatten keine Vorſichtsmaßregeln gegen den Regen getroffen. Das war ſehr ärgerlich, denn ſie waren durchweicht und verfroren. Sie fingen an, über ihr Mißgeſchick zu jammern; aber plötzlich entdeckten ſie, daß das Feuer ſich an dem Baum, unter dem es gebrannt hatte, ſo weit hinauf fortgepflanzt hatte, daß eine Handbreit oder ſo erhalten geblieben war und noch ſchwach glimmte. Sie belebten es geduldig mit Zweigen und Rinde des umgeſtürzten Baumes, bis ſie es wieder ordentlich entfacht hatten. Sie trockneten ihren gekochten Schinken und hielten eine Mahlzeit ab, und dann ſaßen ſie am Feuer und verbreiteten ſich über ihre nächtlichen Abenteuer und ſchmückten ſie aus bis zum Morgen, denn es gab kein trockenes Plätzchen in der ganzen Umgebung, wo ſie hätten ruhen können.
Als die Sonne auf die Knaben zu ſcheinen begann, überwältigte ſie die Müdigkeit, und ſie gingen zur Sandbank und legten ſich zum Schlaf nieder. Allmählich wurden ſie von der Sonne geröſtet und machten ſich daher in trüber Stimmung ans Frühſtück. Sie fühlten ſich übellaunig und ſteif in allen Gliedern und hatten Heimweh, mehr als je. Tom erkannte die Anzeichen davon und verſuchte, die Piraten, ſo gut er es vermochte, aufzuheitern. Aber ſie kümmerten ſich den Teufel um Murmeln, Zirkus, Schwimmen oder ſonſt was. Er erinnerte ſie an das großartige Geheimnis und erzielte einen Schimmer von Frohſinn. So lange der anhielt, ſuchte er ſie für ein neues Spiel zu intereſſieren. Es war, für eine Weile das Piratenſpielen aufzugeben und zur Abwechſelung mal Indianer zu ſein. Sie waren von der Idee begeiſtert; und ſo dauerte es nicht lange, da waren ſie tätowiert, tätowiert von Kopf bis zu Fuß mit ſchwarzem Schmutz, gleich den Zebras, alle natürlich Häuptlinge, und dann rannten ſie heulend durch die Wälder, um engliſche Niederlaſſungen anzugreifen.
Dann trennten ſie ſich in drei feindliche Stämme und ſtürzten aus Hinterhalten mit ſchrecklichem Kriegsgeſchrei aufeinander los und töteten einander tauſendweiſe. Es war ein blutiger Tag. Darum war es ein befriedigender.
Zur Mittagszeit verſammelten ſie ſich wieder im Lager, hungrig und glücklich. Aber jetzt zeigte ſich ein Hindernis — feindliche Indianer konnten das Friedensbrot nicht miteinander brechen, ohne erſt Frieden zu machen, und das war einfach unmöglich, ohne eine Friedenspfeife zu rauchen. Es gab keinen anderen Weg, von dem ſie je gehört hätten. Zwei von den Wilden wünſchten jetzt, immer Piraten geblieben zu ſein. Indeſſen — es war nichts zu machen, ſo forderten ſie denn mit ſo viel Unbefangenheit, als ſie auftreiben konnten, die Pfeifen, und taten, wie es ſich gehört, einen Zug daraus.
Und wie glücklich waren ſie dann, daß ſie Wilde geworden waren; denn ſie hatten dadurch etwas gewonnen. Sie merkten, daß ſie jetzt ein bißchen rauchen konnten, ohne fortgehen und ein verlorenes Meſſer ſuchen zu müſſen. Es wurde ihnen nicht mehr ſo ſchlecht, daß es ihnen Unannehmlichkeiten bereitet hätte. Sie hatten aber keine Luſt, dieſe ſtolze Errungenſchaft aus Mangel an Übung wieder zu verlieren: o nein, ſie übten ſie nach dem Eſſen mit recht ſchönem Erfolg, und ſo verbrachten ſie einen herrlichen Abend.
Sie waren mit ihrer neuen Kunſt ſtolzer und glücklicher, als wenn ſie ſechs Indianerſtämme ſkalpiert und hingeſchlachtet hätten. Laſſen wir ſie ſchmauchen, plaudern und prahlen — denn wir haben im Augenblick nichts mehr mit ihnen zu ſchaffen.
Im Dorfe herrſchte indeſſen an jenem friedlichen Samſtag nachmittag durchaus nicht beſondere Heiterkeit. Harpers und Tante Pollys Familie waren in Trauer und Kummer und vielen Tränen.
Ungewöhnliche Ruhe lag über dem Ort, obwohl es auch ſonſt ſtill genug herzugehen pflegte. Mit zerſtreuter Miene gingen die Einwohner ihren Geſchäften nach und ſprachen wenig; aber ſie ſeufzten oft. Der freie Samſtag erſchien eine Laſt für die Kinder. Sie hatten kein Herz für ihre Spiele und gaben ſie ſchließlich ganz auf.
Nachmittags begab ſich Becky Thatcher in trüber Stimmung auf den verlaſſenen Schulhof und fühlte ſich ſehr einſam. Aber ſie fand dort nichts, was ſie hätte aufheitern können.
„O, wenn ich doch ſeinen alten Meſſingknopf wiederfinden könnte,“ ſeufzte ſie halblaut. „Jetzt hab' ich gar nichts zur Erinnerung an ihn!“ Und ſie ſchluckte ein paar Tränen hinunter.
Plötzlich blieb ſie ſtehen und flüſterte: „Grad' hier war's. Ach Gott, wenn ich's nochmal tun ſollte, ich würd's nicht ſagen — ich würd's nicht ſagen für die ganze Welt! Aber er iſt jetzt fortgegangen — und ich werd' ihn nie — nie wiederſehen —“
Dieſer Gedanke ließ ſie zuſammenbrechen, ſie ſchlich fort, während die Tränen ihr über die Backen niederfloſſen.
Dann kam ein Haufe Buben und Mädel — Spielkameraden von Tom und Joe, — ſchauten über den Zaun und beſprachen in halbem Ton, wie Tom dies und das tat in der letzten Zeit, wo ſie ihn geſehen hatten, und wie Joe dieſen und jenen nebenſächlichen Ausſpruch getan hatte (mit unheimlichem Vorausſehen der Ereigniſſe, wie ſie jetzt wußten!) — und jeder Sprecher bezeichnete ganz genau die Stelle, wo die vermißten Flüchtlinge damals geſtanden hatten, und dann fügten ſie hinzu: „und ich ſtand gerad ſo, gerad wie ich jetzt ſteh', und als wenn du er wäreſt, und ich hab' genau auf alles geachtet, und er lächelte — genau ſo — und dann überlief es mich ordentlich, ganz — ſchreck — lich, ihr wißt ja auch, und ich konnt' mir gar nicht denken, was es ſein könne, aber jetzt weiß ich's.“
Darauf erhob ſich ein Streit, wer die toten Jungen zuletzt geſehen habe, viele erhoben dieſen traurigen Anſpruch und boten Beweiſe, mehr oder weniger durch Zeugen erhärtet, an; und als endgültig feſtgeſtellt war, wer ſie in der Tat zuletzt geſehen und die letzten Worte mit ihnen gewechſelt hatte, bekamen die Betreffenden dadurch eine Art geheiligter Bedeutung und wurden von allen angeſtaunt und beneidet. Ein armer, kleiner Burſche, der niemals beſonders beachtet worden war, ſagte, mit ordentlich ſtolzem Ausdruck: „Na, mich hat Tom Sawyer mal geprügelt!“
Aber dieſer Ruhm war ſehr vergänglich. Die meiſten der Jungen konnten das ſagen, und das verringerte die Auszeichnung doch ſehr. Die Geſellſchaft trollte ſich, mit halber Stimme noch weiter Erinnerungen an die verlorenen Helden austauſchend.
Als am nächſten Tage die Sonntagsſchule zu Ende war, begann die Glocke zu läuten, ſtatt, wie ſonſt, zu klingeln. Es war ein ſehr ſtiller Sonntag, und der traurige Ton ſchien ſich mit der ſinnenden Ruhe, die auf der Natur lag, zu vermiſchen. Die Dorfbewohner trafen nach und nach ein, in der Vorhalle einen Augenblick ſtehen bleibend und wiſpernd ſich über das traurige Ereignis unterhaltend.
Aber im Gotteshauſe wurde nicht geflüſtert. Nur das feierliche Raſcheln der Kleider, indem ſie ſich auf ihre Plätze begaben, ſtörte hier die Stille. Niemand wußte ſich zu erinnern, daß die Kirche je ſo voll geweſen wäre.
Es war eine erwartungsvolle, dumpfe Stille, und dann trat Tante Polly, gefolgt von Sid und Mary und durch die Harperſche Familie, alle in tiefer Trauer, und die ganze Gemeinde ſowie der Geiſtliche erhoben ſich ehrfurchtsvoll und blieben ſtehen, bis die Leidtragenden auf der erſten Bank ſich niedergelaſſen hatten.
Wieder trat allgemeines Schweigen ein, nur zuweilen durch unterdrücktes Schluchzen unterbrochen, und dann erhob der Geiſtliche die Hände und betete. Ein ergreifendes Lied wurde geſungen, worauf der Text folgte: Ich bin der Troſt und das Leben.
Im Verlauf ſeiner Predigt gab der Geiſtliche ſolche Bilder von der Sanftmut, dem ehrenhaften Lebenswandel und den vielverſprechenden Talenten der verlorenen Durchgänger, daß jedermann, ſich einbildend, dieſe Porträts zu erkennen, Schmerz empfand bei dem Gedanken, daß er gegen all das bisher blind geweſen ſei und an den armen Jungen beſtändig nichts als Fehler und Flecken geſehen hatte. Der Geiſtliche erzählte manch rührendes Ereignis aus dem Leben der Verſchwundenen, das ihre ſanften, edelmütigen Naturen zeigte, und das Volk konnte jetzt leicht ſehen, wie edel und ſchön dieſe Vorkommniſſe waren und ſich mit Kummer daran erinnern, daß ſie ihnen damals, als ſie ſich zutrugen, als arge Spitzbubenſtreiche erſchienen waren, die den Ochſenziemer verdienten. Die Gemeinde wurde mehr und mehr gerührt, je weiter die ergreifende Predigt fortſchritt, bis ſchließlich alles geknickt war und ſeine tränenreichen Klagen zu einem Chorus ſelbſtanklagenden Schluchzens vereinigte; ſogar der Geiſtliche überließ ſich ſeinen Gefühlen und weinte auf offener Kanzel.
Auf dem Chor entſtand ein Raſcheln, auf das aber niemand achtete; einen Augenblick ſpäter knarrte die Tür der Kirche. Der Geiſtliche hob die ſtrömenden Augen vom Taſchentuch und ſtand wie angedonnert. Eins um das andere Augenpaar folgte dem ſeinigen, und dann, wie von einem Impuls getrieben, erhob ſich die Gemeinde und ſah, wie die drei toten Jungen ganz gemütlich den Gang heraufgeſchlendert kamen, Tom voran, dann Joe, zuletzt Huck, eine Ruine wandelnder Lumpen, mit ſchafsmäßig-verdutztem Geſicht. Sie waren in dem unbenutzten Chor verſteckt geweſen und hatten ihrer eigenen Leichenrede zugehört.
Tante Polly, Mary und die Harpers warfen ſich auf die Wiederauferſtandenen, ſie mit Küſſen überſchüttend und Dankſagungen ausſtoßend, während der arme Huck verwirrt und unbehaglich dabei ſtand, ohne im geringſten zu wiſſen, was er mit ſich anfangen und wohin er ſich vor all den Augen, von denen ihn keines bewillkommnete, wenden ſollte.
Er ſtand einen Augenblick zögernd und machte einen ſchüchternen Verſuch, ſich wegzuſtehlen, aber Tom ergriff ihn und ſagte:
„Tante Polly, 's iſt nicht recht. 's muß ſich jemand freuen, Huck wiederzuſehen!“
„Und 's ſoll auch! Ich freue mich, ihn zu ſehen, armes, verlaſſenes Kind!“
Und Tante Polly wandte ihre liebenswürdige Aufmerkſamkeit jetzt ihm zu — was ihn nur noch unbehaglicher machte als vorher.
Plötzlich ſchrie der Geiſtliche aus vollem Halſe: „Lobet den Herren, den mächtigen König der Ehren! — Singt — und legt euer Herz rein!“
Und ſie taten's. Daß alte Lob- und Danklied drang mit triumphierender Inbrunſt empor, und während es alles erzittern machte, ſchaute Tom Sawyer, der Seeräuber, um ſich auf die neidiſche Jugend ringsum und bekannte in ſeinem Herzen, daß dies der ſtolzeſte Moment in ſeinem Leben ſei!
Als die Gemeinde hinausſtrömte, meinten alle, ſie möchten ſich wohl nochmal lächerlich machen um dies Danklied nochmal ſo ſingen zu hören.
Tom erhielt an dieſem Tage mehr Püffe und Küſſe — je nach Tante Pollys Stimmung, als vorher in einem Jahre; und er wußte jetzt ganz genau, was am meiſten Dank gegen Gott und Liebe zu ihm ausdrückte.
Das war Toms großes Geheimnis — der Gedanke, nach Hauſe zurückzukehren und mit ſeinen Piratenbrüdern ihre eigene Grabrede anzuhören. Sie waren in der Nacht auf den Sonntag auf einem Baumſtamm ans Miſſouriufer hinübergeſchwommen, wo ſie fünf oder ſechs Meilen unterhalb des Dorfes landeten; hatten darauf dicht beim Orte im Walde geſchlafen bis beinahe zum hellen Tage, waren durch mehrere abgelegene Gäßchen zur Kirche geſchlichen und hatten ihren Schlaf auf dem Chor zwiſchen einem Chaos von zerbrochenen Bänken beendet.
Beim Frühſtück am Montag morgen waren Tante Polly und Mary ſehr zärtlich mit Tom und ſehr aufmerkſam auf ſeine Wünſche.
Die Unterhaltung war ungewöhnlich lebhaft. Im Verlaufe derſelben ſagte Tante Polly: „Na, Tom, ich will nicht grad' ſagen, daß es 'ne beſonders nette Sache war, alle Leute in Trübſal zu halten, faſt 'ne Woche lang, während ihr Jungen euch 'ne gute Zeit machtet; aber traurig iſt's, Tom, daß du ſo verſtockt ſein konnteſt, mich leiden zu laſſen! Wenn du auf 'nem Baumſtamme zu deiner Leichenrede rüberkommen konnteſt, hättſt du wohl auch kommen können, um mir 'n Zeichen zu geben, daß du nicht tot ſeieſt, ſondern einfach davongelaufen.“
„Ja, Tom,“ ſagte Mary, „das hättſt du tun können. Und ich glaube, du hätt'ſt es getan, wenn du dran gedacht hätteſt.“
„Hättſt du, Tom?“ fragte Tante Polly, während ihr Geſicht ſich erwartungsvoll aufhellte. „Na — ſag', hättſt du's getan, wenn du dran gedacht hätteſt?“
„Ich — na — ich weiß doch nicht! 's hätt' ja alles verraten!“
„Tom, ich hätt' doch gedacht, du hättſt mich zu lieb für ſo was,“ ſeufzte Tante Polly traurig, in einem Ton, bei dem Tom ſehr ungemütlich wurde. „'s wär' doch etwas geweſen, wenn du dir die Mühe genommen hättſt, dran zu denken — wenn du's ſchon nicht tatſt.“
„Na, Tantchen, gräm, dich nur nicht darüber,“ beruhigte Mary. „'s iſt mal ſo Toms flüchtige Art — er iſt ja immer ſo zerſtreut, daß er nie an was denkt.“
„Um ſo ſchlimmer. Sid hätt' dran gedacht. Und Sid würd' auch gekommen und 's getan haben. Tom, du wirſt eines Tages noch mal zurückdenken, wenn's zu ſpät iſt, und wünſchen, daß du dich 'n bißchen mehr um mich gekümmert hättſt, wo's dir doch ſo leicht geweſen wär'.“
„Na, Tantchen, du weißt doch, ich hab' dich lieb,“ ſchmeichelte Tom.
„Ich würd's beſſer wiſſen, wenn du's mehr zeigteſt.“
„Wollt', ich hätt' dran gedacht,“ ſagte Tom in reuevollem Ton. „aber — ich hab' wenigſtens geträumt von dir. 's iſt doch was, nicht?“
„'s iſt nicht viel — 's iſt für 'ne Katze viel — aber 's iſt mehr als nichts. Was haſt du denn geträumt?“
„Na, in der Mittwochnacht träumte mir, ihr ſäßet zuſammen, dicht beim Bett, Sid ſaß auf der Holzkiſte und Mary dicht bei ihm.“
„So war's — ſo war's ganz genau! Bin doch froh, daß du wenigſtens von uns zu träumen dich bequemt haſt.“
„Und ich träumte, Joe Harpers Mutter wär' hier.“
„Na — ſie war hier! Träumteſt du noch mehr?“
„O — 'nen Haufen! Aber 's iſt jetzt alles verſchwommen.“
„Na, verſuch's nur — beſinn' dich — geht's nicht?“
„'s ſcheint mir ſo was, als wenn der Wind — der Wind ausgeblaſen hätt' — —“
„Denk' beſſer nach, Tom! Der Wind hat nichts ausgeblaſen — na!“
Tom preßte während eines Augenblicks geſpannten Nachdenkens die Finger gegen die Stirn und ſagte dann: „Na — jetzt weiß ich's! Jetzt hab' ich's wieder! Er ließ das Licht flackern —“
„Gott erbarm' dich! Weiter. Tom, weiter!“
„Und mir kam's vor, als hättſt du geſagt: ‚Na — ich glaub' gar, die Tür —‘“
„Weiter, Tom!“
„Laß mich 'nen Augenblick nachdenken! Nur 'nen Augenblick. — Richtig, ja, — du ſagteſt, du meinteſt, die Tür wär' offen.“
„So wahr ich hier ſitz' — ich ſagte ſo! Sagt' ich's nicht, Mary? Weiter!“
„Und dann — und dann — — ja, ich weiß nicht ganz gewiß, aber 's iſt mir doch, als hättſt du Sid hingehen laſſen und — und — —“
„Na, na? Wohin ließ ich ihn gehen? Was ließ ich ihn tun, Tom?“
„Du ließeſt ihn — du, — ach, du ließeſt, ihn die Tür zumachen!“
„Beim Himmel, 's iſt ſo! So was hab' ich doch mein' Tag' noch nicht gehört! Sag' mir keiner mehr, Träume bedeuten nichts! Die überkluge Harper ſoll davon zu wiſſen bekommen, eh ich 'ne Stunde älter bin. Möcht' doch ſehen, wie ſie mit ihrem Geſchwätz von Aberglauben um das 'rum kommt! Weiter, Tom!“
„O, jetzt iſt mir alles ſo klar wie der Tag! Dann ſagteſt du, ich wär' nicht ſchlecht, nur leichtſinnig und gedankenlos, und dächte nie an irgend was — wie — wie — glaub', 's war 'n Füllen — oder ſo.“
„Na, ſo war's, ja! Na — Gottes Wunder! Weiter, Tom!“
„Und dann fingſt du an zu weinen.“
„Ja, ich tat's ich tat's! Und wahrhaftig nicht zum erſtenmal. — Und dann —“
„Dann begann Mrs. Harper zu weinen und ſagte, Joe wär' grad' ſo einer, und ſie wollte, ſie hätt' ihn nicht gehaun deswegen, daß er den Rahm genommen haben ſollte, den ſie doch ſelbſt weggeſchüttet gehabt hätt' —“
„Tom! Der Geiſt war über dir! Du hattſt Sehergabe — ja, gewiß, das hattſt du! Herrgott! Weiter, Tom!“
„Dann ſagte Sid — — er ſagte —“
„Glaub', ich ſagte gar nichts,“ warf Sid ſchnell ein.
„Doch, du tatſt es Sid,“ entgegnete Mary.
„Laßt das Zanken und laßt Tom ſprechen. Was ſagte er, Tom?“
„Er ſagte — ich denk', er ſagte, er hoffe, ich wär beſſer dran, wo ich ſetzt ſei, aber wenn ich manchmal beſſer geweſen wär' —“
„Da — hört ihr's? 's waren ſeine eigenen Worte!“
„Und du leuchteteſt ihm ordentlich heim.“
„Ich denke wohl, daß ich's tat! 's muß ein Engel hier geweſen ſein! Ein Engel war hier, 's iſt zweifellos!“
„Und Mrs. Harper erzählte von Joe, wie er ihr durch 'nen Schwärmer 'nen Schrecken eingejagt hätte, und du erzählteſt von Peter und dem ,Schmerzenstöter' —“
„So wahr ich leb'!“
„Und dann ſchwatztet ihr alle durcheinander, daß der Fluß nach uns durchſucht worden ſei und daß am Sonntag unſere Leichenfeier ſein ſollt', und dann fielſt du und die alte Mrs. Harper euch in die Arme und weintet, und dann ging ſie fort.“
„'s war ganz genau ſo! 's war genau ſo, ſo gewiß, wie ich hier aus dem Stuhl ſitz'. Tom, hättſt es nicht beſſer erzählen können, wenn du hier geweſen wärſt! Und was dann? Weiter, Tom!“
„Dann träumte ich, daß du für mich beteteſt — und ich konnt dich ſehen und jedes Wort hören, das du ſagteſt. Und dann gingſt du zu Bett, und ich war ſo traurig, daß ich auf 'n Stück Sykomorenrinde ſchrieb: ‚Wir ſind nicht tot — wir ſind nur fort, um Piraten zu werden,‘ und legte das auf den Tiſch neben den Leuchter. Und dann ſahſt du ſo lieb aus, wie du dalagſt und ſchliefſt, daß ich träumte, ich beugte mich über dich und küßte dich.“
„Tatſt du's, Tom? Tatſt du's? Dafür vergeb' ich dir wahrhaftig alles!“
Und ſie ſchloß den Jungen mit ſolcher Inbrunſt in ihre Arme, daß er ſich wie der ſchwärzeſte der Verräter erſchien.
„'s war ſehr nett — 's war aber doch nur ein — Traum,“ brummte Sid für ſich halblaut, aber hörbar.
„Halt den Mund, Sid! Jedermann tut im Traum ganz genau dasſelbe, was er tun würde, wenn er wach wär'! Hier, Tom, iſt ein ſchöner Apfel, den ich für dich aufgehoben hab', wenn du mal wiedergefunden würdſt — nun fort zur Schule! Ich dank dem lieben Gott und Vater für uns alle, daß ich dich wiederbekommen hab', er iſt langmütig und barmherzig gegen die, ſo an ihn glauben und ſein Wort halten; obwohl ich weiß, daß ich ſeine Güte nicht verdiene; aber wenn nur die Guten ſeinen Segen hätten und ſeine Hand, ihnen auf den rauhen Pfaden des Lebens beizuſtehen, würd' hier wenig Fröhlichkeit ſein, und wenige würden, wenn die lange Nacht kommt, zu ſeiner Herrlichkeit eingehen dürfen. — Na, macht fort, Sid, Mary, Tom — macht fort, packt euch, habt mich lange genug aufgehalten.“
Die Kinder gingen zur Schule und die alte Dame zu Mrs. Harper, um ihren Unglauben durch Toms wundervollen Traum zu vernichten. Sid hütete ſich wohl, den Gedanken auszuſprechen, der ihn beherrſchte, als er das Haus verließ: „Ein bißchen durchſichtig — 's iſt doch zu lang für 'nen Traum, — und nicht ein Irrtum.“
Welch ein Held war Tom geworden! Er ſprang und tollte nicht mehr herum, ſondern bewegte ſich mit würdevollem Ernſt, wie es ſich für einen Piraten geziemt, der fühlt, daß er der Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerkſamkeit iſt. Und er war es in der Tat; er ſuchte ſich ſo zu ſtellen, als ſehe er die Blicke nicht und höre nicht die Bemerkungen, wie er ſo dahinſchlenderte, aber ſie waren wahrer Balſam für ihn. Kleinere Jungen als er hefteten ſich an ſeine Ferſen, ſtolz, mit ihm geſehen zu werden und von ihm geduldet, als wäre er der Trommler an der Spitze einer Prozeſſion geweſen oder der Elefant, der eine Menagerie in die Stadt führt. Gleichalterige Jungen wollten gar nicht wiſſen, daß er überhaupt fortgeweſen ſei, aber ſie verzehrten ſich nichtsdeſtoweniger vor Neid. Sie hätten alles dafür gegeben, ſeine dunkle, ſonnenverbrannte Haut zu beſitzen und ſeinen glänzenden Ruf; und Tom hätte beides nicht einmal für einen Zirkus fortgegeben.
In der Schule machten die Kinder ſo viel aus ihm und Joe, und zeigten ihnen ſo wortreiche Bewunderung, daß es gar nicht lange dauerte, bis die beiden Helden ganz unleidlich aufgeblaſen wurden. Sie fingen an, ihre Abenteuer ihren hungrigen Zuhörern zu erzählen — aber ſie fingen immer nur an; die Geſchichten konnten auch kein Ende haben bei einer an ausſchmückenden Abſchweifungen ſo fruchtbaren Phantaſie als die ihrige war. Und ſchließlich, als ſie ihre Pfeifen herauszogen und nachläſſig anfingen, zu rauchen, war der höchſte Gipfel des Ruhmes erreicht.
Tom nahm ſich vor, in Zukunft ſich nicht mehr um Becky Thatcher zu kümmern. Ruhm war ihm genug. Er wollte nur für den Ruhm leben. Nun er eine hervorragende Perſönlichkeit war, würde ſie wohl verſuchen, wieder „anzubinden“. Na, mochte ſie — ſie ſollte ſehen, daß er ebenſo unempfänglich ſein konnte wie andere Leute. Grade kam ſie daher. Tom ſtellte ſich, als ſehe er ſie nicht. Er ging fort und geſellte ſich zu einer anderen Gruppe Buben und Mädchen und begann zu erzählen. Bald merkte er, daß ſie aufgeregt, mit glühenden Backen und glänzenden Augen, umhertrippelte und ſich ſtellte, als denke ſie an gar nicht anderes, als ſich mit anderen Schulmädchen herumzuſchubſen und ein lautes Gelächter auszuſtoßen, wenn ſie eine erwiſcht hatte; aber er merkte auch, daß ſie ihre Gefangenen immer in ſeiner Nähe machte, und daß ſie dann ſtets verſtohlen zu ihm hinüberſchielte. Das ſchmeichelte der laſterhaften Eitelkeit in ihm, und ſtatt daß es ihn getrieben hätte, wieder einzulenken, machte es ihn nur noch arroganter und ließ ihn noch gefliſſentlicher eine Miene aufſetzen, als wiſſe er gar nichts von ihrer Anweſenheit. Plötzlich gab ſie ihr Umhertollen auf, ſtrich unentſchloſſen herum, ſeufzte ein paarmal und ſuchte Tom verſtohlen und ſehnſuchtsvoll mit den Augen. Dann entdeckte ſie, wie angelegentlich Tom mit Amy Lawrence plauderte. Sie empfand einen ſtechenden Schmerz und wurde auf einmal zerſtreut und unſicher. Sie nahm ſich vor, davonzugehen, aber ihre Füße trugen ſie, ihrem Vorſatz zum Trotz, wieder zu der Gruppe hin. Sie ſagte zu einem Mädchen, unmittelbar neben Tom — mit erzwungener Ausgelaſſenheit: „Du, Mary Auſtin! Du böſes Mädel, warum kamſt du geſtern nicht zur Sonntagsſchule?“
„Ich war doch da — haſt du mich denn nicht geſehen?“
„Aber, nein! Warſt du da? Wo ſaßeſt du denn?“
„In Miß Peters ihrer Klaſſe, wo ich immer ſitze. Ich hab' dich geſehen.“
„So, wirklich? Na, 's iſt doch närriſch, daß ich dich nicht geſehen hab'. Ich wollt' dir doch von dem Picknick ſagen.“
„O, das iſt famos! Wer will eins geben?“
„Meine Mama läßt mich eins geben.“
„Ach, wie reizend! Hoff doch, daß ich auch kommen darf?“
„Na, natürlich, 's iſt doch mein Picknick. 's kann jeder kommen, den ich will — und dich will ich.“
„Das iſt mal nett. Wann iſt's denn?“
„Na — bald. So um die Ferien 'rum.“
„Das wird mal 'n Spaß! Haſt du alle Knaben und Mädchen eingeladen?“
„Ja, alle, die meine Freunde ſind — oder ſein wollen,“ und ſie ſchielte wieder ſo verſtohlen nach Tom; aber er erzählte grade Amy Lawrence von dem ſchrecklichen Sturm auf der Inſel und wie der Blitz die große Sykomore traf, „ganz dicht bei mir, keine drei Schritt davon.“
„Du, darf ich auch kommen?“ fragte Gracie Miller.
„Und ich?“ Sally Rogers.
„Und ich auch?“ Suſy Harper. „Und Joe?“
„Ja.“
Und ſo immer weiter mit freudigem Händeklatſchen, bis alle in der Gruppe ſich ihre Einladung geholt hatten bis auf Tom und Amy. Dann wandte ſich Tom kalt ab, immer noch erzählend, und zog Amy mit ſich fort. Beckys Lippen zitterten, und die Tränen traten ihr in die Augen. Sie unterdrückte dieſe verräteriſchen Zeichen mit forzierter Heiterkeit und fing an zu plappern, aber das Vergnügen am Picknick war zu Ende, und auch aus allem anderen machte ſie ſich nun nichts mehr. Sobald es ging, lief ſie davon, verſteckte ſich und befreite ſich nach der Art ihres Geſchlechts durch Tränen von ihrem Kummer. Dann ſaß ſie verdrießlich, mit beleidigter Miene da, bis die Glocke erklang. Mit rachſüchtigem Ausdruck in den Augen ſprang ſie auf, gab ihren dicken Zöpfen einen tüchtigen Schubs und dachte, ſie wiſſe jetzt ſchon, was ſie zu tun habe.
In der Ecke ſetzte Tom ſeine Schäkerei mit Amy mit jubelnder Selbſtzufriedenheit fort. Und er brannte darauf, Becky zu finden und ſie mit ſeiner Überlegenheit zu foltern. Schließlich entdeckte er ſie, aber das Herz fiel ihm plötzlich in die Hoſen. Sie ſaß auf einem Bänkchen hinterm Schulhaus ganz gemütlich, mit Alfred Temple, in ein Bilderbuch ſchauend. Und ſo vertieft waren beide, und ihre Köpfe ſteckten über dem Buch ſo dicht zuſammen, daß ſie gar nichts um ſich her wahrzunehmen ſchienen. Eiferſucht rann glühend heiß durch Toms Adern. Er begann, ſich ſelbſt zu haſſen, weil er die Gelegenheit zur Verſöhnung, die ihm Becky geboten, nicht benützt hatte. Er nannte ſich ſelbſt einen Narren und gab ſich alle Ehrentitel, die ihm gerade einfallen wollten. Er hätte ſchreien mögen vor Wut. Amy ſchwatzte ganz vergnügt weiter, indem ſie auf und ab gingen, denn ihr Herz war voll Seligkeit, aber Toms Zunge ſchien gelähmt zu ſein. Er hörte gar nicht, was Amy ſagte, und ſo oft ſie eine Pauſe machte, um ſeine Antwort abzuwarten, konnte er nur irgend eine tölpelhafte Bemerkung hervorſtammeln, die möglichſt oft ganz falſch angebracht war. Immer wieder ſuchte er nach der Hinterſeite des Schulhauſes zu gelangen, um ſich an dem verhaßten Anblick zu weiden. Er konnte nicht anders. Und es folterte ihn, zu ſehen, wie Becky Thatcher gar nicht zu wiſſen ſchien, daß er auch noch im Lande oder überhaupt unter den Lebenden weile. Indeſſen ſah ſie ihn ſehr wohl; und ſie war ſich ihres Sieges ſehr wohl bewußt und ſah ihn mit Wolluſt ebenſo leiden, wie ſie vorher gelitten hatte.
Amys Glück fing an, unerträglich zu werden. Tom ſchützte allerlei Angelegenheiten, die er zu erledigen hatte, vor. Er mußte fort, und die Zeit verrann. Aber vergeblich — das Mädel ließ nicht locker. Tom dachte: O, hol ſie der Teufel — ſoll ich ſie nie los werden? Schließlich mußte er aber wirklich ſeine Angelegenheiten beſorgen; ſie gab ihm arglos das Verſprechen, nach der Schule ihm „auflauern“ zu wollen. Und er rannte davon, ſie dafür verwünſchend.
„Jeder andere Junge!“ dachte Tom, mit den Zähnen knirſchend, „jeder andere im ganzen Dorf, nur nicht dieſer Heilige, der denkt, weil er ſich fein anzieht, iſt er 'n Vornehmer. Na, wart' nur! Hab' ich dich am erſten Tag, wo du hier warſt, geprügelt, mein Kerlchen, werd' ich's jetzt ja wohl auch noch können! Wart' nur, bis ich dich mal tüchtig beim Kragen nehm'! Möcht's gleich tun am liebſten, und —“
Und mit wahrer Wonne prügelte er 'nen imaginären Jungen durch — in der Luft herumfuchtelnd, ſtoßend und puffend.
„Na, wird's — wird's? Wirſt du bald ‚genug‘ ſagen? So, nu merk's dir für 'n andermal!“
So war der Kampf bald zu ſeiner Zufriedenheit beendigt.
Tom rannte mittags heim. Sein Gewiſſen ertrug's nicht, nochmals Amys dankbare Glückſeligkeit anzuſehen, und ſeine Eiferſucht erlaubte keine andere Zerſtreuung. Becky ſetzte ihr Bilder-Beſehen mit Alfred fort, aber als ſich Minute an Minute reihte und kein Tom kam, um ſich quälen zu laſſen, begann ihr Triumphgefühl ſich abzukühlen, und ſie verlor das Intereſſe; Unaufmerkſamkeit und Geiſtesabweſenheit folgten, und dann Melancholie. Ein paarmal fing ſie mit dem Gehör Fußtritte auf, aber es war jedesmal vergebliches Hoffen; kein Tom kam. Schließlich wurde ihr ganz elend zumute, und ſie wünſchte, ſie hätte die Sache nicht ſo weit getrieben. Als der arme Alfred bemerkte, daß ſie ihm entſchlüpfte, nicht wußte, wie, und fortwährend krampfhaft ſchrie: „O, hier iſt 'n famoſes! Schau dies mal an!“ verlor ſie ſchließlich die Geduld und ſagte: „Ach was, quäl' mich nicht! Hab' keine Luſt mehr dazu!“ brach in Tränen aus, ſprang auf und rannte davon.
Alfred trottete nebenher und wollte ſie tröſten und beruhigen, aber ſie ſagte:
„Mach, daß du dich fortſcherſt und laß mich allein, willſt du? Ich mag dich gar nicht!“
So blieb der Junge denn zurück, ſich wundernd, was er verbrochen haben könne — denn ſie hatte ihm doch verſprochen, den ganzen Nachmittag Bilder zu beſehen — und ſie rannte heulend davon. Dann kehrte Alfred betrübt ins Schulhaus zurück. Er fühlte ſich gedemütigt und beleidigt. Er fand aber ſehr leicht die Wahrheit heraus — das Mädel hatte ganz einfach ihr Spiel mit ihm getrieben, nur um ihren Zorn an Tom Sawyer auszulaſſen. Er haßte Tom durchaus nicht weniger, als dieſer Gedanke in ihm aufſtieg. Nichts wünſchte er mehr, als auf irgend eine Weiſe dieſem Jungen was einzubrocken, ohne ſelbſt was zu riskieren. Toms Rechtſchreibebuch fiel ihm in die Augen. Die Gelegenheit war günſtig. Dankbar öffnete er es bei der Lektion für den Nachmittag und goß Tinte über die Seite. Becky, einen Augenblick hinter ihm durchs Fenſter ſchauend, ſah es und drückte ſich davon, ohne ſich zu verraten.
Sie lief nach Haus, in der Abſicht, Tom zu ſuchen und ihm alles zu ſagen. Tom würde ihr dankbar ſein und aller Zank wäre damit zu Ende. Bevor ſie aber den halben Weg zurückgelegt hatte, war ſie anderen Sinnes geworden. Der Gedanke daran, wie ſie Tom behandelt hatte, als ſie von ihrem Picknick ſprach, kam wieder brennend über ſie und erfüllte ſie mit Scham.
Sie beſchloß, ihn in der Sache mit dem beſchmutzten Buch ruhig in der Patſche ſtecken zu laſſen und ihn obendrein für immer und ewig zu haſſen.
Tom langte in verdrießlichſter Laune zu Hauſe an, und das erſte Wort, das Tante Polly an ihn richtete, zeigte ihm, daß er ſeinen Kummer an einen ſehr wenig verſprechenden Ort getragen habe.
„Tom, ich möchte dir doch gleich die Haut über die Ohren ziehn!“
„Tantchen, was hab' ich denn getan?“
„Na, du haſt genug getan. Da geh' ich altes, einfältiges Weib zur Harper hinüber und denk', ich will ſie an all den Unſinn vom Träumen glauben machen, und ſiehe da — ſie hat von Joe herausbekommen, daß du 'rüber gekommen biſt und haſt alles gehört, was wir in der Nacht geſprochen haben. Tom, ich weiß nicht, was aus 'nem Jungen werden ſoll, der ſich ſo benimmt. 's macht mich ſo traurig, zu denken, daß du mich ruhig zur Harper gehen ließt und ſo 'ne Närrin aus mir machen konnteſt — ohne 'n Wort zu ſagen.“
Das war nun 'ne neue Anſicht von der Sache. Seine Geriſſenheit von heut morgen war Tom als famoſer Witz und äußerſt genial erſchienen. Jetzt erſchien ſie ihm höchſt mittelmäßig und ſchäbig. Er ließ den Kopf hängen und wußte in dieſem Augenblick nicht, was ſagen. Dann ſagte er ſchüchtern:
„Tantchen, ich wollt', ich hätt's nicht getan — aber ich dachte nicht dran.“
„Ach, Kind, du denkſt eben nie. Du denkſt an nichts als dein eigenes Pläſier. Daran haſt du gedacht, den weiten Weg von Jackſons Inſel herüber bei Nacht und Nebel zu machen, um über unſern Kummer zu lachen, und haſt dran gedacht, mich mit 'ner Lüge von dem Traum zu betrügen, aber daran haſt du nicht gedacht, Mitleid zu haben und uns vor Sorge zu bewahren.“
„Tantchen, ich weiß jetzt, 's war gemein, aber 's war ja nicht meine Abſicht, gemein zu ſein; auf Ehre, das war's nicht! Und dann — ich bin nicht rüber gekommen, um über euch zu lachen!“
„Warum alſo biſt du gekommen?“
„'s war, um dir zu ſagen, daß du dir keine Sorge zu machen brauchſt, weil wir davongelaufen waren.“
„Tom, Tom, ich wäre die dankbarſte alte Frau auf der Welt, wenn ich dran glauben könnte, daß du daran gedacht haſt, aber du weißt, du tatſt es nicht, und ich weiß es auch, Tom.“
„Aber, gewiß — ganz gewiß, 's war ſo, Tantchen — ich will mich nicht mehr rühren können, wenn's nicht ſo iſt!“
„Ach, Tom, lüg' nicht — tu's nicht! Das macht die Sache nur hundertmal ſchlimmer.“
„Ich hab' aber nicht gelogen, Tante. 's iſt die Wahrheit! Ich wollt' dir den Kummer erſparen — das allein war's, was mich nach Hauſe trieb.“
„Die ganze Welt würd' ich drum geben, könnt' ich's glauben! 'nen ganzen Haufen Dummheiten würd' ich dir dafür vergeſſen, Tom. 's war ſchlimm genug, daß du fortliefſt und ſo ſchlecht handelteſt. Aber, 's iſt begreiflich. Aber warum ſagteſt du mir's nicht, Tom?“
„Warum? Na — ſieh, Tante, als ihr anfingt, vom Trauergottesdienſt zu ſprechen, kam mir auf einmal die Idee, 'rüber zu kommen und mich in der Kirche zu verſtecken und da bracht' ich's nicht fertig, mir das ſelbſt zu verderben. So ſteckt' ich die Rinde wieder in die Taſche und hielt den Mund.“
„Was für 'ne Rinde?“
„Die Rinde, worauf ich geſchrieben hatte, daß wir Piraten geworden ſeien. Jetzt wollt' ich nur, du wärſt aufgewacht, als ich dich küßte — auf Ehre, ich wollt's!“
Das ſtrenge Geſicht Tante Pollys hellte ſich auf und Zärtlichkeit zitterte in ihrer Stimme: „Haſt du mich geküſſt, Tom?“
„Freilich hab' ich's getan.“
„Weißt du's gewiß, daß du's tatſt?“
„Aber ja, ich tat's, Tantchen — ganz gewiß!“
„Warum küßteſt du mich, Tom?“
„Weil ich dich lieb hab', und du im Schlafen ſeufzteſt und ich ſo traurig war.“
Die Worte klangen wahr. Die alte Dame konnte das Zittern in ihrer Stimme nicht verbergen, als ſie ſagte: „Küß mich noch mal, Tom! — Und jetzt fort mit dir zur Schule, und ärgere mich nicht wieder.“
Sobald er fort war, rannte ſie zum Wandſchrank und riß die Ruine der Jacke heraus, in der Tom unter die Piraten gegangen war. Dann hielt ſie wieder inne und ſagte zu ſich: „Nein, ich tu's nicht. Armer Junge — ich denke, du haſt's gelogen — aber 's iſt 'ne geſegnete, geſegnete Lüge, 's iſt was Treuherziges drin. Ich hoffe, der Herr — ich weiß, der Herr wird ihm vergeben, denn 's war doch gutherzig von ihm, das zu ſagen. Aber, ich will gar nicht wiſſen, daß es 'ne Lüge iſt. Ich will nicht nachſehn.“
Sie tat die Jacke wieder fort und ſtand eine Minute unentſchloſſen. Zum zweitenmal ſtreckte ſie die Hand aus nach dem Kleidungsſtück, und zum zweitenmal zog ſie ſie zurück. Und nochmals griff ſie danach, und diesmal ermutigte ſie ſich ſelbſt mit dem Gedanken: „'s iſt 'ne gute Lüge — 's iſt 'ne gute Lüge — ich will mich nicht dadurch kränken laſſen.“ So griff ſie in die Taſche der Jacke. Einen Moment ſpäter las ſie unter Tränen Toms Schriftſtück und ſchluchzte: „Jetzt könnt' ich dem Jungen vergeben, und wenn er 'ne Million dummer Streiche gemacht hätte.“
Es war etwas in Tante Pollys Art, als ſie Tom küßte, das ſeinen betrübten Geiſt wieder aufrichtete und ihn wieder leichtherzig und glücklich machte. Er rannte zur Schule und hatte das Glück, auf Becky Thatcher zu ſtoßen. Seine Stimmung wechſelte beſtändig. Ohne einen Augenblick der Überlegung rannte er auf ſie zu und ſagte: „Hab' mich heut morgen ganz gemein benommen, Becky, und jetzt bin ich ſo traurig drüber. Ich will nie, nie wieder ſo was tun, ſo lang' ich leb' — willſt du jetzt wieder gut ſein?“
Das Mädchen blieb ſtehen und ſchaute ihn verächtlich an: „Ich würd' dir dankbar ſein, wenn du dich um dich ſelbſt kümmern würdſt, Herr Thomas Sawyer! Ich werd' nie wieder mit dir ſprechen.“
Sie hob ſtolz den Kopf und ſpazierte davon. Tom war ſo verblüfft, daß er nicht mal Geiſtesgegenwart genug hatte, zu ſagen: „Wie's beliebt, Jungfer Naſeweis,“ bis der rechte Augenblick vorüber war. So ſagte er gar nichts.
Aber er war nichtsdeſtoweniger in heller Wut. Er rannte auf den Schulhof, wünſchend, ſie wär 'n Junge, und ſich vorſtellend, wie er ſie durchprügeln wollte, wenn ſie einer wär. Er ſuchte ihr zu begegnen, und als ſie vorbeikam, ſchleuderte er ihr eine biſſige Bemerkung zu. Sie gab ſie ihm zurück, und der traurige Bruch war vollſtändig. Becky glaubte, in ihrem Haß kaum abwarten zu können, bis die Schule begönne, ſo ungeduldig war ſie, Tom ſeine Prügel für das beſudelte Buch bekommen zu ſehen. Wenn ſie noch ein bißchen gezweifelt hatte, ob ſie Alfred Temple anzeigen ſolle, hatte Toms beleidigendes Benehmen dieſe Zweifel endgültig beſeitigt.
Armes Mädchen, ſie wußte nicht, wie nahe ſie ſelbſt ſolchem Unglück ſei. Der Lehrer, Mr. Dobbins, hegte trotz ſeiner mittleren Jahre noch unbefriedigten Ehrgeiz. Sein Lieblingswunſch war geweſen, Doktor zu werden, aber Armut hatte entſchieden, daß er nichts weiter werden ſolle als ein Dorfſchulmeiſter. Täglich zog er ein geheimnisvolles Buch aus ſeinem Pult und vertiefte ſich darin, wenn gerade keine der Klaſſen aufſagte. Er hielt das Buch unter ſicherem Verſchluß. Nicht ein Bengel war in der Schule, der nicht darauf gebrannt hätte, einen Blick hineinzuwerfen, aber es bot ſich niemals eine Gelegenheit. Alle Buben und Mädel hatten ihre eigene Anſicht über den Inhalt des Buches; aber nicht zwei Anſichten ſtimmten überein, und es gab kein Mittel, dieſe Streitfrage zu entſcheiden. Jetzt, als Becky am Pult vorbeikam, das nahe der Tür ſtand, ſah ſie, daß der Schlüſſel ſteckte. 's war ein wundervoller Moment. Sie ſchaute um ſich, ſah ſich allein und im nächſten Augenblick hielt ſie das Buch in der Hand. Das Titelblatt — „Anatomie von Profeſſor Irgendwer“ — brachte ihr keine Aufklärung. So begann ſie die Blätter umzuwenden. Plötzlich ſtieß ſie auf eine hübſche geſtochene und übermalte Abbildung — eine menſchliche Figur. In dem Augenblick fiel ein Schatten aufs Papier, und Tom kam ins Zimmer gerannt und gewahrte ein Eckchen der Abbildung. Becky hielt das Buch raſch beiſeite, wollte es zumachen und hatte das Unglück, das Bild bis faſt zur Mitte durchzureißen. Sie warf das Buch ins Pult, drehte den Schlüſſel um und rannte davon, vor Wut und Schrecken ſchreiend: „Tom Sawyer, du biſt doch ſo gemein wie nur möglich, jemand ſo zu erſchrecken und zu ſehen, was man da grad hat!“
„Aber, wie konnt' ich denn wiſſen, daß du da was beſehen haſt?“
„Du ſollteſt dich vor dir ſelbſt ſchämen, Tom Sawyer! Du weißt wohl, daß du mir aufgepaßt haſt! Ach Gott, was ſoll ich tun, was ſoll ich tun! Ich werd' geprügelt, und ich bin noch nie — mals geprügelt worden in der Schule —“ Dann ſtampfte ſie mit ihrem kleinen Fuß und heulte: „Sei ſo gemein, wenn du willſt! Ich weiß auch was, was du kriegſt! Wart nur, wirſt's ſchon ſehn! Scheußlich!“ Und ſie rannte aus der Tür, unter einer neuen Flut von Tränen.
Tom ſtand ſtill, ganz erſtaunt über dieſen Ausbruch. Dann ſagte er zu ſich: „Was für 'n ſonderbares Stück von 'ner Närrin ſo 'n Mädel iſt. Niemals geprügelt in der Schule! Gott, was ſind Prügel! Das iſt recht ſo 'n Mädel — alle ſind ſie dünnhäutig und ſchwachherzig. Na, ich werd' nicht hingehn und dieſe Närrin beim alten Dobbins verklatſchen, aber 's kommt auf irgend 'ne andere Art ja doch raus; na, was geht's mich an? Der alte Dobbins wird fragen, wer das Buch zerriſſen hat. 's wird's niemand ſagen. Dann fragt er der Reihe nach, wie er's immer tut — fragt die erſte und dann ſo weiter, und dann, wenn er ans rechte Mädel kommt, weiß er's, ohne daß ſie's ſagt. Die Mädel verraten ſich ja immer! Sie haben auch gar keinen Schneid. Sie verrät ſich gleich. Na, 's iſt 'ne nette Patſche für Becky Thatcher, 's gibt kein Mittel, da raus zu kommen.“ Tom dachte noch einen Augenblick darüber nach und fügte dann hinzu: „Na, meinetwegen; 's wird ihr Spaß machen, mich in ſo 'ner Patſche ſtecken zu ſehn — mag ſie's auch mal ausbaden!“
Tom begab ſich wieder zu der Geſellſchaft ſpektakelnder Jungen draußen. Bald kam der Lehrer und die Schule begann. Tom fühlte kein beſonderes Intereſſe fürs Studium. Fortwährend ſchielte er auf die Mädchenſeite, Beckys Geſicht ſtörte ihn. Alles in allem, fühlte er kein Mitleid mit ihr und dann konnte er ihr ja auch nicht helfen. Aber er konnte auch keine rechte Schadenfreude, die dieſen Namen wirklich verdient hätte, auftreiben.
Plötzlich wurden die Tintenkleckſe in ſeinem Buche entdeckt, und jetzt war ſein Geiſt mit ſeinen eigenen Angelegenheiten beſchäftigt. Becky fuhr aus ihrer Zerſtreutheit auf und verfolgte mit großem Intereſſe die weitere Entwickelung. Sie glaubte nicht, daß ſich Tom herausreden könne, und ſie hatte recht. Das Leugnen ſchien die Sache für Tom nur ſchlimmer zu machen. Becky bemühte ſich nach Kräften, ſich drüber zu freuen, und verſuchte auch, zu glauben, daß ſie ſich drüber freue, aber ſie fand, daß es doch nicht ſo ganz gewiß ſei. Als die Situation ganz kritiſch wurde, fühlte ſie die Verſuchung, aufzuſpringen und Alfred Temple anzuzeigen, aber ſie machte eine Anſtrengung und bezwang ſich, zu ſchweigen, denn, ſagte ſie zu ſich: „Er wird mich mit dem Bild anzeigen, ganz gewiß. Ich würd' kein Wort ſagen, und könnt' ich ſein Leben retten.“
Tom nahm ſeine Prügel in Empfang und ging auf ſeinen Platz zurück, nicht ſo ganz mit gebrochenem Herzen, denn er ſagte ſich, es wäre möglich, daß er ſelbſt die Tinte über das Buch gegoſſen habe, ohne es zu wiſſen — in Gedanken; geleugnet hatte er nur der Form wegen und weil's mal ſo Sitte war, und beim Leugnen geblieben war er aus Prinzip.
Eine ganze Stunde ſchlich herum; der Lehrer ſaß nickend auf ſeinem Thron, die Luft wurde nur von dem Gemurmel der Lernenden bewegt. Allmählich richtete ſich Mr. Dobbins auf, gähnte, ſchaute in ſeinem Reiche umher und griff nach ſeinem Buch, ſchien aber unentſchloſſen, ob er es herausnehmen oder liegen laſſen ſolle. Die meiſten Augen leuchteten ſchwach auf, aber zwei waren unter den Kindern, welche alle ſeine Bewegungen mit Intereſſe verfolgten. Mr. Dobbins fingerte ein paar Augenblicke in Gedanken am Buche herum, dann nahm er's heraus und ſetzte ſich im Stuhl zurecht, um zu leſen.
Tom ſchielte auf Becky. Er fing einen ſuchenden, hilfloſen, furchtſamen Blick auf, der wie eine Kugel ſein Herz durchbohrte. Sofort vergaß er ſeinen Streit mit ihr. Ruhig — etwas mußte geſchehen! und zwar ſofort geſchehen! Aber ſeine Tatkraft wurde durch die Unmittelbarkeit der Gefahr gelähmt. Gott — er hatte eine Idee! Er wollte hinſtürzen, das Buch ergreifen, aus der Tür rennen und fort! Aber er zauderte einen einzigen Moment, und die Gelegenheit war vorbei — der Lehrer öffnete das Buch. Hätte Tom doch die Gelegenheit nochmals zurückrufen können! Zu ſpät — er wußte, für Becky gab's keine Rettung mehr! Im nächſten Augenblick hatte der Lehrer das Verbrechen entdeckt. Jedes Auge ſenkte ſich unter ſeinem ſtarren Blick. Es lag etwas darin, was auch den Unſchuldigſten mit Furcht erfüllte. Stillſchweigen herrſchte, daß man hätte bis wenigſtens zehn zählen können. Der Lehrer wurde beſtändig zorniger. Nun fragte er: „Wer zerriß dieſes Buch?“
Kein Ton. Man hätte eine Stecknadel fallen hören. Das Stillſchweigen dauerte fort. Der Lehrer prüfte ein Geſicht nach dem anderen auf etwaiges Schuldbewußtſein hin.
„Benjamin Rogers, zerriſſeſt du dieſes Buch?“
Kopfſchütteln. Neue Pauſe.
„Joſef Harper, tateſt du es?“
Wiederum Kopfſchütteln. Toms Unruhe wurde größer und größer unter der langſamen Tortur dieſes Vorgehens. Der Lehrer betrachtete prüfend die Bänke der Knaben eine Weile, dann wandte er ſich zu den Mädchen:
„Amy Lawrence?“
Kopfſchütteln.
„Gracie Miller?“
Dasſelbe Zeichen.
„Suſan Harper, tateſt du dies?“
Wiederum Verneinung. Das nächſte Mädchen war Becky Thatcher. Tom zitterte von Kopf bis zu Fuß vor Aufregung und dem Gefühl der Machtloſigkeit.
„Rebekka Thatcher“ — (Tom ſchielte auf ihr Geſicht, es war weiß vor Schreck) — „zerriſſeſt du — nein, ſieh mir ins Geſicht“ — (ihre Hände erhoben ſich bittend) „zerriſſeſt du dieſes Buch?“
Ein Gedanke ſchoß gleich einer Erleuchtung durch Toms Hirn. Er ſprang auf die Füße und rief: „Ich tat's! —“
Die ganze Schule war ſtarr vor Staunen über ſolche Kühnheit. Tom ſtand einen Moment unbeweglich, um ſeine Lebensgeiſter zu ſammeln; und als er vorſchritt, ſeine Prügel in Empfang zu nehmen, ſchienen ihm Überraſchung, Dankbarkeit, Anbetung, die aus den Augen der armen Becky zu ihm ſprachen, Lohn genug für hundert Trachten Prügel. Begeiſtert durch den Glanz ſeiner eigenen Tat, nahm er ohne einen einzigen Schrei die ſaftigſten Prügel entgegen, die Mr. Dobbins jemals ausgeteilt hatte; ebenſo gleichgültig empfing er die grauſame Verſchärfung der Strafe durch Zuerteilung von zwei Stunden Arreſt — denn er wußte, wer draußen auf ihn warten würde, bis ſeine Gefangenſchaft vorüber ſei.
Tom ging an dieſem Abend zu Bett voll Rachegedanken gegen Alfred Temple; denn voll Scham und Reue hatte Becky ihm alles geſagt, ihre eigene Verräterei nicht vergeſſend. Aber ſelbſt das Verlangen nach Rache mußte bald weicheren Gefühlen weichen, und er ſchlief ein, Beckys letzte Worte als ſüße Muſik in ſeinen Ohren:
„Tom, wie konnteſt du ſo edel ſein!“
Die Ferien nahten heran. Der Lehrer, immer ſtreng, wurde jetzt noch ſtrenger und genauer, denn er wollte ſich am Examenstage mit ſeiner Schule von der beſten Seite zeigen. Rute und Lineal kamen jetzt ſelten zur Ruhe — beſonders bei den kleinen Burſchen. Nur die größten Jungen und die jungen Damen von achtzehn bis zwanzig kamen ohne Prügel davon.
Und Mr. Dobbins' Prügel waren noch dazu ganz ausgeſucht. Denn obwohl er unter ſeiner Perücke einen vollkommen kahlen und glänzenden Schädel barg, ſtand er doch erſt in mittleren Jahren und fühlte durchaus noch keine Schwäche in ſeinen Muskeln. Als der große Tag herannahte, trat alle Tyrannei, die in ihm war, zutage; er ſchien ein grauſames Vergnügen daran zu finden, das kleinſte Verbrechen zu beſtrafen. Die Folge davon war, daß auch die kleinſten Burſchen ihre Tage in Schrecken und Angſt verbrachten, ihre Nächte in finſterem Rachebrüten. Sie ließen ſich keine Gelegenheit entgehen, dem Lehrer einen Streich zu ſpielen. Aber er blieb ſtets Sieger. Die Vergeltung, welche jeder Rachetat folgte, war ſo ausgiebig und großartig, daß die Jungen ſtets ſchmählich geſchlagen den Kampfplatz verließen. Schließlich zettelten ſie eine gemeinſame Verſchwörung an und heckten einen Plan aus, der einen blendenden Erfolg verſprach. Sie entdeckten ſich dem Anſtreicherlehrling, ſetzten ihm ihre Idee auseinander und forderten ſeine Beihilfe. Der hatte ſeine eigenen Gründe, davon entzückt zu ſein, denn der Lehrer wohnte in ſeines Vaters Familie und hatte ihm hinreichend Anlaß gegeben, ihn zu haſſen. Des Lehrers Frau wollte in wenigen Tagen zu einem Beſuch aufs Land gehen, und ſo ſtand der Ausführung des Planes nichts entgegen. Der Lehrer pflegte ſich für große Gelegenheiten dadurch vorzubereiten, daß er ſich einen hübſchen kleinen Rauſch zulegte, und der Anſtreicherlehrling ſagte, daß, wenn am Examenstage des Lehrers Zuſtand die rechte Höhe erreicht haben würde, er die Sache ſchon machen wolle, während jener ſeinen Nicker mache; er wolle ihn dann noch eben zur rechten Zeit wecken und zur Schule expedieren.
Als die Zeit erfüllet war, trat dann das intereſſante Ereignis ein. Um acht Uhr des Abends war das Schulhaus feſtlich erleuchtet und mit Girlanden und Feſtons von Papier und Blumen geſchmückt. Der Lehrer thronte in ſeinem großen Seſſel auf einem erhöhten Podium, die ſchwarze Tafel hinter ſich. Er ſah leidlich angeheitert aus. Zwei Reihen Bänke auf jeder Seite und ſechs ihm gegenüber wurden durch die Würdenträger des Ortes und die Eltern der kleinen Geſellſchaft eingenommen. Zu ſeiner Linken, hinter den Reihen der Erwachſenen, war für dieſe Gelegenheit eine geräumige Plattform aufgeſtellt, auf der die Schüler ſaßen, die an den Übungen des Abends teilnehmen ſollten. Reihen von kleinen Stöpſeln zu einem höchſt unleidlichen Zuſtand des Mißbehagens zurecht gewaſchen und angezogen; Reihen von tölpelhaften größeren Jungen; weiß-ſtrahlende Bänke von Mädchen und jungen Damen, in Leinen und Muſſelin gekleidet und augenſcheinlich ſtolz auf ihre nackten Arme, ihren von der Großmama geerbten Schmuck, ihr Spitzwerk von rotem und blauem Band, und die Blumen in ihrem Haar. Der Reſt des Saales war von unbeteiligten Schülern und Schülerinnen angefüllt.
Die Prüfung begann. Ein ſehr kleiner Bengel ſtand auf und deklamierte mit ſchafsmäßigem Geſicht:
Kaum glaubt ihr, daß ſo'n kleiner Mann
Hier vor euch ſtehn und ſprechen kann — usw.
ſich ſelbſt mit den peinlich abgemeſſenen, krampfhaften Bewegungen begleitend, wie ſie eine Maſchine gemacht haben würde — noch dazu eine etwas aus der Ordnung geratene Maſchine. Aber er ſchlüpfte leidlich, wenn auch zu Tode geängſtigt, durch und erhielt 'ne hübſche Menge Applaus, als er ſeine gezwungene Verbeugung produzierte und ſich zurückzog.
Ein kleines, verſchämtes Mädchen liſpelte darauf: „Mary hat ein kleines Lamm“ usw., machte einen mitleiderregenden Knicks, erhielt ebenfalls ihren Anteil am Beifall und ſetzte ſich, hochrot und glücklich.
Jetzt trat Tom mit gemachter Zuverſicht vor und begann mit donnerndem Pathos das unverwüſtliche „Gib mir Freiheit oder Tod —“ unter wilden, wahnwitzigen Gebärden zu deklamieren — und blieb in der Mitte ſtecken. Lähmende Angſt packte ihn, die Knie zitterten unter ihm, er war nahe daran, zu erſticken. Es iſt wahr, er hatte des Hauſes Sympathie für ſich, aber auch des Hauſes Schweigen, was ebenſo ſchwer wog wie jene. Der Lehrer runzelte die Stirn, und das vervollſtändigte ſeine Verwirrung.
Tom kämpfte noch 'ne Weile und dann marſchierte er ab, völlig geſchlagen. Ein ſchwacher Verſuch des Beifalls erſtarb bald wieder.
Es folgte: „Der Knabe ſtand auf brennendem Deck“, „Hernieder kam einſt Aſſurs Macht“ und andere deklamatoriſche Perlen. Dann wurden Leſeübungen ſowie ein Buchſtabier-Gefecht vorgeführt. Die kleine Lateinklaſſe beſtand mit Ehren. Der Hauptſchlager des Abends kam jedoch jetzt erſt, die „Originalaufſätze“ der jungen Damen. Der Reihe nach trippelten ſie vor bis zum Rand der Plattform, räuſperten ſich, hoben ihr Manuskript (von einem zierlichen Band zuſammengehalten) und begannen mit lobenswerter Beachtung des Ausdrucks und der Satzzeichen zu leſen. Die Themata waren dieſelben, die bei ähnlichen Gelegenheiten vor ihnen von ihren Mamas, Großmamas und zweifellos all ihren weiblichen Vorfahren bis zurück zu den Kreuzzügen, gewählt worden waren. „Freundſchaft“ hieß eins, „Erinnerungen früher Tage“ ein anderes; dann „Die Religion in der Geſchichte“, „Das Land der Träume“, „Die Vorteile der Kultur“, „Vergleiche der politiſchen Staatsformen“, „Melancholie“, „Letzte Liebe“, „Wünſche des Herzens“ usw.
Ein vorwiegender Zug in all dieſen Aufſätzen war eine erzwungene, aufdringliche Schwermut; ein anderer verſchwenderiſcher Gebrauch hochtrabender, geſchwollener Redensarten; ferner die Manier, Worte und Bilder zu Tode zu hetzen; was ſie aber ganz beſonders unerträglich machte, waren die unleidlichen, ſalbungsvollen Moralpauken, womit jeder, aber auch jeder abſchloß.
Was auch der Gegenſtand ſein mochte, jedesmal gab's ſchließlich die krampfhafteſten Anſtrengungen, ihn in ſolche Betrachtungen auslaufen zu laſſen, damit Tugend und Frömmigkeit der Verfaſſerin nur ja gehörig ins rechte Licht gerückt würden. Die offenbare Verlogenheit dieſer Machwerke war aber doch nicht imſtande, Widerwillen gegen derartige Verwirrungen des Schulunterrichts zu erzeugen, und iſt es überhaupt heutzutage nicht; wahrſcheinlich war es überhaupt immer ſo, ſolange die Welt ſteht. Es gibt einfach keine Schule unſeres Landes, wo ſich die jungen Mädchen nicht verpflichtet fühlen, ihre Aufſätze mit ſolch einem Sermon zu ſchließen. Und man wird finden, daß die Sermone der verlogenſten und am wenigſten wirklich religiöſen Mädchen immer und ausnahmslos die längſten und frömmſten ſind. Aber genug davon. Ein Prophet gilt ja nichts in ſeinem Vaterlande. Kehren wir zum Examen zurück. Der erſte der vorgeleſenen Aufſätze betitelte ſich: „Iſt dies das Leben?“ Vielleicht kann der Leſer einen Auszug daraus vertragen.
„Mit welch überſchwenglichen Gefühlen pflegt der jugendliche Geiſt vorwärts auf all die zu erwartenden Freudenfeſte des Lebens zu ſchauen! Die Einbildungskraft iſt geſchäftig, roſig gefärbte Bilder der Freude zu malen. Im Geiſte ſieht ſie ſich als Günſtling des Glückes, ſieht ſie ſich inmitten ſtrahlender Feſtlichkeiten, „die Siegerin aller Siegerinnen“. Ihre reizende Figur, in entzückende Kleider gehüllt, wirbelt durch alle Irrwege berauſchender Tänze. Ihr Auge iſt das glänzendſte, ihr Fuß der leichteſte in der ganzen jugendſchönen Geſellſchaft. In ſolch entzückenden Träumen rinnt die Zeit raſch und angenehm dahin, und die erſehnte Stunde ihres Eintrittes in die erſehnte Welt, von der ſie ſo vielverſprechend geſchwärmt hat, ſchlägt. Wie märchenhaft erſcheint alles ihren entzückten Blicken! Jedes neue Erlebnis ſcheint ihr ſchöner als das letzte. Aber bald findet ſie, daß unter dieſer verlockenden Hülle alles leer und ſchal iſt. Schmeichelei, die einſt ihren Stolz kitzelte, wirkt jetzt verletzend auf ihr Ohr. Der Ballſaal hat ſeinen Reiz eingebüßt; und mit verwüſteter Geſundheit und gebrochenem Herzen wendet ſie ſich ab, in dem Bewußtſein, daß irdiſche Freuden die Bedürfniſſe der Seele nicht befriedigen können!“
Und ſo weiter, und ſo weiter. Von Zeit zu Zeit, während der Vorleſung, gab es kurzes Beifallsklatſchen, von leiſe geflüſterten Ausrufen, wie: „Wie ſüß!“ „Äußerſt gewandt!“ „So wahr!“ usw. begleitet, und nachdem die Sache mit einer beſonders niederſchmetternden moraliſchen Nutzanwendung beendet war, war der Applaus geradezu enthuſiaſtiſch.
Worauf ein ſchmächtiges, melancholiſches Mädchen, deſſen Geſicht die intereſſante Bläſſe beſaß, die von Pillen und ſchlechter Verdauung herrührt, vortrat und ein ſogenanntes Gedicht vorlas. Zwei Verſe davon werden genügen.
Abſchied eines Miſſouri-Mädchens von Alabama
„Leb wohl, Alabama! Wie liebe ich dich!
Doch jetzt für 'ne Weile muß meiden ich dich!
Die Trauer um dich erfaßt mich mit Macht,
Sie hat mich um alle Freude gebracht!
Deine blühenden Wälder, wie oft ſah ich ſie,
Die Ströme und Seen — ich vergeſſe ſie nie!
Ich lauſchte ſo gerne dem Rauſchen der Flut
Und friſchte mich auf in Auroras Glut.
Warum verbergen mein übervoll Herz?
Warum nicht zeigen den brennenden Schmerz!
Ich ſcheide ja nicht aus fremdem Land,
Ich reich' ja nur Freunden die ſcheidende Hand!
hier war ich zu Hauſe, hier liebte man mich,
Du Tal meiner Heimat, nun meide ich dich!
Und wenn ſie dich ſchmähen, die nie dich gekannt,
So muß ich verſtummen — mein teures Land!!“
Eine dunkelhäutige, ſchwarzäugige und ſchwarzhaarige junge Dame war die nächſte, machte eine ausdrucksvolle Pauſe, nahm eine tragiſche Poſe ein und begann in gehaltenem Ton zu leſen.
Eine Viſion
„Dunkel und ſtürmiſch war die Nacht. Am ganzen Himmelszelt glänzte nicht ein einziger Stern, aber der dumpfe, tiefe Ton des rollenden Donners zitterte beſtändig im Ohr, während ſchreckliche Blitze in unheimlichen Windungen durch die dunklen Himmelsräume fuhren; und ſie ſchienen die Gewalt zu verſpotten, die ſich der berühmte Franklin über ſie angemaßt hat! Auch die ungeſtümen Winde fuhren unaufhörlich aus ihrer geheimnisvollen Heimat daher und fuhren herum, als wären ſie gerufen worden, um die ſchreckliche Szene noch ſchrecklicher zu machen. In ſolchem Augenblick, ſo dunkel, ſo traurig, ſehnte ſich mein Geiſt, ach, ſo ſehr nach menſchlicher Sympathie; und
„Da plötzlich, ein Wunder, ſie neben mir ſtand,
Die Freundin im Kummer, mit tröſtender Hand!“
Sie ſchwebte gleich einer jener Lichtgeſtalten, die in ihrem Sonnenflug die romantiſche Phantaſie der Jugend malt, daher, eine Königin der Schönheit, nur mit ihrer eigenen überirdiſchen Lieblichkeit bekleidet. So leicht war ihr Tritt, er ſchien kein Geräuſch hervorzubringen, und ich empfand ihre Gegenwart nur durch den magiſchen Schauer, der mich bei ihrer Berührung durchrieſelte — ſonſt wäre ſie gleich anderen körperlichen Schönheiten unbemerkt, ungeſehen entſchwebt. Strenge Trauer lag auf ihren Zügen, gleich eiſigen Tränen auf dem Gewande des Dezember, als ſie auf die kämpfenden Elemente draußen wies und mich aufforderte, die zwei Weſen zu betrachten.“
Zehn Seiten Manuskript waren mit dieſem nächtlichen Geiſterſpuk bedeckt, und ſie ſchloſſen mit einem ſo ſehr alle Hoffnungen für jeden Nichtkirchlichgeſinnten vernichtenden Sermon, daß die Arbeit den erſten Preis erhielt.
Der Aufſatz wurde für die ausgezeichnetſte Arbeit des Abends erklärt. Der Bürgermeiſter hielt, indem er der Siegerin den Preis überreichte, eine warme Anſprache, worin er ſagte, es wäre weitaus „das beredſamſte Ding, das er je gehört habe, und Daniel Webſter ſelbſt könnte ſehr wohl darauf ſtolz ſein.“
Beiläufig möge bemerkt werden, daß die Zahl der Arbeiten, in denen das Wort „wundervoll“ überwog, und menſchliche Erfahrung „eine Seite des Lebens“ genannt wurde, die übliche Höhe erreichte.
Nunmehr ſchob der Lehrer, allmählich bis an die Grenze der Möglichkeit angeheitert, ſeinen Stuhl beiſeite, zeigte dem Publikum ſeinen Rücken und machte ſich dran, eine Karte von Amerika an die Wandtafel zu malen, um die Geographieklaſſe vorzunehmen. Es wollte ihm aber bei ſeiner unſicheren Hand nicht gelingen, und ein unterdrücktes Kichern lief durch den Saal. Er wußte, was die Uhr geſchlagen hatte, und nahm ſich tüchtig zuſammen. Er wiſchte die Linien aus und zog ſie nochmals. Aber er machte es diesmal noch ſchlechter als vorher, und das Kichern wurde lauter. Er nahm ſich jetzt innerlich an den Ohren, wandte ſeine ganze Aufmerkſamkeit auf die Arbeit, als gelte es, ſich nicht von der allgemeinen Heiterkeit unterkriegen zu laſſen. Er fühlte, daß aller Augen an ihm hingen. Er bildete ſich ein, daß es ihm diesmal gelänge, und jetzt nahm das Kichern noch mehr, es nahm ganz zweifellos zu. Und es war kein Wunder.
Es gab da eine Dachſtube, die gerade über ſeinem Kopf durch eine Falltür verſchloſſen war. Durch dieſe Falltür erſchien eine Katze, an einem um ihren Leib gelegten Strick gehalten. Ein Tuch war ihr über den Kopf gebunden, damit ſie nicht ſchreien ſollte. Indem ſie langſam heruntergelaſſen wurde, wand ſie ſich aufwärts und griff nach dem Seil, wand ſie ſich nach unten und griff in die leere Luft. Das Kichern wurde ſtärker und ſtärker, die Katze war keine ſechs Zoll mehr vom Kopf des geiſtesabweſenden Lehrers entfernt; tiefer, tiefer, noch ein bißchen, und ſie ſchlug ihre Krallen in verzweifelter Wut in die Perücke, und wurde im nächſten Moment mit ihrer Trophäe in die Dachſtube zurückgezogen. Und welcher Glanz von des Lehrers kahlem Schädel ausging, den der Anſtreicherlehrling goldig gefärbt hatte!
Das hob die Verſammlung auf. Die Jungen waren gerächt — die Ferien da!
(Anmerkung. Die oben angeführten anſpruchsvollen „Aufſätze“ ſind ohne jede Änderung einem Buche entnommen, betitelt „Proſa und Poeſie, von einer Dame des Weſtens“, ſind aber genau nach der Schulmädelmanier gemacht und daher viel glücklichere Beiſpiele, als irgendwelche Nachbildungen hätten ſein können.)
Tom ſchloß ſich dem neuen Orden der „Kadetten der Enthaltſamkeit“ an, angezogen durch die glänzende Pracht ihrer „Uniform“. Er verſprach, ſich des Rauchens, Tabakkauens und Fluchens, ſo lange er Mitglied des Vereins ſein würde, zu enthalten. Dabei machte er eine Entdeckung, nämlich, daß das Verſprechen, etwas nicht zu tun, das ſicherſte Mittel von der Welt ſei, einen in Verſuchung zu bringen, hinzugehen und es gerade zu tun. Tom empfand ſehr bald das glühende Verlangen, zu trinken und zu fluchen; der Wunſch wurde bald ſo ſtark, daß nichts als die Ausſicht, mit ſeiner roten Schärpe prunken zu können, imſtande geweſen wäre, ihn von dem Wiederauſtritt aus dem Orden abzuhalten. Der vierte Juli (Anmerkung: Der 4. Juli 1776 iſt der Tag der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten.) ſtand nahe bevor. Bald aber gab er es auf — gab es auf, ehe er ſeine Feſſeln volle 48 Stunden getragen hatte, um ſeine Aufmerkſamkeit dem alten Richter Frazer, dem Friedensrichter, zuzuwenden, der augenſcheinlich auf dem Totenbett lag und gewiß ein großartiges öffentliches Begräbnis bekommen würde, da er doch ein ſo hoher Beamter war. Während dreier Tage war Tom ganz von des Richters Befinden eingenommen und hungrig nach Neuigkeiten darüber. Manchmal ſtieg ſeine Hoffnung ſo hoch, daß er drauf und dran war, ſeine Uniform hervorzuholen und vor dem Spiegel darin Probe zu halten. Aber der Richter hatte eine abſcheuliche Art, ſich zu beſinnen. Schließlich wurde er beſſer und ſchließlich Rekonvaleszent. Tom war ſehr verſtimmt und fühlte ſich obendrein beleidigt. Schließlich „reſignierte“ er und in der nächſten Nacht bekam der Richter einen Rückfall und ſtarb. Tom nahm ſich vor, in ſolchen Dingen keinem Menſchen mehr zu trauen. Das Begräbnis war großartig. Die Kadetten paradierten auf eine Art, die geeignet war, das bisherige Mitglied vor Neid umkommen zu laſſen.
Indeſſen war Tom wieder ein freier Burſch. Das war das Gute dran. Er konnte trinken und fluchen, fand aber zu ſeiner Überraſchung, daß er gar keine Luſt dazu hatte. Die bloße Tatſache, daß er's durfte, nahm ihm den Wunſch dazu und machte die Sache reizlos.
Tom machte plötzlich die überraſchende Bemerkung, daß die erſehnten Ferien anfingen, ihn zu langweilen. Er begann ein Tagebuch, aber da ſich innerhalb dreier Tage nichts ereignete, ſo gab er's wieder auf.
Dann kam die erſte ſchwarze Sängergeſellſchaft ins Dorf und erregte Aufſehen. Tom und Joe Harper traten in Verbindung mit der Bande und waren für zwei Tage glücklich.
Selbſt der berühmte Vierte war in gewiſſem Sinne eine Enttäuſchung, denn es regnete ſtark; infolgedeſſen fand kein Umzug ſtatt, und der größte Mann der Welt (wie Tom glaubte), Mr. Benton, ein Senator der Vereinigten Staaten, bereitete ihm eine niederſchmetternde Enttäuſchung, denn er war nicht 25 Fuß hoch, auch nicht einmal annähernd.
Ein Zirkus kam. Die Jungen ſpielten drei Tage Zirkus in Zelten, die aus zerlumpten Teppichen beſtanden, — Entree: drei Penny für Jungen, zwei für Mädchen — und dann wurde das Zirkusſpielen langweilig.
Ein Phrenologe und ein Taſchenſpieler kamen — und gingen wieder und ließen das Dorf langweiliger und öder zurück, als es vorher geweſen war.
Becky Thatcher war nach ihrem Konſtantinopeler Hauſe gereiſt, um während der Ferien bei ihren Eltern dort zu bleiben — ſo hatte denn das Leben keine einzige Lichtſeite mehr.
Das ſchreckliche Geheimnis des Mordes genoß immer noch trauriges Intereſſe. Es war ein Gegenſtand beſtändiger Aufregung.
Dann kamen die Maſern.
Während zweier langen Wochen lag Tom als Gefangener, tot für die Welt und ihr Treiben. Er war ſehr krank, gleichgültig gegen alles. Als er wieder auf den Füßen war und noch ganz ſchwach durch das Dorf wankte, war eine traurige Veränderung mit allen Dingen und Lebeweſen vorgegangen. Es hatte eine „Wiedergeburt“ ſtattgefunden, und alles war „fromm geworden“, nicht nur die Erwachſenen, ſondern auch die Buben und Mädel. Tom ſtrich herum, in der Hoffnung, auf ein Geſicht, das in ſeiner Sündhaftigkeit ſich wohl fühle, zu ſtoßen. Er fand Joe Harper in der Bibel leſend und floh traurig vor ſolchem niederdrückenden Schauſpiel. Er ſuchte Ben Rogers und traf ihn, wie er die Armen mit einem Korb voll Traktätchen heimſuchte. Darauf fahndete er auf Jim Hollis, der ihm zeigte, wie ſeine wunderbare Errettung von den Maſern eine Warnung ſei. Jeder einzelne Junge, mit dem er zuſammenkam, trug das Seinige dazu bei, ihn vollends niedergeſchlagen zu machen; und als er in voller Verzweiflung davonrannte, um am Buſen Huck Finns Zuflucht zu ſuchen — und mit einem Bibelſpruch empfangen wurde, brach ſein Herz, er kroch nach Hauſe und zu Bett, in der Überzeugung, daß er allein von dem ganzen Dorfe verloren, für immer und ewig verloren ſei.
Und in der Nacht ſetzte es einen ſchrecklichen Sturm, der den Regen vor ſich hertrieb, mit furchtbaren Donnerſchlägen und blendenden Blitzen. Er ſteckte den Kopf unter die Bettdecke und erwartete in ängſtlicher Ungewißheit ſein Schickſal; denn ihm kam nicht ein Schatten von Zweifel, daß dieſes ganze Donnerwetter ihm gelte. Er glaubte, die Geduld der himmliſchen Mächte allzuhoch taxiert zu haben — und dies war die Folge davon. Es würde ihm als lächerliche Kraftverſchwendung erſchienen ſein, eine Wanze mit Kanonen töten zu wollen, aber das ſchien ihm doch noch nichts, wenn er bedachte, daß ein ſo ſchreckliches Gewitter nötig ſein ſollte, um ein Inſekt gleich ihm zu vernichten.
Allmählich tobte ſich der Sturm aus und legte ſich ganz, ohne ſeinen Zweck erfüllt zu haben. Der erſte Antrieb Toms war, dankbar zu ſein und ſich zu beſſern. Sein zweiter war, zu warten — denn vielleicht würde ſobald kein Unwetter wieder losbrechen.
Am anderen Tage war der Doktor wieder da. Tom hatte einen Rückfall. Die drei Wochen, die er ſo ſtill liegen mußte, ſchienen ihm ein ganzes Menſchenalter. Als er ſchließlich doch wieder aufſtand, war er kaum dankbar, daß er geſchont worden war, da er ſich ſagen mußte, wie einſam er ſei, wie freundlos und verlaſſen. Zwecklos ſtrich er durch die Gaſſen und fand Jim Hollis in einem jugendlichen Gerichtshof, der eine Katze als Mörderin verurteilen ſollte, den Richter machend. Das Opfer, ein Vogel, lag dabei. Joe Harper und Huck Finn traf er ſpazieren gehend und eine geſtohlene Melone verzehrend. Arme Jungen — ſie hatten, wie Tom, einen Rückfall zu erdulden.
Schließlich wurde die brütende Langeweile ein bißchen aufgeſtört und erfriſcht. Der Mordprozeß kam vor Gericht. Er wurde ſofort der alleinige Gegenſtand des Geſprächs. Tom konnte es kaum aushalten. Jede Erwähnung des Mörders jagte ihm einen Schauer durch die Glieder, denn ſein bedrücktes Gewiſſen und ſeine Furcht machten ihm weis, daß alle dieſe Bemerkungen „Fühler“ ſein ſollten und auf ihn berechnet. Zwar wußte er durchaus nicht, wie ein Verdacht, etwas über den Mord zu wiſſen, ſollte auf ihn fallen können, trotzdem aber konnte er ſich inmitten all des Geklatſches nicht behaglich fühlen. Kalte Schauer ſchüttelten ihn beſtändig.
Er ſchleppte Huck an ein einſames Plätzchen, um ſich mit ihm mal darüber auszuſprechen. Es würde für 'ne Weile doch eine Erleichterung ſein, ſeiner Zunge mal freien Lauf gelaſſen zu haben, die Laſt ſeines Kummers mit einem Leidensgefährten zu teilen. Vor allem aber wollte er ſich verſichern, daß Huck reinen Mund gehalten habe.
„Huck, haſt du jemals darüber geſprochen?“
„Worüber?“
„Na — du weißt ſchon!“
„Ach ſo — na, gewiß nicht!“
„Kein Wort?“
„Zum Teufel, auch nicht 's kleinſte Wort! Warum fragſt du?“
„Na, ich hatt' halt Angſt!“
„Weißt du, Tom Sawyer, wir würden keine zwei Tage mehr haben, wenn das raus käm'! Du weißt doch?“
Tom wurde behaglicher zumute. Nach einer Pauſe ſagte er: „Du, Huck, 's wird dich niemand zwingen können, was zu verraten, he?“
„Mich zwingen? Na, wenn ich wollt', daß der Halbindianer-Teufel mir den Hals umdrehte, dann könnten ſie mich zwingen, zu ſchwatzen.“
„Na, 's iſt ſchon gut. Denk auch, daß wir ſicher ſind, ſo lang' wir reinen Mund halten. Aber laß uns nochmal ſchwören. 's iſt ſicherer!“
„Meinetwegen.“
So ſchwuren ſie nochmals die ſchrecklichſten Eide.
„Was wird denn eigentlich geſchwatzt, Huck? Ich hab' ſo viel durch'nander gehört!“
„Schwatzen? Na, 's iſt immer Muff Potter, Muff Potter, Muff Potter. Jedesmal gerat' ich ordentlich in Schweiß, daß ich gleich davonlaufen möcht'!“
„'s iſt grad ſo wie bei mir. Ich denk' wohl, daß er 'n Gauner iſt. Haſt du zuweilen Mitleid mit ihm?“
„Faſt immer — faſt immer. Er taugt ja nicht viel; aber er hat doch nie was getan, um jemand zu verletzen. Er ſtiehlt wohl zuweilen Fiſche, um Geld für Branntwein zu kriegen — und treibt ſich beſtändig herum; aber, Herr Gott, das tun wir doch alle — oder wenigſtens die meiſten — auch die Prediger und ſolche Leute. Aber er iſt doch 'n guter Kerl — er gab mir mal 'n halben Fiſch, wo's doch nicht genug war für zwei, und oft genug war er freundlich gegen mich und half mir, wenn ich in 'ner Patſche ſaß.“
„Ja, und mir hat er Drachen gemacht, Huck, und Angelhaken. — Wollt, wir könnten ihm raushelfen —“
„Lieber Gott, Tom, wir können ihm nicht 'raushelfen. Und dann — 's wär' auch gar nicht gut; ſie kriegten ihn doch wieder.“
„Ja — das täten ſie. Aber ich kann's nicht hören, daß ſie auf ihn ſchimpfen wie auf 'nen Teufel, wo er's doch gar nicht getan hat.“
„Ich auch, Tom! Gott, ich hört', wie einer ſagte, er iſt der blutgierigſte Lump im ganzen Land, und ſie wunderten ſich nur, daß er noch nicht aufgeknüpft iſt.“
„Ja, das ſagen ſie immer. Ich hab' gehört, ſie wollten ihn lynchen, wenn er freikäm'.“
„Und das täten ſie auch.“
Die Jungen ſchwatzten noch lange, aber es brachte ihnen wenig Befreiung. Als das Zwielicht anbrach, fanden ſie ſich auf einmal in der Nachbarſchaft des kleinen, einſamen Gebäudes, vielleicht in der unbeſtimmten Hoffnung, es könne irgend was geſchehen, wodurch ihre Kümmerniſſe gehoben würden. Aber nichts geſchah, weder Engel noch gute Geiſter ſchienen ſich mit dieſem unglücklichen Gefangenen beſchäftigen zu wollen.
Die Jungens taten, was ſie ſchon oft vorher getan hatten — gingen zu dem Gitterfenſter und ſteckten Potter ein bißchen Tabak und Zündhölzer zu. Er lag auf dem Fußboden — Wächter waren nicht da.
Seine Dankbarkeit für ihre kleinen Gaben hatte bisher immer ihr Gewiſſen entlaſtet — jetzt wurde es nur noch ſchwerer. Sie fühlten ſich im höchſten Grade gemein und treulos, als Potter ſagte: „Ihr ſeid doch immer gut gegen mich geweſen, Jungs, beſſer als ſonſt jemand im Dorf. Und ich werd's nicht vergeſſen, werd's nicht! Oft denk' ich, hab' allen Jungen Drachen gemacht und alles, und ihnen gute Fiſchplätze gezeigt, und ihnen geholfen, wo ich konnt', und nu' vergeſſen ſie alle den alten Muff, wo er ſo in der Patſche ſitzt, nur der Tom tut's nicht, und der Huck tut's nicht, die vergeſſen ihn nicht, ſagt' ich, und ich werd' ſie nicht vergeſſen! Na, Jungs, ich hab' was Schreckliches getan — betrunken und verrückt muß ich geweſen ſein; 's iſt die einzige Art, wie ich's mir denken kann, und jetzt ſoll ich dafür baumeln, und 's iſt recht ſo. Recht und 's beſte auch, glaub' ich, hoff' wenigſtens. Na, wollen nicht davon ſprechen. Möcht' euch 's Herz nicht ſchwer machen. Aber wollt euch doch ſagen: Trinkt nicht, wenn ihr groß ſeid, dann kommt ihr nie hierher. Kommt mal näher ran — ſo, 's iſt doch ſchon was, ſo 'n paar gute Geſichter zu ſehen — gute, freundliche Geſichter. Steigt mal einer auf den anderen und gebt mal eure Patſchen her. Kommt leichter durch die Stangen, meine Fauſt iſt zu groß. Kleine Hände — und zart — aber haben Muff Potter 'ne Menge geholfen und würden noch mehr tun, wenn ſie könnten.“
Tom ſchlich niedergeſchlagen nach Hauſe, und ſeine Träume waren ſchrecklich. Am nächſten und übernächſten Tage lungerte er um das Gerichtsgebäude herum, von unwiderſtehlichem Verlangen angetrieben, hineinzugehen, und doch ſich ſelbſt zwingend, es nicht zu tun. Huck hatte dieſelben Verſuchungen. Sie gingen ſich gefliſſentlich aus dem Wege. Jeder ging von Zeit zu Zeit mal fort, aber derſelbe verzweifelte Zauber trieb ihn immer ſehr bald wieder hin. Tom hielt die Ohren offen, wenn irgend ein Müßiggänger herauskam, hörte aber immer nur betrübende Neuigkeiten. Die Schlinge zog ſich immer und immer feſter zuſammen um den armen Potter. Am Abend des zweiten Tages war das Dorfgeſpräch, daß des Indianer-Joe Erſcheinen feſtſtehe, und daß über den zu erwartenden Spruch der Geſchworenen nicht der geringſte Zweifel entſtehe.
Tom war dieſen Abend lange aus und gelangte durchs Fenſter ins Bett. Er befand ſich in ſchrecklich aufgeregtem Zuſtande. Es dauerte Stunden, bis er einſchlafen konnte.
Am nächſten Morgen ſtrömte das ganze Dorf zum Gerichtsgebäude, denn es würde ein großer Tag ſein. Beide Geſchlechter waren zu dem aufregenden Verhör erſchienen. Nach langer Zeit traten die Geſchworenen ein und begaben ſich auf ihre Plätze. Kurz danach wurde Muff Potter, blaß und hohläugig, verſchüchtert und hoffnungslos, mit Ketten beladen, hereingebracht und ſetzte ſich ſo, daß all die neugierigen Augen ihn treffen mußten; nicht weniger wurde der Indianer-Joe beobachtet, der gleichgültig, wie immer, daſaß. Noch eine Pauſe, und dann kam der Richter, und der Sheriff verkündete den Beginn der Sitzung. Es folgte das gewöhnliche Geflüſter zwiſchen den Gerichtsperſonen und Papierkniſtern. Dieſe Einzelheiten und Umſtändlichkeiten bewirkten eine erwartungsvolle Stimmung, die ebenſo aufregend wie lähmend war.
Jetzt wurde jener Bürger aufgerufen, welcher beſchwor, daß er Muff Potter in ſehr früher Stunde am Morgen des Mordes getroffen hatte, wie er ſich in einem Graben wuſch, und daß er ſofort davongelaufen ſei. Nach einigen weiteren Fragen ſagte der Staatsanwalt: „Der Herr Verteidiger hat das Wort.“ Der Gefangene erhob für einen Augenblick die Augen, ſchlug ſie aber ſofort nieder, als ſein Verteidiger ſagte: „Ich verzichte.“
Der nächſte Zeuge erzählte die Auffindung des Meſſers am Tatorte. Der Staatsanwalt ſagte abermals: „Der Herr Verteidiger hat das Wort.“
„Ich verzichte,“ entgegnete auch diesmal der Verteidiger.
Ein dritter Zeuge beſchwor, daß er das Meſſer oftmals in Muff Potters Beſitz geſehen habe.
„Der Herr Verteidiger hat das Wort.“
Potters Verteidiger dankte wiederum.
Die Geſichter der Zuhörer begannen Unwillen zu zeigen. Wollte dieſer Verteidiger das Leben ſeines Klienten ohne jeden Verſuch zu ſeiner Rettung preisgeben?
Mehrere Zeugen berichteten über Potters verdächtiges Benehmen, als er an den Mordplatz geführt wurde. Sie konnten ebenfalls ohne Gegenverhör den Platz verlaſſen.
Alle Einzelheiten der gravierenden Vorkommniſſe an jenem Morgen, deſſen ſich alle Anweſenden ſo gut erinnerten, waren von glaubwürdigen Zeugen beſtätigt, und nicht einer war durch Potters Verteidiger einem Gegenverhör unterworfen worden. Die Verblüffung und Unzufriedenheit des Hauſes machte ſich in Murren bemerklich, was eine Zurechtweiſung ſeitens des Vorſitzenden zur Folge hatte.
Jetzt begann der Staatsanwalt: „Durch den Eid von Bürgern, deren einfaches Wort ſchon über jeden Zweifel erhaben iſt, ſehen wir das ſchreckliche Verbrechen dem unglücklichen Gefangenen dort zur Laſt gelegt. Die Sachlage iſt über jeden Zweifel erhaben.“
Ein Stöhnen entrang ſich dem armen Potter, er bedeckte das Geſicht mit den Händen, während ſein Körper gleichſam zuſammenſchrumpfte. Ein peinliches Stillſchweigen hatte ſich über den Saal gelegt. Alle waren bewegt, und manche Frau verriet ihre Bewegung durch Tränen.
Der Verteidiger erhob ſich und ſagte: „Euer Ehren! Zu Beginn der gegenwärtigen Verhandlung gaben wir unſere Abſicht kund, zu zeigen, daß unſer Klient dieſe ſchreckliche Tat beging, während er unter dem Einfluſſe eines blinden, geiſtesverwirrenden Rauſches infolge übermäßigen Trunkes ſtand. Wir haben unſere Anſicht geändert. Wir können auf dieſen Einwand verzichten!“ (Dann zum Gerichtsdiener): „Tom Sawyer!“
In allen Geſichtern malte ſich unverhohlenes Erſtaunen, Potter nicht ausgenommen. Jedes Auge heftete ſich mit verwundertem Intereſſe auf Tom, als er aufſtand und ſich auf ſeinen Platz in der Zeugenloge ſetzte. Der Junge ſah verſtört genug aus, er war auch mächtig verſchüchtert. Die Eidesformel war geſprochen.
„Thomas Sawyer, wo wart Ihr am 7. Juni um Mitternacht?“
Tom ſchielte auf des Indianer-Joe eiſernes Geſicht, und die Zunge verſagte ihm den Dienſt. Alle Zuhörer warteten atemlos, aber die Worte kamen nicht heraus. Nach ein paar Augenblicken indeſſen ſammelte der Junge ein bißchen Mut und verſuchte genug davon in ſeine Stimmung zu legen, um ſich einem Teil des Saales hörbar zu machen.
„Auf dem Kirchhof.“
„Bitte, etwas lauter. Fürchtet Euch nicht. Ihr wart —“
„Auf dem Kirchhof.“
Ein verächtliches Lächeln flog über des Indianer-Joe Geſicht.
„Wart Ihr vielleicht in der Nähe von William Horses Grab?“
„Ja, Herr!“
„Noch ein bißchen lauter. Wie nahe wart Ihr?“
„So nahe, wie jetzt zu Ihnen.“
„Wart Ihr verſteckt oder nicht?“
„Ich war verſteckt.“
„Wo?“
„Unter den Ulmen, die am Kopfende des Grabes ſtehen.“
Der Indianer-Joe fuhr unmerklich zuſammen.
„Wart Ihr in Begleitung?“
„Ja, Herr. Ich war da mit —“
„Halt — einen Augenblick. Nennt den Namen Eures Gefährten noch nicht. Wir wollen ihn zur rechten Zeit aufrufen. Hattet Ihr irgend etwas mit?“
Tom zögerte und ſchaute verwirrt um ſich.
„Na, ſprich — mein Junge! Nicht zaghaft! Die Wahrheit iſt immer achtungswert. Was hatteſt du mit?“
„Nur — nur — 'ne tote Katze!“
Ein ſchwaches Kichern entſtand, wurde aber ſofort vom Gerichtshof unterdrückt.
„Wir werden das Skelett der Katze vorlegen. Jetzt, mein Junge, ſag' uns, was ſich zutrug — ſag's ganz auf deine Weiſe — vergiß nichts und fürchte dich nicht.“
Tom begann — zuerſt ſtammelnd, aber als er warm wurde, floſſen ſeine Worte leichter und immer leichter; in kurzem verſtummte jeder Laut außer ſeiner Stimme; jedes Auge heftete ſich auf ihn; mit geöffneten Lippen und angehaltenem Atem hingen die Zuhörer an ſeinen Worten, vollkommen von der Spannung der Erzählung beherrſcht. Die Erregung erreichte den höchſten Grad, als er ſagte: „Und wie der Doktor mit dem Brett haute und Potter fiel, da ſprang der Indianer-Joe mit dem Meſſer —“
Krach! — Schnell wie der Blitz ſprang der Indianer-Joe zum Fenſter durch alle Zuſchauer hindurch und war im Nu verſchwunden!
Tom war ſchon wieder ein ſtrahlender Held — der Liebling der Alten, der Neid der Jugend. Sein Name gelangte ſogar zu den Ehren der Druckerſchwärze, denn das Blättchen des Dorfes verherrlichte ihn. Es gab ſogar Leute, die in ihm den zukünftigen Präſidenten ſahen, ausgenommen, wenn er vorher gehenkt werde.
Wie gewöhnlich, drückte die gedankenloſe Welt jetzt Muff Potter an ihre Bruſt und überſchüttete ihn mit Zärtlichkeiten, wie ſie ihn bisher verläſtert hatte. Aber dieſe Sinnesänderung ſpricht für die Welt; deswegen iſt's beſſer, keine Gloſſen drüber zu machen.
Toms Tage waren Tage des Glanzes und des Frohlockens, aber ſeine Nächte waren Zeiten des Schreckens. Der Indianer-Joe ſpukte in all ſeinen Träumen und immer mit haßerfüllten Augen. Schwerlich hätte irgend etwas den Jungen veranlaſſen können, nach Anbruch der Nacht noch hinauszugehen. Der arme Huck befand ſich gleichfalls im Zuſtand der Verzweiflung und Angſt, denn Tom hatte in der Nacht vor der Gerichtsverhandlung dem Verteidiger alles geſagt, und Huck hatte gräßliche Angſt, daß ſeine Beteiligung bei der Sache bekannt werden möchte, obwohl ihn des Indianers Flucht von der Qual befreit hatte, vor Gericht Zeugnis ablegen zu müſſen. Der arme Burſche hatte vom Verteidiger das Verſprechen des Schweigens erhalten, aber was war das? Seit Tom, durch ſein beladenes Gewiſſen getrieben, in jener Nacht ins Haus des Verteidigers gegangen war und die ſchreckliche Geſchichte, die doch mit den bindendſten, furchtbarſten Eiden in ihm verſchloſſen ſein ſollte, gebeichtet hatte, war Hucks Glauben an die menſchliche Raſſe nahezu vernichtet. Jeden Tag ließen Muff Potters Dankesbezeugungen Tom ſich freuen, daß er geſprochen hatte, aber nachts wünſchte er, das Geheimnis bewahrt zu haben. Manchmal fürchtete er, der Indianer-Joe möchte niemals gefunden werden, dann wieder zitterte er, daß er gefunden werden könnte. Er fühlte nur zu ſicher, daß er nicht mehr ruhig atmen könne, bis dieſer Menſch tot ſei und er ſeine Leiche geſehen habe.
Belohnungen waren ausgeſetzt, das Land durchſucht, aber kein Joe gefunden. Eins jener geheimnisvollen, ehrfurchtgebietenden Wunder, ein Detektiv, kam von St. Louis herauf, ſchnüffelte herum, ſchüttelte den Kopf, tat ſehr weiſe und hatte den überraſchenden Erfolg, den Angehörige dieſer Berufsklaſſe ſtets haben, das heißt, „er fand den Schlüſſel“. Aber man kann einen Schlüſſel nicht als Mörder hängen und ſo, nachdem der Detektiv heimwärts gegangen war, fühlte ſich Tom genau ſo unſicher wie vorher. Trübſelig ſchlichen die Tage, aber jeder nahm ein klein wenig von ſeiner Beſorgnis mit ſich.
In jedes normal veranlagten Jungen Leben kommt eine Zeit, wo er den raſenden Wunſch empfindet, irgendwo nach vergrabenen Schätzen zu ſuchen.
Dieſer Wunſch überfiel Tom eines Tages ganz plötzlich. Er machte ſich auf den Weg, um Joe Harper zu ſuchen, hatte aber keinen Erfolg. Dann ſuchte er Ben Rogers; der war zum Fiſchen gegangen. Plötzlich ſtieß er auf Huck Finn, den ‚Bluthändigen‘. Tom ſchleppte ihn an einen verſteckten Ort und vertraute ſich ihm an. Huck war ſofort bereit. Huck war immer bereit, ſich an einem Unternehmen zu beteiligen, das Zerſtreuung verſprach und kein Kapital verlangte, denn er hatte ſchrecklichen Überfluß von der Art Zeit, die nicht Geld iſt.
„Wo wollen wir graben?“ fragte Huck.
„O — halt überall.“
„Was, iſt überall welches vergraben?“
„Ach was, das nicht! 's iſt an ganz beſonderen Plätzen vergraben, Huck — manchmal auf Inſeln, manchmal in alten verfaulten Kiſten, unter den Wurzeln eines abgeſtorbenen Baumes, grad' da, wohin der Schatten bei Mondſchein fällt; beſonders aber unter dem Fußboden in 'nem verfallenen Haus.“
„Wer vergräbt's denn?“
„Na, Räuber ſelbſtverſtändlich — was dachtſt du denn? Sonntagsſchul-Lehrer?“
„Weiß nicht. Wenn's mir gehörte, ich würd's nicht vergraben. Ich würd's ausgeben und mir 'ne luſtige Zeit machen.“
„Tät' ich auch. Aber Räuber tun's nicht, die vergraben's immer und laſſen's liegen.“
„Kommen ſie gar nicht mehr hin?“
„Nein, — ſie denken wohl, ſie wollen wieder hinkommen, aber dann haben ſie die Zeichen vergeſſen oder ſind auch inzwiſchen geſtorben. Manchmal liegt's 'ne lange, lange Zeit da und wird roſtig. Und ſchließlich find' dann mal jemand ſo 'n altes vergilbtes Papier, da muß er über 'ne Woche drüber brüten, denn 's ſind ſchwere Zeichen und Hieroglyphen drauf geſchrieben.“
„Hiero — was?“
„Hieroglyphen — Bilder und Zeug, weißt du, das gar nichts vorzuſtellen ſcheint.“
„Haſt du ſchon mal ſo 'n Papier gehabt, Tom?“
„Nee.“
„Na, wie willſt du denn die Zeichen rauskriegen?“
„Ach was, brauch' keine Zeichen. Sie vergraben's ja immer unter 'nem verfallnen Haus oder auf 'ner Inſel oder unter 'nem abgeſtorbenen Baum, der 'ne Wurzel von ſich ſtreckt. Na, wir haben's ja ſchon mal mit der Jackſon-Inſel verſucht und können ja leicht noch mal hingehn; und dann iſt da das alte verfallne Haus auf dem Stillhaus-Hügel, und dann gibt's 'ne Menge Wurzeln von toten Bäumen — maſſenhaft!“
„Iſt unter allen was?“
„Was ſchwatzt du! Nee!“
„Woher kannſt du denn wiſſen, wohin wir gehen müſſen?“
„Na — zu allen!“
„Verflucht, Tom — 's wird den ganzen Sommer dauern.“
„Na, was ſchad's? Denk', du findſt 'nen Meſſingtopf, ganz roſtig oder 'ne verfaulte Kiſte voll Diamanten — he?“
Hucks Augen glänzten.
„Wär' grad' was für mich, Tom, wär' ganz extra was für mich! Ader die Diamanten nehm' ich nicht für hundert Dollars!“
„Na, ſchon gut. Aber ich würd' die Diamanten nicht verſchmähn! Einige von ihnen ſind zwanzig Dollar wert. Alle nicht — aber auch die andern ſind ſechs Cent bis 'nen Dollar wert.“
„Nee — iſt das ſo?“
„Sicher — alle ſagen's. Haſt du nie einen geſehn, Huck?“
„Nicht, daß ich wüßte.“
„O, Könige haben Haufen davon.“
„Na, ich kenn' aber keinen König, Tom!“
„Denk' wohl, daß du keinen kennſt. Aber, wenn du nach Europa gingſt, würdſt du 'ne Menge rumhüpfen ſehn.“
„Hüpfen die?“
„Hüpfen, du Schafskopf? Nee!“
„Na — warum ſagteſt du denn, daß ſie's täten?“
„Nachtmütze! Meint' doch nur, du würdſt ſie ſehn, — nicht hüpfend natürlich — warum ſollten ſie denn hüpfen? Meint' nur, du würdſt ſie ſehn — überall, verſtehſt du — überall! Zum Beiſpiel beim alten buckligen Richard.“
„Richard? Wie iſt ſein anderer Name?“
„Er hat keinen anderen Namen — Könige haben nur 'nen Vornamen.“
„Nicht?“
„Aber nein — ſag' ich dir!“
„Na, wenn's ſo iſt, Tom, meinetwegen. Aber ich möcht' nicht König ſein und nur 'nen Vornamen haben wie 'n Nigger. Aber, ſag mal — wo willſt du zuerſt graben?“
„Weiß noch nicht. Denk' wir nehmen den abgeſtorbenen Baum auf dem Hügel hinter Stillhaus?“
„Mir recht.“
So trieben ſie denn eine ausrangierte Hacke und eine Schaufel auf und machten ſich auf den Weg von drei Meilen. Sie kamen heiß und erſchöpft an und warfen ſich im Schatten einer benachbarten Ulme nieder, um auszuruhen und ein bißchen zu rauchen.
„So gefällts mir,“ meinte Tom.
„Mein' ich auch.“
„Sag', Huck — wenn wir hier 'nen Schatz finden, was machſt du mit deiner Hälfte?“
„Na, dann muß ich jeden Tag 'ne Paſtete und 'n Glas Sodawaſſer haben, und dann geh' ich in jeden Zirkus, der herkommt. Soll 'ne famoſe Zeit werden!“
„Na, und du willſt gar nichts ſparen?“
„Sparen? Wozu?“
„Nu, damit du ſpäter mal was zu leben haſt!“
„Ach, das iſt ja Unſinn! Pap wird eines ſchönen Tags in dies liebliche Neſt zurückkommen und ſeine Klauen drüber legen, wenn ich's noch nicht verbraucht hätt', und ich ſag' dir, er hätt's bald genug durchgebracht. Was willſt du tun, Tom?“
„Ich werd' mir 'ne neue Trommel kaufen und 'n richtiges Schwert und 'n rotes Halstuch, und 'ne junge Bulldogge — und dann würd' ich heiraten.“
„Heiraten!!?“
„Na ja!“
„Tom, du — na, wenn du nicht recht bei Verſtand biſt!“
„Wart' nur — wirſt's ja ſehn.“
„Na, das iſt doch 's Dümmſte, was du tun könnteſt. Sieh doch nur meinen Pap und ſeine Alte. Teufel — was die ſich prügeln! Weiß noch ganz gut!“
„Das iſt 'n anderes Ding. Das Mädchen, das ich heiraten will, prügelt ſich nicht!“
„Tom — denk' doch, ſie ſind alle gleich! Wollen einen alle ſtriegeln. Wirſt nach 'ner Weile wohl vernünftiger drüber denken. Wie heißt denn 's Mädel?“
„'s iſt überhaupt kein Mädel — 's iſt 'n Mädchen!“
„Denk' doch, 's iſt alles eins; die einen ſagen Mädel, die anderen Mädchen — 's iſt ganz gleich. Aber wie heißt ſie denn, Tom?“
„'n andermal, ſag' ich's dir, Huck — jetzt nicht.“
„Na — 's auch recht. Aber wenn du heirateſt, werd' ich noch einſamer ſein.“
„Unſinn, Huck, du kommſt zu mir und wohnſt hier. — Na, genug davon, wollen wir anfangen, zu graben?“
Sie arbeiteten und ſchwitzten eine halbe Stunde hindurch. Kein Reſultat. Sie mühten ſich noch eine halbe Stunde. Noch kein Erfolg.
Huck meinte: „Graben ſie immer ſo tief?“
„Manchmal — nicht immer. Denk, wir haben nicht die rechte Stelle erwiſcht.“ Sie wählten eine andere Stelle und begannen nochmals. Die Arbeit ſtockte diesmal ein bißchen, aber ſie kamen doch vorwärts. Wieder gruben ſie ſtillſchweigend eine Zeitlang. Schließlich lehnte ſich Huck auf ſeine Schaufel, wiſchte den Schweiß von ſeiner Stirn und ſagte: „Wo woll'n wir graben, wenn wir hier fertig ſind?“
„Denk', wir woll'n den alten Baum über Cardiff Hill — hinter dem Haus der Witwe nehmen.“
„Glaub's auch, daß dort was iſt. Aber, wenn's die Witwe uns fortnimmt, Tom? 's iſt ihr Land.“
„Sie wegnehmen! Soll ſie's doch nur verſuchen! Wenn einer ſo 'nen vergrabenen Schatz findet, gehört er ihm. Ich mach' keinen Unterſchied, wem das Land grad' gehört.“
Das war beruhigend. Die Arbeit wurde fortgeſetzt. Dann ſagte Huck wieder:
„Verdammt — wir müſſen wieder an 'nem falſchen Platz ſein. Was meinſt du?“
„'s iſt wirklich ſonderbar, Huck. Verſteh's nicht. Manchmal ſtören's die Hexen. Denk' 's wird das ſein, was uns hier ſtört.“
„Unſinn, Hexen haben tags keine Macht!“
„Na ja, 's iſt wahr! Dachte nicht dran. Halt — jetzt weiß ich, wie's iſt! Was für verdammt große Schafsköpfe wir ſind! Man muß ja doch erſt wiſſen, wohin der Schatten bei Mondſchein fällt, und da muß man dann graben!“
„Na ja, dann glaub' ich's, daß wir all die Arbeit umſonſt gemacht haben. Jetzt hol's der Teufel alles, müſſen halt zur Nachtzeit wiederkommen. 's iſt 'n verteufelt weiter Weg. Kannſt du fortkommen?“
„Werd's ſchon machen. Dieſe Nacht woll'n wir's alſo machen, denn wenn jemand dieſe Gruben da ſieht, weiß er doch gleich, was da los iſt und gräbt's ſelbſt aus.“
„'s iſt gut, ich werd' nachts kommen und miauen.“
„Recht — aber jetzt wollen wir noch das Werkzeug in den Büſchen verſtecken.“
Nachts, zur verabredeten Stunde waren die Jungen wieder da. Wartend ſaßen ſie im Schatten. Es war ein einſamer Platz und eine durch lange Tradition unheimlich gewordene Stunde. Geiſter wiſperten im raſchelnden Laub. Geiſter ſpukten in allen Ecken, das klagende Heulen eines Hundes tönte aus einiger Entfernung herüber, eine Eule antwortete mit Grabesſtimme. Die Jungen fühlten ſich von ihrer unheimlichen Umgebung bedrückt und ſprachen nur mit leiſer Stimme. Schließlich nahmen ſie an, es möchte zwölf Uhr ſein; ſie bezeichneten die Stelle, wohin der Schatten fiel und begannen zu graben. Ihre Hoffnung wuchs; das Intereſſe wurde lebhafter, und ihr Fleiß hielt gleichen Schritt. Das Loch wurde tiefer und tiefer, aber ſo oft ihre Herzen zu klopfen begannen, wenn ein ſcharfer Ton von unten hervordrang, erfuhren ſie eine neue Enttäuſchung. Jedesmal war's nur ein Stein oder Holzſtrunk. Schließlich ſagte Tom: „'s iſt nicht richtig. Huck, wir haben's wieder verfehlt!“
„Unſinn, wir können 's nicht verfehlt haben. Wir haben doch den Schatten zu genau getroffen.“
„Ja, ich weiß, aber vielleicht iſt ſonſt was ſchuld.“
„Was denn?“
„Wir haben die Zeit bloß abgeſchätzt. Leicht genug war's ſpäter oder früher.“
Huck ließ die Schaufel ſinken. „Das iſt's.“ ſagte er. „Das iſt's, was uns geſtört hat. Wir müſſen's aufgeben. Wir können doch nicht immer die rechte Zeit abpaſſen, und dann, das Ding hier iſt zu unheimlich, hier dieſe Nachtzeit mit Geiſtern und Geſpenſtern, die um einen rumfliegen. Ich bild' mir immer ein, 's iſt wer hinter mir, und hab' doch Angſt, mich umzuſehn, denn 's könnten auch welche vor mir ſein und nur auf 'ne Gelegenheit warten. So lang' ich hier bin, läuft's mir kalt über.“
„Na, mir iſt's nicht viel beſſer gegangen, Huck. Meiſtens haben ſie 'nen toten Mann begraben, wo ſie ihre Schätze hintun, der muß drauf achthaben.“
„Herr Gott!“
„Ja, 's iſt ſo. Hab' immer ſo ſagen gehört.“
„Tom, möcht mir doch nicht viel zu ſchaffen machen, wo 'n Toter liegt. So 'n toter Schädel könnt' einem doch hölliſch Angſt machen.“
„Möcht' keinen aufſtöbern, Huck. Zu denken, daß hier plötzlich einer den Kopf rausſtreckt und anfängt, zu ſprechen.“
„Still, Tom — 's iſt ſchrecklich!“
„Na, das iſt's gewiß, Huck. Würd' mich auch nicht gemütlich dabei fühlen!“
„Du, Tom, komm, wollen's hier ſein laſſen, und 's wo anders verſuchen.“
„Ja, ich denk' auch, 's wird beſſer ſein.“
„Wo denn?“
Tom dachte eine Weile nach und ſagte: „Das Beinhaus — das iſt's.“
„Teufel! Beinhäuſer lieb' ich gar nicht, Tom! Da ſind Geſpenſter, und die ſind noch ſchlimmer als Tote. Tote können vielleicht mal 'n bißchen ſchwatzen, aber ſie fahren nicht herum und kommen nicht 'rangeſchlichen, wenn man nicht dran denkt und gucken einem nicht plötzlich über die Schulter und knirſchen nicht mit den Zähnen, wie Geſpenſter tun. Ich könnt's nicht ertragen, Tom — niemand könnt's.“
„Ja; aber, Huck, Geiſter dürfen nur nachts herumhuſchen — bei Tage können ſie uns nicht hindern, da zu graben.“
„Ja, das iſt wohl ſo. — Aber du weißt wohl, daß überhaupt niemand gern in die Nähe vom Beinhaus geht — weder bei Tag noch bei Nacht.“
„Na, 's iſt aber doch nur, weil ſie nicht hingehen mögen, wo mal einer gemordet worden iſt. Aber 's hat doch nie jemand was Verdächtiges im Beinhaus geſehn — nur 'n bißchen blaues Licht im Fenſter — keine Geiſter.“
„Na, ich ſag' dir, Tom, wo du ſo 'n blaues Licht ſiehſt, kannſt du ſicher ſein, daß da 'n Geiſt dahinter ſteckt. 's iſt doch mal ſo bekannt. So 'n Licht, weißt du, braucht niemand als Geſpenſter.“
„'s iſt wahr, Huck. Aber bei Tag' kommen ſie doch nicht 'raus; da brauchen wir uns doch nicht zu fürchten?“
„Na, meinetwegen, wenn du meinſt, woll'n wir 's Beinhaus vornehmen — aber — aber ich denk doch, 's iſt gewagt.“
Inzwiſchen waren ſie den Hügel hinuntergekommen. Dort, mitten im Mondlicht, im Tal ſtand das Beinhaus vor ihnen, gänzlich einſam, die Umzäunung längſt zerbrochen, die Tür umgeben von allerhand Schlinggewächſen, das Dach halb zerfallen, leere Fenſterhöhlen und der Schornſtein eingeſunken. Die Jungen ſtanden eine Weile ſtill, halb in der Erwartung, ein blaues Licht in den Fenſtern zu ſehen; ſie ſprachen, wie Zeit und Umſtände es verlangten, mit halber Stimme. Dann machten ſie, daß ſie fortkamen, umkreiſten das unheimliche Gebäude in weitem Bogen und ſchlichen durch den Wald von Cardiff Hill nach Hauſe.
Gegen Mittag des nächſten Tages kamen die Jungen bei dem abgeſtorbenen Baum an; ſie wollten ihr Werkzeug holen. Tom hatte es ſehr eilig, zum Beinhaus zu kommen. Huck, etwas weniger hitzig, ſagte plötzlich:
„Wart mal, Tom, weißt du auch, was heut für 'n Tag iſt?“
Tom ließ die Tage der Woche Revue paſſieren und machte erſchreckte Augen:
„Donnerwetter, Huck, hab' noch gar nicht dran dacht!“
„Na, ich hab's bisher auch nicht getan, aber plötzlich fiel's mir eben ein, heut iſt Freitag!“
„Verdammt! Man kann doch nicht vorſichtig genug ſein, Huck. Hätten in 'ne ſchöne Patſche geraten können, wenn wir ſo was an 'nem Freitag begonnen hätten!“
„Will ich meinen! Sag' lieber: wären gekommen! 's gibt Glückstage, aber der Freitag iſt gewiß keiner von ihnen!“
„Das weiß jeder Dummkopf. Denk doch, du biſt nicht der erſte, der das rauskriegt.“
„Na, das hab' ich ja doch auch nicht geſagt, oder? Und der Freitag iſt noch nicht alles. Hab' 'nen verflucht böſen Traum gehabt, letzte Nacht — hab' von Ratten geträumt.“
„Na, iſt 'n ſchönes Zeichen, daß was paſſiert! Kämpften ſie?“
„Nee.“
„Na, dann iſt's gut, Huck. Wenn ſie nicht kämpfen, iſt's nur ein Zeichen, daß was in der Luft liegt, weißt du. Wir brauchen alſo bloß gut aufzupaſſen und uns in acht zu nehmen. Wollen wir alſo das für heute laſſen und ſpielen. — Kennſt du Robin Hood, Huck?“
„Nee, wer iſt Robin Hood?“
„Na, das war einer von den größten Menſchen, die je in England gelebt haben — und einer der beſten. 's war ein Räuber.“
„Wetter, wünſcht', ich wär' auch einer. Wen beraubte er denn?“
„Nur Sheriffs und Biſchöfe und reiche Leute und Könige und ſolches Volk. Arme beraubte er nie. Er liebte ſie. Er teilte alles mit ihnen bis auf den letzten Penny.“
„Muß ein verflucht guter Burſche geweſen ſein.“
„Will ich meinen, Huck. O, er war der edelſte Menſch, der je gelebt hat. Solche Leute gibt's jetzt gar nicht mehr, ſag' ich dir. Er konnte alle Menſchen in England beſiegen, auch wenn ſeine eine Hand gebunden war. Und dann konnte er mit ſeinem Eibenbogen und ſeinem Pfeil ein Zehn-Centſtück jederzeit treffen — anderthalb Meilen davon.“
„Was iſt 'n Eibenbogen?“
„Weiß nicht; 's iſt halt irgend ein Bogen. Und wenn er das Stück nur am Rande traf, ſetzte er ſich hin und weinte — wahrhaftig. Aber laß uns Robin Hood ſpielen — 's iſt 'n famoſer Spaß. Werd's dir beibringen.“
„Mir recht.“
So ſpielten ſie Robin Hood den ganzen Nachmittag, zuweilen ſehnſüchtige Blicke auf das Beinhaus werfend und eine Bemerkung über die Ausſichten und möglichen Ereigniſſe des nächſten Tages fallen laſſend. Als die Sonne im Weſten zu ſinken begann, ſchlenderten ſie heimwärts durch die langen Schatten der Bäume und waren bald im Walde von Cardiff Hill verſchwunden.
Am Samſtag, kurz nach Mittag, waren die Jungen abermals am Fuße des bewußten Baumes. Sie rauchten ein bißchen und hielten ein Schwätzchen im Schatten der Bäume, und ſtocherten dann ein wenig in ihrer Grube, nicht mit großen Hoffnungen, ſondern mehr, weil Tom ſagte, es wäre ſchon oft vorgekommen, daß Leute einen Schatz ſchon aufgegeben, nachdem ſie ihm bis auf ſechs Zoll nahe gekommen ſeien, und dann ſei irgend ein anderer gekommen und habe ihn mit einem einzigen Spatenſtich ausgehoben. Diesmal war's indeſſen nichts, ſo nahmen die Jungen ihr Werkzeug auf die Schultern und marſchierten ab, im Gefühl, daß ſie beim Graben zwar kein Glück gehabt, aber alles getan hätten, was beim Schatzſuchen vonnöten ſei.
Als ſie das Beinhaus erreichten, lag etwas ſo Geheimnisvolles, Unheimliches in dem toten Schweigen, das hier unter der brütenden Sonne herrſchte, und etwas ſo Niederdrückendes in der Verlaſſenheit und Troſtloſigkeit des Ortes, daß ſie für einen Augenblick nicht den Mut hatten, einzutreten. Dann ſchlichen ſie zur Tür und ſpähten vorſichtig hinein. Sie erblickten einen von Unkraut überwucherten, ungepflaſterten Raum, einen alten Feuerherd, leere Fenſterhöhlen, eine halb zerfallene Treppe, und hier und da und dort hingen zerriſſene, verlaſſene Spinnengewebe. Sie traten ſogleich vorſichtig ein, mit klopfenden Pulſen, ſich im Flüſterton beſprechend, die Ohren für das geringſte Geräuſch geſpitzt, die Muskeln angeſpannt, um unverzüglich davonlaufen zu können.
Aber in kurzem wurden ſie heimiſch, verloren ihre Furcht und unterzogen die Szenerie einer kritiſchen, aufmerkſamen Inſpektion, dabei immer mehr ihre eigene Kühnheit bewundernd. Danach richteten ſich ihre Blicke auf die Treppe. Es hieß, ſich den Rückzug abſchneiden, aber ſie ermutigten ſich gegenſeitig, und ſo konnte es nicht fehlen — ſie warfen ihre Geräte in eine Ecke und kletterten hinauf. Oben zeigten ſich dieſelben Spuren des Verfalls. In einem Winkel fanden ſie einen vielverſprechenden Wandſchrank, aber die Hoffnung war trügeriſch — es war nichts drin. Jetzt waren ſie wieder ganz im Beſitz ihres Mutes und ihrer Unternehmungsluſt. Gerade wollten ſie wieder hinunter und ihr Werk beginnen, da —
„Pſt,“ flüſterte Tom.
„Was gibt's?“ Huck ebenſo, ſchneeweiß vor Schreck.
„Pſcht — du — hörſt du nichts?“
„Ja — o Himmel — laß uns fortlaufen!“
„Halt's Maul! Rühr' dich nicht! Sie kommen richtig auf die Tür zu!“
Die Jungen kauerten ſich auf den Fußboden nieder, ſpähten durch Ritzen auf dem Fußboden und warteten in Furcht und Elend.
„Sie halten — — nein — ſie kommen — da ſind ſie! Kein Wort mehr, Huck! Mein Gott — ich wollt', ich wär' hier raus!“
Zwei Männer traten ein. Beide Jungen ſagten zu ſich ſelbſt: „'s iſt der alte taubſtumme Spanier, der ein paarmal letzthin im Dorfe war — den anderen hab' ich nie geſehn.“
Der „andere“ war ein zerlumpter, ungekämmter Strolch mit wenig einladenden Geſichtszügen. Der Spanier war in eine „Serape“ gehüllt, er hatte einen ſtruppigen weißen Bart, langes, weißes Haar flatterte unter dem Räuberhut hervor, er trug grüne Augengläſer. Indem ſie hereinkamen, ſprach der „andere“ mit leiſer Stimme; ſie ſetzten ſich auf die Erde, das Geſicht zur Tür, den Rücken gegen die Wand, und der Sprecher fuhr fort. Sein Benehmen wurde ungenierter und ſeine Sprache entſchiedener.
„Nein,“ ſagte er, „hab' drüber nachgedacht — 's geht nicht; 's iſt zu gefährlich.“
„Gefährlich,“ höhnte der taubſtumme Spanier zur höchſten Überraſchung der Jungen. „Waſchlappen!“
Dieſe Stimme ließ die Jungen erzittern wie Eſpenlaub. Es war der Indianer-Joe! Einen Augenblick herrſchte Schweigen. Dann fuhr Joe fort: „Was iſt wohl gefährlicher als der letzte Streich — und doch iſt nichts paſſiert.“
„Das iſt 'n Unterſchied. Weit draußen am Fluß und kein Haus in der Nähe! Wer ſollt' denn wiſſen, daß wir was verſucht haben, wo wir doch nichts erreicht haben!“
„Na, wie kann was gefährlicher ſein, als bei Tage hierher kommen? Wer uns ſäh', müßt' doch Verdacht haben.“
„Weiß wohl. 's gab aber keinen beſſeren Platz nach dem mißglückten Streich. Muß fort von hier. Wollt's auch geſtern ſchon, 's war aber nicht möglich, von hier auszuziehen, ſolange dieſe Teufelsjungen da oben ganz in der Nähe ſpielten.“
„Dieſe Teufelsjungen“ zuckten unter dieſer Bemerkung zuſammen und dachten, wie gut es doch ſei, daß ſie ſich noch zur rechten Zeit an den Freitag erinnert und beſchloſſen hatten, bis Samſtag zu warten. Sie wünſchten nur, ein Jahr gewartet zu haben.
Die beiden Männer holten ein paar Lebensmittel hervor und hielten eine Mahlzeit. Nach langem, gedankenvollen Schweigen ſagte Joe: „Paß auf, Kerl, mache, daß du wieder ſtromaufwärts kommſt, wo du hingehörſt. Warte dort, bis du von mir hörſt. Werd' mir mal die Gelegenheit anſehen im Dorf. Wenn ich 'n bißchen rumgeſchnüffelt hab' und alles ſich gut anläßt, wolln wir das ‚gefährliche Stückchen‘ ausführen. Dann nach Texas! Wollen's zuſammen machen!“
Das war befriedigend. Beide fingen an zu gähnen, und Joe ſagte:
„Bin todmüde! Die Reihe iſt an dir, zu wachen.“
Er warf ſich nieder und begann bald zu ſchnarchen. Der andere ſtieß ihn ein paarmal an, und er wurde ruhig. Plötzlich begann der Wächter zu nicken; ſein Kopf ſank tiefer und tiefer; dann ſchliefen beide.
Die Jungen taten einen langen, erleichterten Atemzug. Tom flüſterte:
„Jetzt gilt's — komm!“
Huck aber meinte: „Kann nicht — wär' tot, wenn ſie aufwachten!“
Tom drängte, Huck hielt zurück. Schließlich erhob ſich Tom leiſe und furchtſam und ſchlich allein davon. Aber der erſte Schritt, den er tat, erzeugte auf dem Holzboden ein ſolches Krachen, daß er halbtot vor Angſt wieder niederkauerte. Er machte keinen zweiten Verſuch. Die Jungen lagen da, die ſchrecklichen Augenblicke zählend, bis es ihnen ſchien, die Zeit habe aufgehört und die Ewigkeit beginne. Und dann erleichterte ſie der Gedanke, daß ſchließlich die Sonne untergehen müſſe. Jetzt rührte ſich der eine Schläfer. Joe richtete ſich auf, ſtarrte um ſich, lächelte verächtlich auf ſeinen Spießgeſellen nieder, deſſen Kopf auf ſeine Knie geſunken war, ſtieß ihn mit dem Fuße an und rief: „Auf! Biſt mir 'n ſchöner Wächter, Kerl!“
„Na ja, was denn — 's iſt ja nichts paſſiert.“
„Na — haſt du denn jetzt ausgeſchlafen?“
„'s geht halb und halb.“
„Jetzt heißt's aber aufbrechen. Was machen wir nur mit dem bißchen Geld, was wir noch haben?“
„Weiß nicht — laſſen's hier, wie ſonſt, denk' ich. Wer ſollt's fortnehmen, wenn wir weg ſind? Sechshundertundfünfzig in Silber iſt auch zu viel zum Mitſchleppen.“
„Na ja — iſt recht — wenn wir doch noch mal herkommen müſſen.“
„Dann iſt's aber doch beſſer, in der Nacht herzukommen, wie ſonſt.“
„Ja — aber denk' mal, 's könnt' doch 'ne ziemliche Zeit dauern, bis ich zu dem Streich kommen kann, 's könnt ſich was zutragen und 's liegt hier grad' an keinem guten Platz. Wollen's doch lieber richtig vergraben — und tief vergraben.“
„'s iſt 'n guter Gedanke,“ ſagte der andere, ging durch den Raum, kniete nieder, riß einen der Herdſteine auf und holte einen Sack heraus, der vielverſprechend klang. Er nahm zwanzig bis dreißig Dollar für ſich und ebenſoviel für Joe heraus und gab den Sack letzterem, der in der Ecke kniete, mit ſeinem Meſſer die Erde aufwühlend.
Die Jungen vergaßen alle Angſt, all ihre Verlegenheit bei dieſem Anblick. Mit glänzenden Augen verfolgten ſie jede Bewegung. Der Glanz da unten übertraf all ihre Vorſtellungen! Sechshundert Dollar war Geld genug, ein halbes Dutzend kleiner Jungen reich zu machen! Hier ließ ſich unter den glücklichſten Ausſichten nach Gold graben, da gab's kein Kopfzerbrechen, wo man graben müſſe. Jeden Augenblick ſtießen ſie einander an — ein leichtes Verſtändigungsmittel, denn ihr einziger Gedanke war: Freuſt dich, daß wie hier ſind.
Joes Meſſer ſtieß auf etwas.
„Holla,“ ſagte er.
„Was gibt's?“ fragte der andere Strolch.
„'n halb verfaulter Balken — nee, glaub', 's iſt 'n Kaſten. Hier, hilf mal, wollen ſehn, was es gibt. Ho, da hab' ich 'n Loch hineingebrochen.“
Er griff mit der Hand hinunter und zog ſie wieder heraus.
„Menſch — 's iſt Geld!“
Die beiden unterſuchten die Handvoll Münzen. Es war wirklich Gold. Die Jungen oben waren ebenſo erregt und entzückt wie ſie.
Joes Spießgeſelle ſagte: „Wollen gleich ganze Arbeit damit machen. Dort liegt 'ne alte verroſtete Hacke in der Ecke, dort auf der anderen Seite vom Herd — ſah ſie vorhin.“
Er lief hin und brachte Hacke und Schaufel der Jungen. Joe nahm die Hacke, betrachtete ſie mit kritiſcher Miene, ſchüttelte den Kopf, murmelte etwas vor ſich hin und begann damit zu hantieren.
Die Kiſte war bald ausgegraben. Sie war nicht ſehr groß; ſie hatte Eiſenbänder und war ſehr ſtark geweſen, bevor der Zahn der Zeit ſie angefreſſen hatte. Der Kerl betrachtete den Schatz eine Weile aufmerkſam, ſchweigend, aber vergnügt.
„Kerl, 's ſind gewiß tauſend Dollar,“ ſagte er.
„'s hat ja immer ſchon geheißen, daß Murrels Bande vorigen Sommer hier gehauſt hat,“ bemerkte der Fremde.
„Weiß wohl,“ entgegnete Joe, „und mir ſcheint, 's ſieht ganz danach aus.“
„Jetzt brauchſt du deinen Streich nicht mehr auszuführen, ſollt' ich denken.“
Der Indianer runzelte die Stirn und ſagte: „Du kennſt mich nicht. Wenigſtens weißt du nichts von dieſer Sache. Hier will ich nicht rauben — 's iſt Rache!“ Und mit flammenden Augen ſprang er auf. „Brauch' deine Hilfe dazu nicht! Wenn's geſchehen iſt — nach Texas. Geh' du nur heim zu deiner Hure und der Brut — und ſei bereit, wenn du von mir hörſt!“
„'s iſt gut, wenn du's ſagſt. Was woll'n wir hiermit machen — wieder vergraben?“
„Ja. (Freude und Entzücken oben.) Nein, beim großen Geiſt, nein! (Tiefe Niedergeſchlagenheit.) 's könnt' leicht vergeſſen werden. — Die Hacke da hat friſche Erdſpuren! (Die Jungen wurden faſt ohnmächtig vor plötzlichem Schreck.) Was haben 'ne Hacke und 'ne Schaufel hier zu tun? Wie kommt friſche Erde dran? Wer hat ſie hier gebraucht — und wo ſind die Burſchen hin? Haſt du was gehört — was geſehn? Zum Teufel — wieder vergraben und ſie kommen laſſen und die Erde friſch aufgewühlt ſehen? Wär' ſo was! Glaub's. Wir nehmen das mit.“
„Na, meinetwegen. Aber überleg' erſt, wohin. Meinſt du Nummer eins?“
„Nein — Nummer zwei — unter dem Kreuz. Der andere Platz iſt ſchlecht — zu gewöhnlich.“
„Recht. 's iſt bald dunkel genug, aufzubrechen.“
Joe richtete ſich auf und ging von Fenſter zu Fenſter, vorſichtig hinausſpähend. Plötzlich ſagte er: „Wer könnt' doch nur das Handwerkszeug da hergebracht haben? Glaubſt du, ſie könnten oben ſein?“
Den Jungen ſtand der Atem ſtill. Joe legte die Hand ans Meſſer, zögerte einen Moment unentſchloſſen, dann begann er die Treppe zu erſteigen. Die Jungen dachten an den Schrank, aber die Kräfte verſagten ihnen. Die Schritte näherten ſich knarrend — die verzweifelte Lage ſtachelte die geſunkenen Lebensgeiſter wieder auf — ſie waren im Begriff, zum Schrank zu laufen, als plötzlich das Krachen brechenden Holzes ertönte und Joe wieder unten ankam, mit den Trümmern der Treppe.
Fluchend rappelte er ſich empor und der andere Strolch ſagte: „Na, wozu das alles! Wenn jemand da iſt und er ſteckt oben — laß ihn ſtecken — was kümmert's uns? Wenn einer runter kommen will und ſich hier Ungelegenheiten zuzieht — meinetwegen! In fünfzehn Minuten wird's dunkel — dann ſoll uns folgen, wer will. Meine Meinung iſt: die Kerls, die die Sachen hierher geſchleppt haben, haben uns geſehen und uns für Geſpenſter und Geiſter gehalten. Will wetten, ſie laufen noch!“
Joe brummte noch 'ne Weile, dann ſtimmte er dem anderen bei, das letzte Tageslicht zur Ausführung der nötigen Vorbereitungen zu benützen. Kurz danach ſchlüpften ſie aus dem Haus ins Zwielicht und wandten ſich mit ihrer koſtbaren Laſt dem Fluſſe zu.
Tom und Huck erhoben ſich, warteten, bis alles ſtill war und ſtarrten dann durch Ritzen im Gebälk ihnen nach. Folgen! Kein Gedanke — ſie waren zufrieden, den Boden zu erreichen, ohne ſich den Hals gebrochen zu haben, und machten ſich über den Hügel auf den Heimweg. Sie ſprachen nicht viel, ſie waren zu ärgerlich auf ſich ſelbſt — ärgerlich über die Dummheit, Hacke und Spaten mit hierher zu nehmen. Denn ohne das würde Joe niemals Verdacht geſchöpft haben. Er hätte Silber und Gold vergraben, um erſt ſeine „Rache“ auszuführen — und dann würde er das Unglück gehabt haben, nichts mehr vorzufinden! Bitteres, bitteres Verhängnis, daß ſie ihr Werkzeug mitſchleppen mußten! Sie nahmen ſich vor, auf den Spanier zu achten, wenn er ins Dorf kommen ſollte, um das Terrain für ſeinen Racheplan zu ſondieren, und ihm dann nach „Nummer zwei“ zu folgen, mochte es ſein, wo es wollte. Da kam Tom ein ſchrecklicher Gedanke:
„Rache? Wenn er uns meinte. Huck?“
„Er wird doch nicht?“ ſtotterte Huck, faſt umfallend.
Sie ſprachen eifrig darüber und einigten ſich in der Annahme, daß er jemand anders gemeint haben müſſe — im ſchlimmſten Fall könne er nur Tom meinen, da nur dieſer Zeugnis abgelegt habe.
Was ein ſehr, ſehr ſchwacher Troſt für Tom war, allein in Gefahr zu ſein! Ein Leidensgefährte würde hier ein beſſerer Troſt ſein — dachte er.
Das Abenteuer des Tages quälte Tom nachts im Traum. Manchmal hielt er den Schatz in Händen, manchmal zerrann er ihm zwiſchen den Fingern in nichts, bis ihn der Schlaf verließ und das Erwachen ihn von der ſchrecklichen Wirklichkeit ſeiner Lage überzeugte. Als er am frühen Morgen, die Einzelheiten ſeines Abenteuers überdenkend, dalag, erſchienen ſie ihm immer undeutlicher und unklarer, als wenn ſie ſich in irgend einer anderen Welt ereignet hätten oder in längſt vergangener Zeit. Dann ſchien ihm das große Ereignis wie ein Traum! Es ſprach ſehr viel dafür, namentlich, daß die Menge Geld, die er geſehen hatte, gar zu groß ſchien, um wirklich exiſtieren zu können. Er hatte nie mehr als fünfzig Dollar in einem Haufen geſehen und wie alle Jungen ſeines Alters und ſeiner Lebenslage, glaubte er, daß alle „Hunderte“ und „Tauſende“ nichts anderes ſeien als glänzende Redensarten, und daß eine ſolche Summe in Wirklichkeit gar nicht denkbar ſei. Nicht einen Augenblick hatte er gedacht, daß ſich in irgend jemandes Beſitz eine ſolche Summe, wie hundert Dollar war, finden könne. Wenn er ſich ſeine vergrabenen Schätze vorſtellte, rechnete er höchſtens mit 'ner Handvoll Schillinge.
Aber die Einzelheiten ſeines Abenteuers traten ihm, je mehr er daran dachte, um ſo ſchärfer und klarer vor die Seele und plötzlich ertappte er ſich über dem Gedanken, daß möglicherweiſe doch nicht alles ein Traum geweſen ſei. Dieſe Ungewißheit mußte abgeſchüttelt werden. Schnell wollte er ſein Frühſtück hinunterſchlingen und dann Huck aufſuchen.
Huck ſaß auf dem Rande eines Bootes, ſeine Füße ins Waſſer baumeln laſſend und mit ſehr melancholiſchem Geſichtsausdruck. Tom beſchloß, Huck ſelbſt auf den Gegenſtand kommen zu laſſen. Tat er's nicht, dann war alles ein Traum geweſen.
„Holla, Huck!“
„Morgen, Tom!“
Minutenlanges Stillſchweigen.
„Tom, hätten wir den verdammten Spaten oben beim Baum gelaſſen, hätten wir's Geld bekommen. Ach, 's iſt zum Verrücktwerden!“
„'s war alſo kein Traum, 's war kein Traum! Möcht' faſt, 's wär einer geweſen.“
„Was iſt kein Traum?“
„O, die Geſchichte von geſtern. Dachte halb, 's wär einer geweſen.“
„Traum! Wär' die Treppe nicht gebrochen, hätteſt du was von 'nem Traum erleben können! Hab' die ganze Nacht von dem verdammten grünäugigen Spanier geträumt, wie er auf mich losging. Der Henker hol' ihn!“
„Nicht hol' ihn! Find ihn! Find's Geld!“
„Tom — wollen ihn lieber nicht wiederfinden! Mich würd's ſchütteln, wenn ich ihn bloß wieder zu ſehen kriegte.“
„Gut, ſo tu ich's. Möcht' ihn ſchon ſehen und ihm nachſchleichen — nach Nummer zwei.“
„Nummer zwei; ja, das iſt's. Denk' immerfort drüber nach. Aber ich kann's nicht rauskriegen. Was denkſt du?“
„Weiß nicht. Iſt zu tief. Sag', Huck — könnt's nicht die Nummer von 'nem Haus ſein'?“
„Goddam! — Nein, Tom, das iſt's nicht. Wenn's iſt, iſt's doch nicht hier im Dorf. Hier gibt's keine Nummern.“
„Ja, das iſt wohl ſo. Laß mich 'ne Minute denken. He — 's iſt die Nummer von 'nem Zimmer — in 'nem Wirtshaus — weißt du!“
„Das iſt's! Das iſt 'n Kniff! 's gibt aber nur zwei Wirtshäuſer. Wir können's leicht finden.“
„Wart' hier, Huck, bis ich wiederkomm'.“
Im Nu war Tom verſchwunden. Er wollte ſich auf offener Straße nicht mit Huck ſehen laſſen. Eine halbe Stunde war er fort. Er fand, daß im beſſeren Wirtshaus Nummer zwei ſeit langer Zeit von einem jungen Advokaten bewohnt war und noch wurde.
Im andern Wirtshaus war Nummer zwei in geheimnisvolles Dunkel gehüllt. Der Sohn des Wirtes ſagte, daß ſie ſtets geſchloſſen gehalten werde und daß er nie jemand habe hineingehen oder herauskommen ſehen — ausgenommen zur Nachtzeit; Näheres wußte er nicht, er ſelbſt ſchon habe den Gedanken gehabt, es ſpuke in dem Zimmer und ſchließlich wußte er nichts von einem Licht darin in der letzten Nacht.
„Das hab' ich alles rausgekriegt, Huck. Ich denke, 's iſt die Nummer zwei, die wir brauchen.“
„Denk' auch, Tom. Und was willſt du jetzt tun?“
„Laß mich nachdenken.“
Tom dachte lange nach, dann ſagte er: „Will's dir ſagen. Die Hintertür von Nummer zwei geht auf den Gang zwiſchen Wirtshaus und der alten Mauer. Nun ſollſt du alle Schlüſſel, die du nur auftreiben kannſt, zuſammentragen und ich will alle von meiner Tante nehmen und in der erſten dunklen Nacht wollen wir hingehen und ſie verſuchen. Und dann ſollſt du auf Joe aufpaſſen, weil er doch geſagt hat, daß er hier 'ne Gelegenheit für ſeine Rache aushorchen will. Wenn du ihn ſiehſt, folgſt du ihm; und wenn er dann nicht nach Nummer zwei geht, dann iſt's nicht der rechte Ort.“
„Herr Gott, ich wag's nicht, ihm zu folgen!“
„Unſinn, bei Nacht iſt's ſicher. Er braucht dich ja nicht zu ſehen — und wenn er's tut, denkt er ſich nichts dabei.“
„Na, 's iſt gut: wenn's dunkel iſt, denk' ich, ich folg' ihm. Werd's verſuchen.“
„Aber ſicher, Huck — wenn du nicht gut aufpaßt, wird's nichts!“
Nachts waren Tom und Huck bereit für ihr Abenteuer. Bis nach neun Uhr trieben ſie ſich in der Nachbarſchaft des Gaſthofes herum, einer ſtets den bewußten Gang aus einiger Entfernung bewachend, der andere die vordere Tür. Niemand paſſierte den Gang; niemand, der dem Spanier ähnlich geſehen hätte, paſſierte die Tür. Die Nacht verſprach klar zu werden; ſo ging Tom nach Hauſe, mit der Verabredung, daß, ſollte ſich der Himmel noch bewölken, Huck kommen und miauen ſolle, worauf er wieder herauskommen und die Schlüſſel probieren würde. Aber die Nacht blieb klar, Huck beſchloß ſeine Wacht und zog ſich gegen 12 Uhr zum Schlafen in eine leere Zuckertonne zurück.
Am Dienſtag hatten die Jungen ebenſowenig Erfolg; auch am Mittwoch. Aber die Donnerstagnacht ließ ſich beſſer an. Tom ſchlüpfte zu guter Zeit mit der alten Blechlaterne ſeiner Tante und einem großen Tuch zum Zudecken aus dem Haus. Er verſteckte die Laterne in Hucks Zuckertonne und die Wache begann. Eine Stunde vor Mitternacht wurde das Gaſthaus geſchloſſen und ſeine Lichter (überhaupt die einzigen) erloſchen.
Kein Spanier hatte ſich gezeigt. Niemand war im Gange geſehen worden. Alles verſprach günſtigen Erfolg. Abſolute Finſternis herrſchte, und die tiefe Stille wurde nur zuweilen von fernem Donner unterbrochen.
Tom holte ſeine Laterne, hüllte ſie feſt in das Tuch, und die beiden Abenteurer taſteten ſich in der Finſternis dem Wirtshaus zu, Huck blieb als Schildwache zurück, Tom begab ſich weiter den Gang hinauf. Dann folgte eine Zeit ängſtlicher Erwartung, die gleich einer ſchweren Laſt auf Hucks Geiſt laſtete. Er begann zu hoffen, es möge ſich wenigſtens ein ſchwacher Schimmer von der Laterne zeigen — es hätte ihm Furcht eingejagt, aber wenigſtens hätte es ihm gezeigt, daß Tom noch am Leben ſei.
Stunden ſchienen vergangen, ſeit Tom verſchwunden war. Sicher war er verunglückt. Vielleicht war er gar tot; vielleicht war ſein Herz vor Schreck und Aufregung gebrochen. In ſeiner Unruhe ließ ſich Huck immer mehr den Gang hinauflocken, alles mögliche Unheil witternd und jeden Augenblick in Erwartung eines ſchrecklichen Unglücks, das ihn das Leben koſten werde.
Es gehörte vielleicht nicht mehr viel dazu, denn er ſchien nur mehr fähig, Fingerhut-Portionen Luft einzuatmen und ſein Herz mußte bald ſpringen, ſo heftig ſchlug es. Plötzlich blitzte vor ihm Licht auf und Tom kam herangeraſt, ihm zurufend: „Fort — fort — wenn dir dein Leben lieb iſt!“
Er brauchte nicht zu wiederholen; einmal war genug. Huck rannte mit dreißig bis vierzig Meilen Schnelligkeit, ehe Tom noch ausgeſprochen hatte.
Die Jungen ſtanden nicht eher, als bis ſie den Schatten des Schlachthauſes am entfernteſten Ende des Dorfes erreicht hatten. Im Moment ihrer Ankunft an dieſem geſchützten Ort begann der Sturm einzuſetzen und Regen ſtürzte nieder. Sobald Tom wieder atmen konnte, ſagte er: „Huck, 's war ſchrecklich! Ich verſuchte zwei Schlüſſel, ſo leiſe ich konnte, aber die ſchienen ſolch 'nen mächtigen Spektakel zu machen, daß ich ganz atemlos vor Schreck war. Na, ohne zu wiſſen, was ich tat, drückte ich auf den Griff und die Tür ſprang auf! Sie war gar nicht zu! Ich trat ein und hob das Tuch auf, und beim Geiſt des großen Cäſar —“
„Was — was ſahſt du, Tom?“
„Huck — ich wär beinahe auf die Hand des Indianer-Joe getreten!“
„Nein!“
„Ja. Er lag da auf dem Boden feſt ſchlafend, das alte Pflaſter über dem Auge, die Arme weit ausgebreitet.“
„Herrgott, was tatſt du? Wachte er auf?“
„Kein Gedanke. Denk', er war beſoffen. Ich raffte ſchnell das Tuch auf und rannte davon!“
„Hätt' gewiß nicht an das Tuch gedacht, glaub' ich!“
„Na, ich ſollt' wohl! Meine Tante hätt' mich ſchon drangekriegt, wenn ich's verloren hätt'.“
„Sag', Tom, haſt du die Kiſte geſehen?“
„Huck — hab' mir keine Zeit genommen, mich lang' umzuſehen. Weder die Kiſte hab' ich geſehen noch 's Kreuz. Nur 'ne Flaſche und 'n Zinnbecher auf der Erde beim Indianer-Joe hab' ich geſehen; und dann zwei Fäſſer und 'ne Menge Flaſchen. Weißt du jetzt, warum die Bude ‚verhext‘ iſt?“
„Na?“
„Na — mit Schnaps iſt ſie verhext! Ob all die Temperenzler-Gaſthäuſer ſo 'ne verhexte Bude haben, he, Huck?“
„Na — ich denk wohl! Wer hätt' aber ſo was gedacht! Aber ſag', Tom, iſt jetzt nicht 'ne verwünſcht gute Gelegenheit, die Kiſte zu erwiſchen? Wenn Joe doch betrunken iſt!“
„Teufel auch — verſuch's!“
Huck ſchauderte.
„Na — ich denk' doch nicht.“
„Na — ich auch, Huck. Bloß eine leere Flaſche bei Joe iſt nicht genug. Wären's drei geweſen, wär' er wohl beſoffen genug, und ich tät's.“
Langes, nachdenkliches Schweigen, dann ſagte Tom:
„Will dir was ſagen, Huck, wollen die Sache nicht wieder probieren, wenn wir nicht wiſſen, daß Joe nicht drin iſt. 's iſt zu gräßlich! Wenn wir jede Nacht Wache halten, iſt's todſicher, daß wir ihn mal 'rausgehen ſehen, dann iſt's 'ne Kleinigkeit, die Kiſte 'rauszuholen!“
„Na, iſt mir recht. Werd' die ganze Nacht warten und ſo jede Nacht, wenn du dann das andere machen willſt.“
„Schon gut, werd's ſchon machen. Alles, was du tun ſollſt, iſt, daß du kommſt und wirfſt 'ne Handvoll Erde ans Fenſter, dann werd' ich ſchon aufwachen. — Jetzt, Huck, ſcheint mir, 's Wetter iſt vorüber, werd' nach Hauſe gehen. In 'ner halben Stunde wird's Tag. Geh zurück und wach' noch ſo lange — willſt du?“
„Sagte, ich würd's, und ſo werd' ich, Tom! 'n ganzes Jahr werd' ich jede Nacht wachen! Ich ſchlaf den ganzen Tag, und nachts halt' ich Wache.“
„'s iſt gut. Aber wo willſt du jetzt ſchlafen?“
„Auf Ben Rogers Heuboden. Er läßt mich, und auch ſeines Alten Nigger, Onkel Jack. Onkel Jack hab' ich Waſſer geholt, wenn er's verlangt hat, und manchmal, wenn ich ihn bitte, gibt er mir zu eſſen — wenn er was über hat. 's iſt 'n verdammt feiner Nigger, Tom. Er liebt mich, weil ich nie tu', als ſtänd' ich über ihm. Manchmal hab' ich mich richtig hingeſetzt und mit ihm gegeſſen. Aber ſag's niemand! Wenn man ſchrecklich hungrig iſt, tut man wohl was, kümmert man ſich den Henker um was.“
„Na, Huck, werd' dich tags nicht ſtören, kannſt ruhig ſchlafen. Und wenn du was ſiehſt nachts, komm nur gleich und miaue!“
Das erſte, was Tom am Freitagmorgen vernahm, war eine freudige Nachricht — Familie Thatcher war in der Nacht vorher zurückgekommen! Beides, Joe und der Schatz, ſanken für den Augenblick zu ſekundärer Bedeutung herunter, und Becky nahm Toms ganzes Intereſſe in Anſpruch. Er ſah ſie und ſie verlebten wundervolle Stunden mit einigen Schulkameraden, „Blindekuh“ und „Fangen“ ſpielend. Der Tag war tadellos und wurde in ganz beſonders befriedigender Weiſe beſchloſſen.
Becky erbettelte von ihrer Mutter die Erlaubnis, den nächſten Tag für das lang' verſprochene und lang' erſehnte Picknick feſtzuſetzen, und dieſe willigte ein. Das Entzücken der Kinder war grenzenlos, Toms nicht am wenigſten. Noch vor Sonnenuntergang wurden die Einladungen verſandt und das geſamte junge Volk im Dorfe geriet in ein wahres Fieber von Vorfreude und angenehmer Erwartung.
Tom wurde durch ſeine Aufregung bis zu ſpäter Stunde wachgehalten und hoffte beſtändig Huck miauen zu hören und am nächſten Tage Becky und alle Teilnehmer am Picknick mit ſeinem Schatz in Erſtaunen ſetzen zu können. Aber er wurde enttäuſcht. Kein Zeichen ließ ſich hören.
Endlich brach der Morgen an, und um zehn oder elf Uhr verſammelte ſich eine ausgelaſſene, freudeſtrahlende Geſellſchaft bei Thatchers, alles war zum Aufbruch bereit.
Es war nicht die Gewohnheit der Erwachſenen, Picknicks mit ihrer Gegenwart zu ſtören. Man glaubte die Kinder unter den Fittichen von ein paar jungen Damen von achtzehn und ein paar jungen Herren von dreiundzwanzig oder ſo ſicher genug. Das alte Dampfboot war für die Gelegenheit gemietet worden. Bald war der ganze Weg von der luſtigen, mit Vorratsbeuteln bepackten Bande erfüllt. Sid war krank und hatte zu Hauſe bleiben müſſen; Mary blieb gleichfalls, um ihm Geſellſchaft zu leiſten.
Das letzte, was Mrs. Thatcher zu Becky ſagte, war: „Komm' nur nicht zu ſpät zurück. Vielleicht wird's beſſer ſein, Kind, du bleibſt zur Nacht bei einem von den Mädchen, das näher bei der Überfahrt wohnt.“
„Dann bleib' ich bei Suſy Harper, Mama!“
„Schon gut. Und benimm dich ordentlich und treib' keinen Unſinn!“
Sobald ſie fort waren, ſagte Tom zu Becky: „Du — ich will dir ſagen, was wir tun! Statt zu Joe Harper zu gehn, klettern wir auf den Hügel rauf und gehn zur Witwe Douglas. Die hat ſicher Eiscreme! Sie hat faſt immer was — 'nen ganzen Haufen. Und ſie wird ſich ſchrecklich freuen, uns zu haben!“
„Ach, das wird ſchön werden!“ Dann dachte Becky einen Augenblick nach und ſagte: „Aber was wird Mama ſagen?“
„Woher ſoll ſie's denn erfahren?“
Das Mädchen überlegte ſich die Sache und ſagte zögernd: „Ich denk' doch, 's iſt unrecht — aber —“
„Aber — Unſinn! Deine Mama erfährt's nicht, was ſchad's alſo? Sie will doch nur, daß du irgendwo gut aufgehoben biſt, und glaub' nur, ſie würd' ſelbſt geſagt haben, du ſolltſt dahin gehen, wenn ſie nur dran gedacht hätt'. Ich weiß, ſie hätt's!“
Die glänzende Gaſtfreundſchaft der Witwe Douglas war ein verlockender Köder. Das und Toms Beredſamkeit behielten die Oberhand. So wurde beſchloſſen, niemand was von dem Programm für die Nacht zu ſagen.
Plötzlich fiel Tom ein, Huck könne gerade in dieſer Nacht kommen und das Zeichen geben. Der Gedanke machte ihn ein wenig nachdenklich. Schließlich konnte er's aber doch nicht übers Herz bringen, das Projekt mit der Witwe Douglas aufzugeben. Und warum ſollte er es aufgeben — war das Zeichen in der letzten Nacht nicht gekommen, warum ſollte es denn wohl gerade in dieſer Nacht kommen? Die Ausſicht auf das ſichere Vergnügen des Abends ſchlug die unbeſtimmte auf den Schatz aus dem Felde. Und — wie Kinder ſind — er beſchloß ganz der ſtärkeren Anziehungskraft zu folgen und ſich während des ganzen Tages keinen Gedanken an das Geld zu geſtatten.
Drei Meilen unterhalb des Dorfes legte das Dampfboot an einem bewaldeten Hügel an. Die Geſellſchaft ſchwärmte hinaus und bald hallten die entlegenſten Teile des Waldes und die unzugänglichſten Höhen von Geſchrei und Lachen wider. Alle Mittel, heiß und müde zu werden, wurden gewiſſenhaft angewandt, und allmählich ſtrömten alle Ausflügler zurück zum Lager, mit tüchtigem Hunger ausgeſtattet und dann begann die Vernichtung der guten Sachen. Nach dem Frühſtück wurde eine erfriſchende Ruhepauſe im Schatten breitäſtiger Eichen gemacht. Dann rief auf einmal jemand: „Wer will mit zur Höhle?“
Alles wollte. Bündel von Kerzen wurden zuſammengerafft und geradenwegs hinauf auf den Hügel. Die Mündung der Höhle war hoch oben, ein offenes Tor in der Form des Buchſtabens A. Die maſſive eichene Tür ſtand offen. Dahinter tat ſich ein kleiner Raum auf, kalt wie ein Eiskeller und von der Natur durch ſolide Kalkmauern eingefaßt, die von kalter Feuchtigkeit bedeckt waren.
Es war romantiſch und geheimnisvoll, hier in tiefer Dunkelheit zu ſtehen und auf die grünen, in der Sonne glänzenden Laubmaſſen hinauszuſchauen. Aber der überwältigende Eindruck nahm ſchließlich doch bedeutend ab und das Umhertollen begann wieder. Jeden Augenblick wurde eine Kerze angezündet, dann ſtürzte ſich alles auf den, der ſie trug, ein Kampf und mutige Verteidigung folgten, aber die Kerze war bald zu Boden geſchlagen oder ausgeblaſen, und dann gab's allgemeines Gelächter und eine neue Jagd. Aber alles hat ein Ende. Allmählich begab ſich der Zug tiefer in die Höhle hinab, immer tiefer, wobei der flackernde Schein der Lichter die mächtigen Felswände faſt bis zu ihrer vollen Höhe von ſechzig Fuß ungewiß beleuchtete.
Der Weg war hier nicht mehr als acht oder zehn Fuß breit. Alle paar Schritt taten ſich noch engere, hohe Gänge nach beiden Seiten auf, denn die Douglashöhle war nichts als ein wildes Labyrinth von verzweigten Gängen, die überall auseinander liefen, um ſich doch immer wieder zu treffen. Man ſagte, es könne jemand viele Tage und Nächte durch dies unglaubliche Gewirr von Gängen und Spalten irren, ohne jemals das Ende der Höhle zu finden; und daß er tiefer und immer tiefer, bis in den Mittelpunkt der Erde dringen könne, und es wäre doch immer dasſelbe — Labyrinth unter Labyrinth, und nirgends ein Ende. Niemand „kannte“ die Höhle; das war unmöglich. Die meiſten der jungen Leute kannten einen Teil davon und ſo leicht wagte ſich niemand über dieſen bekannten Teil hinaus. Tom Sawyer kannte ſo viel von der Höhle wie alle anderen.
Ungefähr dreiviertel Meilen marſchierte man in geſchloſſenem Zug durch den Hauptgang, dann begannen ſich einzelne Haufen und Paare ſeitwärts in die Nebengänge zu zerſtreuen, durch die unheimlichen Gänge laufend, um ſich ſchließlich zu gegenſeitiger Überraſchung an irgend einem Punkt wieder zu treffen. Man konnte wohl eine halbe Stunde auch hier im bekannten Teil herumſtreifen, ohne einander zu begegnen.
Schließlich kam Paar auf Paar zur Höhle zurückgeſchlendert, mit Talg beſpritzt, kalkbeſchmiert und ganz berauſcht von den Herrlichkeiten des Tages. Dann waren alle ganz überraſcht, daß ſie ſo wenig auf die Zeit geachtet hatten und es ſchon faſt Nacht war. Schon ſeit einer halben Stunde hatte die Schiffsglocke zum Aufbruch gemahnt. Indeſſen, auch dieſe Art, die Abenteuer des Tages zu beſchließen, war romantiſch und deshalb befriedigend. Als das Dampfboot mit ſeiner ausgelaſſenen Fracht vom Ufer abſtieß, kümmerte ſich niemand 'nen Deut um die verſäumte Zeit — außer dem Kapitän.
Huck befand ſich bereits auf ſeinem Wachpoſten, als die Lichter des Dampfbootes an der Landungsſtelle vorbeiglitten. Er hörte keinen Ton an Bord, denn das Volk war ſo zahm geworden, wie man zu ſein pflegt, wenn man ſich halbtot gehetzt hat.
Er grübelte darüber, was für ein Boot das ſein möge und warum es nicht am gewöhnlichen Ort anlege — und dann vergaß er es und richtete ſeine ganze Aufmerkſamkeit auf ſeine eigene Angelegenheit. Die Nacht war bewölkt und dunkel. Zehn Uhr ſchlug's, das Wagengeraſſel ſchwieg, die Lichter begannen zu verlöſchen, der Lärm der Fußgänger verſtummte nach und nach — das Dorf ging zur Ruhe und überließ den kleinen Wächter dem Schweigen und den Geſpenſtern. Elf Uhr ſchlug's, und das Licht im Wirtshaus erloſch; jetzt herrſchte überall Finſternis. Huck wartete, ſchien ihm, ſehr lange Zeit, aber nichts geſchah. Unruhe überkam ihn. Wenn alles umſonſt war? Wenn er genarrt wurde? Warum nicht die Sache aufgeben und ſich davon machen?
Da hörte er eine Stimme. Sofort war er ganz Aufmerkſamkeit. Vorſichtig wurde die Gangtür geſchloſſen. Schnell drückte er ſich in eine Ecke an der Mauer. Im nächſten Augenblick huſchten zwei Männer vorbei, und einer ſchien etwas unter dem Arm zu haben. Das mußte die Kiſte ſein! So wollten ſie alſo heute den Schatz vergraben. Ob er Tom weckte? Es wäre Wahnſinn geweſen — die Leute wären mit der Kiſte entwiſcht und niemand hätte ſie jemals gefunden. Nein, er wollte ihnen folgen; er wollte ſich unter dem Schutze der Finſternis ihnen an die Ferſen heften. So mit ſich ſelbſt ſprechend, kam Huck hervor und glitt hinter den Männern her, leiſe wie eine Katze, barfuß, gerade ſo weit von ihnen entfernt, um nicht geſehen zu werden.
Eine Zeitlang gingen ſie die Flußſtraße aufwärts und wandten ſich dann durch eine kleine Gaſſe ſeitwärts. Immer ſteil hinauf kamen ſie ſchließlich an den Weg, der nach Cardiff Hill hinaufführte; dieſen ſchlugen ſie ein. Sie kamen am Haus des alten Walliſers vorbei, in halber Höhe des Hügels, und ſtiegen, ohne ſich aufzuhalten, immer noch höher. Gut, dachte Huck, ſie werden's im alten Steinbruch vergraben. Aber auch da hielten ſie nicht an. Sie gingen vorbei, ganz auf den Hügel. Dann ſchwenkten ſie in den Weg durch den großen Sumachwald ein und waren auf einmal in der Finſternis verſchwunden. Huck beeilte ſich die Entfernung zu verringern, denn er war ſonſt nicht mehr imſtande, ſie im Auge zu behalten. Eine Weile rannte er vorwärts; dann hielt er inne, aus Furcht, zu weit geraten zu ſein; rannte wieder ein Stück vorwärts, und hielt wieder; horchte; nichts zu hören; nur, daß er das Klopfen des eigenen Herzens hörte. Der Schrei einer Eule ertönte — unheilverkündend; aber keine Fußtritte. Himmel, hatte er ſie verloren? Er war im Begriff, Hals über Kopf vorwärts zu ſtürzen, als jemand nicht vier Fuß vor ihm ſich räuſperte. Das Herz fuhr Huck in die Kehle, aber er bezwang ſich. Und dann ſtand er da, zitternd, als hätten ihn tauſend Fieber auf einmal gepackt, und ſo ſchwach, daß er gleich umfallen zu müſſen meinte. Er wußte, wo er war. Er wußte, er war nicht fünf Schritt von dem Zaun entfernt, der um den Grund und Boden der Witwe Douglas führte. „Famos,“ dachte er, „mögen ſie's hier vergraben, 's wird nicht ſchwer ſein, es hier wieder zu finden.“
Jetzt hörte er eine leiſe Stimme — eine ſehr leiſe Stimme — die des Indianer-Joe:
„Hol ſie der Teufel — muß ſie grad' heut Geſellſchaft haben — 's iſt Licht, ſo ſpät's auch iſt!“
„Kann nicht ſehn!“
Dies war des Fremden Stimme — des Fremden aus dem Beinhaus. Tödlicher Schreck durchfuhr Hucks Herz — dies alſo war die „Rache!“ Sein erſter Gedanke war auszureißen. Dann erinnerte er ſich, wie die Witwe Douglas mehr als einmal freundlich gegen ihn geweſen ſei — und wer weiß, ob dieſe da nicht die Abſicht hatten, ſie zu ermorden! Er ſehnte ſich nach einer Gelegenheit, ſie zu warnen. Aber er wußte, er könnte 's nicht wagen; ſie würden ihn kriegen und umbringen. All dies und noch anderes ging ihm in einem Augenblick durch den Kopf zwiſchen den Worten des Fremden und den nächſten Joes.
„Weil der Buſch dir im Wege iſt. So — hierher — kannſt du jetzt ſehn?“
„Ja. Denk auch, 's iſt Geſellſchaft da. Beſſer, wir geben's auf.“
„Aufgeben, wo ich dies Land für immer verlaſſen ſoll! Aufgeben und nie wieder 'ne Gelegenheit haben! Sag' dir nochmal, was ich dir ſchon mal geſagt hab' — brauch' ihre Pfennige nicht — kannſt du haben. Aber ihr Mann war gemein gegen mich — oft genug — und er war der Richter, der mich zu 'nem Landſtreicher gemacht hat. Und 's iſt nicht alles! 's iſt noch nicht der millionſte Teil davon! Gepeitſcht hat er mich — gepeitſcht vorm Gefängnis — wie 'nen Nigger! Das ganze Dorf konnt's ſehen! Gepeitſcht!! Verſtehſt du? Er iſt mir zuvorgekommen — er iſt tot. Aber ſie ſoll dran!“
„Bitt' dich — töt' ſie nicht! Tu's nicht!“
„Töten? Wer ſpricht von töten? Ihn würd' ich abſchneiden, wenn er hier wär' — ſie nicht. Wenn man ſich an 'ner Frau rächen will — die muß man an der Fratze packen! Schneid't ihr die Naſe auf und ſtutzt ihr die Ohren — wie 'nem Schwein!“
„Teufel —“
„Behalt deine verdammte Meinung für dich! Wird's beſte für dich ſein! Werd' ſie ans Bett feſtbinden. Wenn ſie ſich zu Tode blutet — was kann ich dafür? Werd' nicht drum heulen, wenn ſie's tut. Du, mein Freund — wirſt mir dabei helfen — auf meine Rechnung — hab' dich nur dazu mitgenommen — möcht' für mich allein zu viel ſein. Wenn du davonläufſt, hau' ich dich zuſammen — verſtehſt du? Und wenn ich dich töte, bring' ich ſie auch um — und dann, denk' ich, kann keiner 'rauskriegen, wer das Geſchäft beſorgt hat.“
„Na, wenn's geſchehen muß, raſch dran! Je eher, deſto beſſer — mir läufts ohnehin ſchon über.“
„Jetzt tun? Wo Geſellſchaft da iſt? Sollt' dir wahrhaftig nicht trauen, ſcheint mir! — Nichts da — wollen warten, bis die Lichter aus ſind — 's hat keine Eile.“
Huck fühlte, daß jetzt Stillſchweigen eintreten werde — ſchrecklicher als das mörderiſchſte Geſchrei; ſo hielt er den Atem an und zog ſich vorſichtig zurück, wobei er die Füße vorſichtig und feſt ausſetzte, immer auf einem Bein balanzierend, taſtend und ſich auf eine Seite legend, bald auf dieſe; dann auf die andere; und dann knackte ein Zweig unter ſeinen Füßen! Er hielt den Atem an und horchte. Nichts zu hören — vollkommene Stille. Seine Dankbarkeit war grenzenlos. Nun wandte er ſich um, ſo vorſichtig, als wäre er ein Schiff geweſen, und trabte dann raſch, aber vorſichtig davon. Beim Steinbruch angekommen, hielt er ſich für ſicher; ſo nahm er die Beine unter die Arme und rannte in geſtrecktem Galopp davon. Hinunter, immer weiter hinunter, bis er das Haus des Walliſers erreicht hatte. Er klopfte an die Tür und ſofort erſchienen die Köpfe des alten Mannes und ſeiner zwei handfeſten Söhne am Fenſter.
„Wer ſpektakelt da? Was für'n Lärm draußen? Was gibt's?“
„Laßt mich ein — ſchnell! Werd' euch alles ſagen!“
„So — wer iſt's denn?“
„Huckleberry Finn — ſchnell, laß mich rein!“
„Huckleberry Finn — ſo! 's iſt ein Name, denk ich, dem ſich nicht viel Türen öffnen! Aber laßt ihn 'rein, Burſchen, woll'n ſehen, was er hat.“
„In des Himmels Namen — ſagt's niemand, daß ich euch was erzählt hab',“ waren Hucks erſte Worte, als er hineingelaſſen war. „Tut's nicht — würd' ſicher getötet — aber die Witwe iſt oft genug freundlich gegen mich geweſen und ich werd's ſagen — werd's ſagen, wenn ihr verſprecht, nicht zu ſagen, daß ich's geſagt hab'.“
„Bei St. Georg — er hat was zu ſagen — oder er tät' nicht ſo,“ rief der Alte. „Heraus damit, und daß ihr's niemand ſagt, Burſchen!“
Drei Minuten ſpäter waren der Alte und ſeine Söhne wohlbewaffnet oben auf dem Hügel und drangen auf den Zehen in den Sumachwald ein, die Büchſe in der Hand.
Huck begleitete ſie nicht weiter. Er verbarg ſich hinter einem Felsblock und lauſchte.
Langes, angſtvolles Schweigen — und dann plötzlich ein Schuß und ein Schrei!
Huck wartete nichts weiter ab. Er ſprang auf und rannte den Hügel hinunter, ſo ſchnell ihn ſeine Beine tragen wollten.
Beim erſten Tagesgrauen am nächſten Tage, einem Sonntagsmorgen, kam Huck den Hügel hinaufgeſchlichen und klopfte leiſe an des Walliſers Tür.
Die Inwohner ſchliefen, aber es war infolge der aufregenden Ereigniſſe der Nacht ein ſehr leichter Schlaf. Eine Stimme fragte durchs Fenſter: „Wer da?“
Hucks ſchüchterne Stimme antwortete in leiſem Ton: „Bitte, laß mich 'rein — 's iſt nur Huck Finn.“
„'s iſt ein Name, dem ſich die Tür bei Tag und Nacht öffnen kann, Burſche — und willkommen!“
Dies waren ungewohnte Worte für die Ohren des kleinen Herumſtreichers und die angenehmſten, die er je gehört hatte. Er konnte ſich nicht erinnern, die Schlußworte jemals vorher gehört zu haben.
Die Tür wurde ſofort geöffnet und er ſchlüpfte hinein. Huck bekam einen Stuhl, und der Alte und ſeine Enaksſöhne kleideten ſich raſch an.
„Nun, mein Junge, hoff', 's geht dir gut und du haſt Hunger, denn 's Frühſtück wird mit der Sonne fertig ſein und 's wird zudem tüchtig heiß ſein — brauchſt keine Sorgen zu haben. Ich und die Jungen hofften, würd'ſt letzte Nacht nochmal wieder hierher kommen.“
„Hatt' zu große Angſt,“ ſagte Huck, „und machte, daß ich fortkam. Lief davon, als die Schüſſe losgingen, und hielt erſt nach drei Meilen an. Jetzt bin ich gekommen, weil ich wiſſen möchte von — Ihr wißt ſchon! und komm' vor Tageslicht, weil ich den Teufeln nicht begegnen möcht, ſelbſt wenn ſie tot wären.“
„Glaub's, armer Kerl, ſiehſt aus, als hättſt du 'ne böſe Nacht hinter dir — na, hier iſt 'n Bett für dich, wenn du gefrühſtückt haſt. Nun — tot ſind ſie nicht, leider — tut uns wahrhaftig leid genug. Du weißt, wir wußten nach deiner Beſchreibung wohl, wo wir ſie am Kragen kriegen würden, ſo ſchlichen wir auf den Zehen bis fünfzehn Schritt von ihnen entfernt — 's war dunkel wie in 'nem Loch — und gerade da fühlt' ich, daß ich nieſen müſſe. 's war wohl grad' der rechte Augenblick! Ich verſucht', es zurückzuhalten, aber keine Möglichkeit, 's wollte kommen und 's kam! Ich war voran, die Piſtole ſchußfertig, und wie nun mein Nieſen die Schufte aufſchreckte, hört ich 'n Raſcheln vor mir, ſo rief ich: „Feuer, Jungens!“ und gab 'nen Schuß, wo die Kerle waren. Ebenſo meine Jungen. Aber wie 'n Wind waren ſie fort, dieſe Halunken; wir hinterher, runter durch den Wald. Denk, wir haben ſie nicht getroffen. Im Laufen gaben ſie noch jeder 'nen Schuß ab, aber die Kugeln fuhren vorbei und taten uns nichts. Sobald wir ſie nicht mehr hörten, gingen wir heim und weckten die Konſtabler. Sie wollten 'ne Treibjagd machen und gingen runter, die Flußufer abzuſuchen, und wenn's hell iſt, woll'n ſie und der Sheriff die Wälder vornehmen. Meine Jungen werden auch dabei ſein. Wollt' nur, wir hätten ſo was wie 'ne Beſchreibung von dieſen Galgenvögeln — 's würd 'n gut Teil helfen. Du konnteſt wohl im Dunkeln nicht ſehen, was es für Kerle waren, denk' ich?“
„Doch — ſah ſie ſchon im Dorf und folgte ihnen.“
„Famos! — Beſchreib' ſie — beſchreib' ſie, mein Junge!“
„Der eine iſt der taubſtumme Spanier, der hier 'n paarmal 'rumgeſchlichen iſt, der andere ein verdächtig ausſehender, zerlumpter —“
„'s iſt genug, Junge, kenne die Kerle ſchon! Traf ſie mal in den Wäldern hinter dem Garten der Witwe, und ſie machten ſich auch gleich davon. Fort mit euch, Burſchen, ſagt's dem Sheriff — könnt euer Frühſtück morgen eſſen!“
Sofort verſchwanden die Söhne des Alten. Als ſie das Zimmer verlaſſen hatten, ſprang Huck auf und rief: „O, bitte, ſagt's niemand, daß ich's war, der ſie aufgeſpürt hat — bitte!“
„Iſt ſchon gut, Huck, wenn du's wünſchſt, aber du ſollſt doch den Lohn für das haben, was du da getan haſt!“
„Ach, nein, nein! Bitte, ſagt's nicht!“
„Sie werden's nicht ſagen,“ beruhigte der Alte, „und ich auch nicht. Aber warum ſoll's keiner wiſſen?“
Huck wollte nichts weiter ſagen, als daß er ſchon zu viel über einen der Strolche wiſſe und nicht wünſchte, daß der von ſeiner Mitwiſſerſchaft Wind bekomme, nicht um die Welt, denn 's wär ſicher, daß er dafür getötet werden würde.
Der alte Mann verſprach nochmals Schweigen und ſagte: „Aber, Burſche, wie kamſt du denn drauf, dieſen Gaunern zu folgen? Kamen ſie dir verdächtig vor?“
Huck ſchwieg einen Moment, während er über einer möglichſt unverfänglichen Antwort brütete. Dann ſagte er: „Na, ſeht Ihr, ich bin halt mal 'n ungehobelter Burſche — jeder ſagt's, und ich weiß nicht, was dagegen einzuwenden wäre — und manchmal kann ich nicht ſchlafen vor dem Gedanken daran, und nehm' mir vor, zu verſuchen, mich zu ändern. 's war wieder ſo letzte Nacht. Ich konnt' nicht ſchlafen und ſo kam ich um Mitternacht etwa, drüber nachdenkend, auf die Straße, und wie ich an die alte Mauer beim Temperenzler-Wirtshaus komme, lehn' ich mich ſo, ohne mir was zu denken, dran. Na, gerade in dem Augenblick kamen die beiden Strolche angeſchlichen, dicht an mir vorbei, was unterm Arm tragend; es iſt gewiß geſtohlen, denk ich. Der eine rauchte, der andere wollt' auch Feuer haben; blieben alſo gerade vor mir ſtehn, und beim Anzünden der Zigarren wurden ihre Geſichter erleuchtet, und ich ſah, daß der größere der taubſtumme Spanier war — an den weißen Haaren und dem Pflaſter aus dem Auge, — und der andere war ein roher, zerlumpter Teufel.“
„Konntſt auch die Lumpen beim Leuchten der Zigarren ſehen?“
Dies verwirrte Huck für 'nen Augenblick. Dann ſagte er: „Ja, ich weiß nicht — aber 's ſchien mir wenigſten ſo.“
„Dann gingen ſie weiter, und du —?“
„Folgte ihnen — ja, 's war ſo. Wollt' doch ſehen, was ſie vorhätten — ſie ſchlichen ſo verdächtig davon. Ich folgte ihnen bis zum Garten der Witwe und ſtand dort im Dunkeln und hörte den Zerlumpten für die Witwe bitten, und der Spanier ſchwor, er wollt' der Witwe die Naſenlöcher aufſchneiden; gerade ſo wie ich's Euch ſagte und Euren —“
„Was, all das ſagte der taubſtumme Mann!“
Huck hatte wieder einen ſchrecklichen Mißgriff begangen. Er hatte ſich die größtmöglichſte Mühe gegeben, den Alten nicht erraten zu laſſen, wer der Spanier ſei, und doch ſchien ihn ſeine Zunge trotz aller Vorſicht in Ungelegenheiten bringen zu wollen. Er machte krampfhafte Anſtrengungen, aus ſeiner Verwirrung herauszukommen, aber das Auge des alten Mannes haftete auf ihm, ſchärfer und immer ſchärfer. Plötzlich ſagte der Walliſer: „Mein guter Junge, brauchſt dich nicht vor mir zu fürchten, möcht' um alles in der Welt nicht ein Haar auf deinem Haupte krümmen. Nein — ich würd' dich beſchützen — verlaß dich drauf. Dieſer Spanier iſt nicht taubſtumm. Da haſt du dir was entſchlüpfen laſſen. Du weißt was über dieſen Kerl, das du nicht verraten möchteſt. Na, vertrau' dich mir an — ſag' mir, was es iſt, vertrau' mir — werd' dich nicht verraten!“
Huck blickte in des alten Mannes ehrliche Augen, dann beugte er ſich hinüber und flüſterte ihm ins Ohr: „'s iſt kein Spanier — 's iſt der Indianer-Joe!“
Der Walliſer fuhr faſt von ſeinem Stuhl auf. Nach kurzer Pauſe ſagte er dann:
„'s iſt jetzt klar genug. Als du von Naſenaufſchlitzen und Ohrenſtutzen ſprachſt, dacht' ich, 's wär deine eigene Erfindung, denn kein Weißer übt ſo 'ne Rache. Aber ein Indianer! Das iſt freilich 'n großer Unterſchied.“
Während des Frühſtücks ging die Unterhaltung weiter, in deren Verlauf der Alte erwähnte, das letzte, was ſie getan hatten, bevor ſie zu Bett gegangen ſeien, ſei geweſen, mit einer Laterne die Kampfſtelle nach Blutſpuren zu unterſuchen. Die hätten ſie nicht gefunden, wohl aber ein dickes Bündel mit —
„Mit was?“
Wären die Worte Blitze geweſen, ſie hätten nicht ſchneller aus Hucks bleichen Lippen kommen können. Seine Augen waren weit aufgeriſſen, ſein Atem ſtockte — indem er auf Antwort wartete. Der Walliſer ſtutzte — zögerte mit der Antwort — drei Sekunden — fünf Sekunden — zehn — dann endlich entgegnete er: „Mit Einbrecherwerkzeug. — Nanu, was iſt's mit dir?“
Huck ſank nieder, ſein Herz klopfte ſtürmiſch, aber er war dankerfüllt, unſagbar dankerfüllt. Der Walliſer ſah ihn wieder ſcharf an, erſtaunt, und ſagte:
„Ja — Einbrecherwerkzeug. Schien dich mächtig zu freun. Aber was geht das dich an? Was dachteſt du denn, was wir gefunden hätten?“
Huck ſaß ſchon wieder in der Klemme. Forſchende Augen richteten ſich wiederum auf ihn — alles hätte er für eine glaubliche Antwort gegeben. Nichts fiel ihm ein; die forſchenden Augen drangen tiefer und tiefer — eine unſinnige Antwort drängte ſich ihm auf — Zeit zur Überlegung gab's nicht, ſo ſtieß er auf gut Glück mit ſchwacher Stimme heraus:
„Sonntagsſchulbücher, vielleicht —“
Der arme Huck war zu verwirrt, um lächeln zu können, aber der alte Mann lachte laut und vergnügt, wurde von Kopf bis zu Fuß vom Lachen geſchüttelt und ſagte ſchließlich, ſo ein Lachen wäre gerade ſo gut wie bar Geld in der Taſche, denn es mache jede Doktorrechnung überflüſſig. Dann fügte er hinzu: „Kleiner Dummkopf, biſt ja ganz blaß und zitterſt; biſt nicht wohl. 's iſt kein Wunder, daß du ein wenig aus der Balanze biſt. Aber ſollſt ſchon wieder 'reinkommen. Ruhe und Schlaf wird dich wohl zurechtbringen — hoff' ich.“
Huck ärgerte ſich, daß er ein ſolcher Eſel geweſen und ſolche Aufregung gezeigt hatte, hatte er doch ſeit dem Geſpräch am Gartenzaun der Witwe ohnehin ſchon den Verdacht gehabt, daß jenes Bündel, das er vom Wirtshaus hatte forttragen ſehen, gar nicht ſein Schatz geweſen ſei. Indeſſen hatte er das doch nur vermutet, gewußt hatte er es nicht; und ſo war die Erwähnung von der Auffindung des Bündels zuviel geweſen für ſeine Selbſtbeherrſchung. Da er nun aber volle Gewißheit hatte, beruhigte er ſich bald und wurde ganz vergnügt. Der Schatz mußte noch in Nummer zwei ſein, die Kerle würden wohl noch am gleichen Tage erwiſcht werden, ſo konnten er und Tom ohne alle Angſt oder Furcht vor Überraſchung nachts das Geld abholen.
Gerade war das Frühſtück beendet, da klopfte es an die Tür. Huck ſprang ſchnell in ein Verſteck, denn er hatte gar keine Luſt, mit den letzten Ereigniſſen in Verbindung gebracht zu werden. Der Walliſer ließ einige Damen und Herren ein, unter ihnen die Witwe Douglas, und ſah dabei noch verſchiedene Gruppen von Bürgern den Hügel heraufklettern, um ſich den Schauplatz anzuſehen. So war alſo die Sache ſchon allgemein bekannt. Er mußte den Beſuchern die Geſchichte der Nacht erzählen, worauf ſich die Witwe Douglas bei ihm bedankte.
„Kein Wort davon, Madam. 's iſt noch 'n anderer da, dem Sie mehr zu danken haben als mir und meinen Jungen, denk' ich; aber er hat's mir nicht erlaubt, ſeinen Namen zu ſagen. Ohne ihn wären wir überhaupt gar nicht dazu gekommen.“
Dies rief ſolche Neugier hervor, daß ſchließlich die Hauptſache darüber vergeſſen wurde; aber der Walliſer ließ ſeine Beſucher ſich ruhig die Köpfe zerbrechen und behielt ſein Geheimnis für ſich, auch als das ganze Dorf von der Sache erfuhr. Nachdem alle Einzelheiten erörtert waren, ſagte die Witwe: „Ich las noch vorm Einſchlafen im Bett, dann ſchlief ich ſo feſt, daß ich von all dem Lärm nichts hörte. Warum haben Sie mich nicht geweckt?“
„Hielten's nicht für nötig. Die Schufte würden doch nicht wiederkommen, würden ſich wohl gehütet haben; wozu alſo Sie wecken und zu Tode erſchrecken? Übrigens haben meine drei Nigger die ganze Nacht vor Ihrem Haus Wache gehalten. Da kommen ſie gerade zurück.“
Noch mehr Beſucher kamen, und die Geſchichte mußte während mehrerer Stunden wieder und immer wieder erzählt werden.
Während der Schulferien fiel auch die Sonntagsſchule aus, trotzdem war heut alles frühzeitig in der Kirche. Das aufregende Ereignis wurde lebhaft erörtert. Es wurde erzählt, daß noch keine Spur von den Landſtreichern gefunden worden ſei. Als die Predigt zu Ende war, ging die Frau des Richters Thatcher auf Frau Harper zu, die mit der großen Menge den Gang hinunterſchritt, und ſagte: „Will meine Becky denn den ganzen Tag ſchlafen? Habs mir aber wohl gedacht, daß ſie todmüde ſein würde.“
„Ihre Becky?“
„Freilich.“ (Mit erſchrockenem Blick): „Blieb ſie denn abends nicht bei Ihnen?“
„Bewahre.“
Mrs. Thatcher wurde leichenblaß und ſank auf eine Bank in dem Augenblick, als Tante Polly, mit einer Bekannten ſich unterhaltend, vorbeikam. „Guten Morgen, Mrs. Thatcher,“ ſagte ſie, „guten Morgen, Mrs. Harper. Hab' wieder mal 'nen verlorenen Jungen. Denk' wohl, Tom iſt die Nacht im Haus von einer von Ihnen geblieben. Nun hat er Angſt, in die Kirche zu kommen. Werd' wieder mal Abrechnung halten müſſen mit ihm.“
Frau Thatcher ſchüttelte ſchwach den Kopf und wurde noch blaſſer.
„Bei uns iſt er nicht geweſen,“ ſagte unſicher Frau Harper.
In Tante Pollys Geſicht zeigte ſich merkliche Unruhe. „Joe Harper, haſt du meinen Tom dieſen Morgen ſchon geſehen?“
„Nein, Ma'm.“
„Wann haſt du ihn zuletzt geſehen?“
Joe verſuchte ſich zu erinnern, konnt's aber nicht beſtimmt ſagen. Die Leute blieben allmählich, neugierig geworden, ſtehen. Geflüſter entſtand, lebhafte Erregung verbreitete ſich unter ihnen, Kinder wurden ängſtlich ausgehorcht, auch die jungen Wächter. Alle ſagten ſie, ſie hätten nicht acht gegeben, ob Tom und Becky bei der Heimfahrt an Bord geweſen ſeien; es war dunkel geweſen und niemand hatte daran gedacht, ſich zu vergewiſſern, ob auch jemand fehle. Schließlich platzte ein junger Mann damit heraus, ſie möchten noch in der Höhle ſtecken! Frau Thatcher fiel in Ohnmacht, Tante Polly begann zu weinen und die Hände zu ringen.
Die ſchrecklichen Worte gingen von Mund zu Mund, von Gruppe zu Gruppe, von Straße zu Straße, und in nicht ganz fünf Minuten hallten die Glocken wild, und die ganze Ortſchaft war in Aufregung. Die Geſchichte von Cardiff Hill wurde zur gleichgültigen Epiſode, die Einbrecher waren vergeſſen, Pferde wurden geſattelt, Boote bemannt, das Dampfboot inſtandgeſetzt, und ehe der allgemeine Schreck eine halbe Stunde alt geworden, waren zweihundert Mann unterwegs, über den Fluß und auf dem Wege zur Höhle.
Den ganzen langen Nachmittag ſchien das Dorf tot und verlaſſen. Eine Menge Frauen beſuchten Tante Polly und Frau Thatcher, und verſuchten, ſie zu tröſten. Oder ſie weinten mit ihnen — und das war noch beſſer als alle Worte.
Während der ganzen ſchrecklichen Nacht warteten die Frauen auf Nachricht; aber als ſchließlich der Morgen graute, bekam man nichts zu hören als: „Schickt mehr Kerzen und Lebensmittel“ Frau Thatcher war völlig verzweifelt, Tante Polly nicht weniger. Richter Thatcher ſchickte hoffnungsvolle Botſchaften aus der Höhle, aber ſie brachten keine rechte Erleichterung.
Gegen Morgen kam der alte Walliſer, mit Lehm und Wachs beſchmiert, nach Hauſe, zu Tode erſchöpft. Er fand Huck noch im Bett, das für ihn hergerichtet worden war, und im Fieber irreredend. Die Ärzte waren alle in der Höhle, ſo kam die Witwe Douglas, um ſich nach dem Patienten umzuſehen. Sie ſagte, ſie wolle ihr Beſtes für ihn tun, denn, ob er nun gut, ſchlecht oder keins von beiden ſei, er ſei Gottes Geſchöpf, und nichts, was von Gott ſei, dürfe man mißachten. Der Walliſer meinte, Huck habe wohl gute Seiten, worauf die Witwe entgegnete: „Sie können ſich darauf verlaſſen. Er trägt des Herren Mal an ſich. Er wird ihn nie verlaſſen. Er tut's nie. Er vergißt keine Kreatur, die von ihm ſtammt.“
Früh am Vormittag kamen einzelne Trupps von Männern ins Dorf zurück, die meiſten aber ſuchten noch immer weiter. Alles, was zu berichten war, war, daß man ſo weit wie noch nie jemand in die Höhle vorgedrungen ſei; daß jeder Winkel, jede Spalte aufs ſorgfältigſte abgeſucht worden ſei. Wo man auch gehe in den Irrgängen, überall könne man Lichter nah und fern hin und her huſchen ſehen; Rufe und Piſtolenſchüſſe hätten ihren Schall bis in die tiefſten Gänge hinuntergeſandt. An einer Stelle, fern von dem gewöhnlich beſuchten Teil, hatte man die Namen „Becky“ und „Tom“ mit Ruß an einem Felſen geſchrieben gefunden, und nahe dabei ein beſchmutztes Band. Frau Thatcher erkannte das Band und brach in Tränen aus. Sie klagte, es ſei das letzte Andenken, das ſie von ihrem Kinde haben ſolle, und daß keine andere Erinnerung jemals ſo koſtbar ſein könne; denn dieſes Band war das letzte, was ſie von dem kleinen Körper bekam, bevor ihn der ſchreckliche Tod zerſtörte. Einige behaupteten, man könne in der Höhle zuweilen fernen Lichtſchein ſehen, und dann machte ſich jedesmal ein ganzer Trupp unter lauten Freudenrufen dorthin auf — und dann folgte jedesmal die traurigſte Enttäuſchung. Es ging nicht von den Kindern aus, es war nur das Licht eines Suchenden.
Drei ſchreckliche Tage und Nächte ſchleppten ihre unendlichen Stunden dahin, und das Dorf verſank in ſtumme Hoffnungsloſigkeit. Für nichts anderes hatten die Leute Sinn. Die eben gemachte überraſchende Entdeckung, daß der Beſitzer des Temperenzler-Wirtshauſes Spirituoſen im Beſitz habe, erregte kaum ſchwaches Aufſehen, ſo unerhört ſie auch war.
In einem lichten Moment begann Huck mit ſchwacher Stimme von Wirtshäuſern im allgemeinen zu ſprechen und fragte ſchließlich, von vornherein das Schlimmſte fürchtend, ob, ſeit er krank ſei, etwas in dem Temperenzler-Wirtshaus entdeckt worden ſei.
Die Witwe bejahte. Huck fuhr im Bett in die Höhe, die Augen rollend: „Was — was iſt's?“
„Spirituoſen! Und 's iſt daraufhin zugeſperrt worden. Lieg' ſtill, Kind — wie haſt du mich erſchreckt!“
„Nur noch das ſagen Sie mir — nur das noch — bitte: — War's Tom Sawyer, der's entdeckt hat?“
Die Witwe brach in Tränen aus: „Still, ſtill, Kind! habs dir doch geſagt, du ſollſt nicht ſprechen. Du biſt ſehr, ſehr krank!“
Alſo war nichts als Schnaps gefunden; wär's das Geld geweſen, hätt's doch ſicher mächtiges Aufſehen erregt. So war alſo der Schatz für immer verloren — für immer! — Aber warum weinte ſie denn? Sonderbar, daß die Frau da weinte.
Solche trüben Gedanken gingen Huck durch den Kopf, und infolge der dadurch erzeugten Erſchöpfung ſchlief er ein. Die Witwe dachte bei ſich: „So da — jetzt ſchläft er wieder — armer Kerl! Tom Sawyer es finden! Erbarm' dich — wenn doch jemand den Tom Sawyer finden wollte! Viele gibt's ſicher nicht, die noch Hoffnung oder auch nur Kraft genug haben, auf die Suche zu gehen!“
Kehren wir jetzt wieder zu Toms und Beckys Anteil am Picknick zurück. Mit der übrigen Geſellſchaft trieben ſie ſich durch die finſteren Gänge, die bekannten Wunder der Höhle betrachtend — mit hochtrabenden Bezeichnungen wie „Geſellſchaftszimmer“, „Kathedrale“, „Aladins Palaſt“ usw. ausgeſtattete Wunder. Als dann das luſtige Fangen und Verſtecken begann, beteiligten ſich Tom und Becky eifrig daran, bis auch das allmählich langweilig wurde. Darauf ſpazierten ſie eine gewundene Felsgaſſe hinunter, indem ſie mit hochgehaltenen Kerzen die halb von Spinnweben verdeckten Namen, Daten, Poſtorte und Mottos laſen, mit denen die Wände verziert waren.
Als ſie ſo allein und plaudernd weitertrieben, merkten ſie ſchließlich, daß ſie ſich bereits in einem Teil der Höhle befanden, der keine ſolchen Inſchriften aufwies. Sie kritzelten ihre eigenen Namen mit Kerzenrauch unter einen Felsvorſprung und gingen weiter. Plötzlich kamen ſie an eine Stelle, wo eine Quelle, über Geröll herunterrieſelnd und Kalkſtückchen mit ſich treibend, durch endloſe Jahrhunderte einen kleinen Niagara über in ewige Finſternis gehüllte unveränderbare Felſen bildete. Tom zwängte ſeinen kleinen Körper darunter, um den Waſſerfall zu illuminieren. Er fand, daß er eine Art natürliche ſteinerne Treppe in die Tiefe verbarg, welche zwiſchen ſchmalen Wänden eingeklemmt war. Die Begierde, den Entdecker zu ſpielen, ergriff ihn ſofort. Becky ſtimmte ihm bei, und ſie machten zur Sicherheit wieder ein Rauchzeichen und machten ſich auf die Suche. Sie verfolgten dieſen Weg, brachten tief in den tiefſten Abgründen der Höhle noch mehrere ſolche Zeichen an und trieben ſich dann kreuz und quer herum, um Dinge zu entdecken, mit denen ſie die Oberwelt verblüffen könnten. Irgendwo fanden ſie eine große Höhle, von deren Wölbung eine große Menge ſchimmernder Tropfſteine, von der Länge und dem Umfange eines Mannes herunterhingen. Staunend und ſich verwundernd gingen ſie hindurch und plötzlich mündete die Höhle in einen engen Gang, und dieſer brachte ſie zu einem bezaubernd ſchönen Springbrunnen, deſſen Becken mit einer Eisſchicht glänzenden Kriſtalls bedeckt war. Er befand ſich in der Mitte eines hallenartigen Raumes, deſſen Wände getragen wurden von einer Reihe phantaſtiſch geformter, aus Tropfſtein gebildeter Säulen, das Reſultat durch Jahrtauſende ruhelos fallender Waſſertropfen. Unter der Wölbung hatten ſich rieſige Ballen von Fledermäuſen gebildet, viele tauſend aneinander hängend; die Lichter ſchreckten die Tiere auf, und ſie kamen hundertweiſe herunter, quiekend und wahnſinnig auf die Flammen der Kerzen losſtürzend. Tom kannte ihre Art und die Gefahr, die hier entſtand. Er griff Becky bei der Hand und zog ſie in den erſten ſich auftuenden Gang; und nicht zu früh, denn eine Fledermaus löſchte mit ihrem Flügel Beckys Licht aus, während ſie aus der Höhle rannten. Die Tiere verfolgten die Kinder noch eine gute Strecke, aber die Flüchtlinge ſtürzten ſich in jeden neuen Gang und entgingen ſo ſchließlich der gefährlichen Situation. Tom entdeckte einen unterirdiſchen See, deſſen düſteres Waſſer weit entfernt ſich im Schatten des Unbekannten verlor. Tom wollte ſeine Ufer umwandern, meinte aber, es möchte beſſer ſein, ſich vorher zu ſetzen und eine Weile zu ruhen. Jetzt, zum erſtenmal legte ſich die tiefe Stille der Umgebung gleich einer feuchten Hand auf die Gemüter der Kinder.
Becky ſagte: „Weißt du, drauf geachtet hab' ich ja nicht, aber es ſcheint mir ſo lange her, ſeit ich die andern gehört hab'.“
„Na, Becky, denk' doch nur, wir ſind doch tief unter ihnen, und ich weiß nicht, wie weit nördlich oder ſüdlich oder weſtlich oder was ſonſt. Können ſie hier unmöglich hören.“
Becky wurde ängſtlich. „Möcht' doch wiſſen, wie lang' wir ſchon hier unten ſind, Tom. Laß uns lieber umkehren.“
„Ja, denk auch, 's iſt beſſer. Vielleicht iſt's beſſer.“
„Kannſt du den Weg finden, Tom? Für mich iſt's ein reiner Irrgarten.“
„Denk wohl, ich könnt 'n finden. Aber dann die Fledermäuſe, wenn die uns die Kerzen ausmachen, iſt's 'ne ſchreckliche Sache. Laß uns 'nen anderen Weg verſuchen, wo wir nicht durch müſſen.“
„Ja, aber ich hoff', wir werden uns nicht verlaufen. 's wär doch zu gräßlich.“
Und das Kind ſchüttelte ſich ſchaudernd beim bloßen Gedanken an die furchtbare Möglichkeit.
Sie verfolgten einen Gang lange Zeit ſchweigend, nach jeder neuen Öffnung ſchauend, ob ſich dort nicht eins ihrer Merkmale ſehen laſſe; aber nichts war zu ſehen. So oft Tom ſeine Unterſuchung anſtellte, durchforſchte Becky ſein Geſicht nach einem ermutigenden Zeichen, und er ſagte zuverſichtlich: „O, 's iſt ſchon recht! Der da iſt's noch nicht, aber wir werden ſchon zum rechten kommen!“ Aber bei jedem mißlungenen Nachforſchen fühlte er weniger und weniger Zuverſicht, und ſchließlich begann er auf gut Glück in jeden ſich öffnenden Gang einzulenken, in der verzweifelten Hoffnung, zu finden, was ſo bitter not tat. Er ſagte immer noch: „'s wäre recht,“ aber auf ſeinem Herzen laſtete ſolch lähmende Angſt, daß die Worte ihren Klang verloren hatten und klangen, als habe er geſagt: „Alles iſt verloren.“ Becky, halbtot vor Furcht, ſchmiegte ſich an ihn und verſuchte, krampfhaft die Tränen zurückzuhalten, aber ſie kamen doch. Schließlich ſagte ſie: „O, Tom, was tun die Fledermäuſe. Laß uns denſelben Weg zurückgehen! Wir kommen ja weiter und immer weiter ab.“
Tom blieb ſtehen „Horch,“ ſagte er.
Tiefe Stille; ſo tiefe Stille, daß ſogar ihr Atem hörbar wurde. Tom ſchrie. Der Schall dröhnte durch die hohlen Gänge und erzeugte hundertfaches Echo, um in der Ferne in einem ſchwachen Ton zu erſterben, der wie höhniſches Lachen klang.
„O, tu's nicht wieder, Tom! 's iſt zu gräßlich,“ flehte Becky.
„'s iſt gräßlich, aber 's muß ſein, Becky. Sie könnten uns doch hören, weißt du.“
Und er ſchrie abermals. Dieſes „könnte“ war ebenſo ſchrecklich wie das höhniſche Lachen, es ſprach ſo völlige Hoffnungsloſigkeit daraus. Die Kinder verharrten in Schweigen und lauſchten. Aber nichts war zu hören. Plötzlich wandte Tom ſich auf demſelben Weg zurück und beeilte ſeine Schritte. Es dauerte gar nicht lange, da enthüllte eine gewiſſe Unſicherheit in ſeinen Bewegungen Becky eine neue ſchreckliche Tatſache: er konnte den Weg nicht wiederfinden!
„Ach, Tom, du haſt keine Zeichen mehr gemacht!“
„Becky, was war ich für 'n Eſel! Was für 'n Eſel! Dachte gar nicht dran, daß wir wieder zurück müßten. Und jetzt kann ich den Weg nicht mehr finden; 's geht ja ſo durch'nander!“
„Tom, Tom, wir ſind verloren! wir ſind verloren! Nie, nie wieder kommen wir aus dieſer gräßlichen Höhle heraus! Ach, warum ſind wir nicht bei den anderen geblieben!“
Sie ſank nieder und brach in ſo herzzerreißendes Weinen aus, daß Tom von dem Gedanken gepackt wurde, ſie möchte ſterben oder den Verſtand verlieren. Er ſetzte ſich zu ihr und legte ſeinen Arm um ſie, ſie verbarg ihr Geſicht an ſeiner Bruſt, ſie weinte ſich aus, klagte ſich an, zerfloß in nutzloſer Reue; und das ferne Echo gab alles als höhniſches Gelächter zurück. Tom bat ſie, wieder Mut zu faſſen, und ſie ſagte, ſie könne es nicht. Er begann, ſich ſelbſt bitter anzuklagen, da er ſie in dieſe fürchterliche Lage gebracht habe. Dies wirkte. Sie ſagte, ſie wolle wieder Hoffnung zu faſſen verſuchen, ſie wolle ſich aufraffen und ihm folgen, wohin er ſie auch führen würde, wenn er nur ſo etwas nicht wieder reden wolle; denn er ſei nicht ſchlimmer als ſie ſelbſt.
So ſetzten ſie ſich alſo wieder in Bewegung — ziellos, lediglich dem Zufall ſich überlaſſend. Alles, was ſie tun konnten, war ja, vorwärts zu gehen. Während kurzer Zeit belebte ſie ſchwache Hoffnung, nicht auf Grund irgendwelcher Überlegung, ſondern lediglich, weil es in der Natur liegt, zuverſichtlich zu ſein, ſo lange Alter und die Gewohnheit des Mißlingens ihr noch nicht die Schwingen gebrochen haben. Plötzlich nahm Tom Beckys Kerze und blies ſie aus. Dieſe Sparſamkeit ſprach ſchrecklich deutlich. Worte waren nicht nötig. Becky verſtand, und ihre Hoffnung ſtarb wieder. Sie wußte, Tom hatte eine ganze Kerze und drei oder vier Stückchen in der Taſche — und doch mußte er ſparen!
Dann begann ſich Müdigkeit geltend zu machen. Die Kinder verſuchten, ihr nicht nachzugeben, denn der Gedanke, ſich zu ſetzen und dadurch eine Menge koſtbarer Zeit zu verlieren, ſtachelte ſie wieder auf; ſich bald in dieſer, bald in jener Richtung fortzubewegen, war doch immerhin Fortſchritt und konnte irgend welchen Erfolg haben; aber ſich ſetzen, hieß den Tod herbeirufen und beſchleunigen.
Schließlich verſagten Beckys zarte Glieder den Dienſt, ſie ſetzte ſich. Tom blieb bei ihr, und ſie ſprachen von zu Hauſe, ihren Freunden, ihren bequemen Betten, und vor allem — dem Tageslicht! Becky weinte, und Tom zermarterte ſich das Hirn, um etwas zu ihrer Aufheiterung zu finden, aber all ſeine ermunternden Worte waren längſt verbrauchte Argumente und klangen wie Hohn. Schließlich drückte die Erſchöpfung ſo ſchwer auf Becky, daß ſie in Schlaf verfiel. Tom war glücklich. Er ſaß da, ſtarrte in ihr bekümmertes Geſichtchen und ſah es ſich immer mehr aufhellen unter dem Einfluß angenehmer Träume; ſchließlich breitete ſich ein Lächeln darüber aus. Auch auf ihn ſchien aus dieſen friedvollen Geſichtszügen etwas wie Frieden und Vergeſſenheit überzugehen, ſeine Gedanken verloren ſich in vergangenen Tagen und zauberten ſchöne Erinnerungen hervor. Während er tief darin verſunken war, wachte Becky mit einem reizenden, kleinen Lachen auf — aber es erſtarb ihr auf den Lippen, und ein Stöhnen folgte ihm.
„O, wie konnte ich ſchlafen! Ich wollt', ich wär' nie, nie wieder aufgewacht! Nein, nein, Tom, 's iſt ja nicht wahr, Tom! Schau nicht ſo! Ich will's ja nicht wiederſagen!“
„Becky, ich war ſo froh, daß du ſchliefſt; jetzt biſt du wieder ſtark, und wir werden den Weg heraus ſchon finden!“
„Wollen's verſuchen, Tom! Aber ich hab' im Traum ſo 'n ſchönes Land geſehen. Ich glaub' dahin gehen wir beide jetzt.“
„Nein, nein! Sei lieb, Becky, und laß uns gehen und 's verſuchen.“
Sie ſtanden auf und gingen weiter, Hand in Hand und hoffnungslos. Sie verſuchten, ſich vorzuſtellen, wie lange ſie ſchon in der Höhle ſeien, aber alles, was ſie wußten, war, daß es Tage und Wochen ſchienen, und doch war's nicht möglich, da ihre Kerzen ja immer noch brannten.
Eine lange Zeit war vergangen — ſie hätten nicht ſagen können, eine wie lange — als Tom vorſchlug, leiſe zu gehen und zu horchen, ob ſie nicht irgendwo Waſſer tropfen hörten, ſie müßten eine Quelle finden. Bald fanden ſie wirklich eine, und Tom meinte, es ſei wieder an der Zeit, auszuruhen. Beide waren ſchrecklich müde, doch Becky erklärte, noch weiter gehen zu können. Sie wunderte ſich, daß Tom widerſprach. Sie verſtand das nicht. Sie ſetzten ſich und Tom befeſtigte ſeine Kerze an der Wand vor ihnen. Wieder wurde ihnen ſchwer zumute. Lange herrſchte tiefes Schweigen. Da wimmerte Becky: „Tom, ich bin ſo hungrig!“
Tom zog etwas aus der Taſche. „Kennſt du das?“ fragte er.
Becky lächelte beinahe. „'s iſt unſer Hochzeitskuchen, Tom!“
„Ja — wollt', 's wär' ſo groß wie 'n Balken, denn 's iſt alles, was wir haben.“
„Ich hab's vom Picknick aufbewahrt, Tom, um davon zu träumen, wie 's die erwachſenen Leute mit dem Hochzeitskuchen machen — aber nun wird's unſer —“
Sie ließ den Satz unvollendet. Tom teilte den Kuchen und Becky aß mit Appetit, während er nur daran herumknapperte. Es gab eine Menge kaltes Waſſer — zum Beſchluß der Mahlzeit. Bald ſchlug Becky vor, weiter zu gehen. Tom ſchwieg einen Augenblick, dann ſagte er:
„Becky, kannſt du's ertragen, wenn ich dir was ſage —?“
Becky wurde totenblaß, aber ſie ſagte, ſie dächte.
„Na alſo, Becky, wir müſſen hier bleiben, wo's Trinkwaſſer gibt. Dies kleine Stückchen da iſt unſer letztes Licht!“
Nun brach Becky doch in Tränen aus und wimmerte leiſe. Tom tat, was er konnte, ſie zu beruhigen, aber mit ſchwachem Erfolg. Schließlich hauchte Becky: „Tom!“
„Na, Becky?“
„Sie müſſen uns doch vermiſſen und nach uns ſuchen!“
„Gewiß, müſſen ſie! Selbſtverſtändlich müſſen ſie!“
„Suchen ſie uns wohl jetzt ſchon, Tom?“
„Na, ich denk' doch, ſie tun's! — Hoff' wenigſtens, ſie tun's.“
„Wann mögen Sie uns vermißt haben, Tom?“
„Denk' doch — wie ſie zum Dampfboot zurückgingen.“
„Tom, 's mußte doch dunkel ſein — konnten ſie's merken, daß wir nicht kamen?“
„Glaub' kaum. Aber dann mußte deine Mutter es merken, wie die andern nach Haus kamen.“
Ein erſchreckter Blick aus Beckys Augen brachte Tom zur Beſinnung, und ihm fiel ein, daß er ſich da einem traurigen Irrtum hingegeben hatte. Becky ſollte zur Nacht ja gar nicht heimkommen! Die Kinder wurden ſtill und nachdenklich. Dann belehrte ein neuer Anfall von Verzweiflung bei Becky Tom, daß ſie denſelben Gedanken hatte wie er — daß der Sonntagmorgen zur Hälfte vergehen konnte, bevor Frau Thatcher erfuhr, daß Becky nicht bei Harpers geweſen ſei. Die Kinder hefteten die Augen auf das Kerzenreſtchen und beobachteten, wie es erbarmungslos kleiner und immer kleiner wurde; ſahen, wie ſchließlich nur noch ein halber Zoll Docht übrig war; ſahen die Flamme flackern, auf und nieder, eine kleine Rauchſäule von dem Docht aufſteigen, und dann — dann herrſchte der Schrecken vollkommener Finſternis.
Wie lange danach Becky allmählich zu dem Bewußtſein gelangte, daß ſie weinend in Toms Armen lag, wußten beide nicht. Alles, was ſie wußten, war, daß nach anſcheinend ſehr langer Zeit beide aus totenähnlichem Schlaf erwachten und ſich ihres Elends wieder bewußt wurden. Tom meinte, es könne Sonntag ſein, vielleicht auch Montag. Er verſuchte, Becky zum Sprechen zu bringen, aber ihr Kummer war zu niederdrückend, ſie hatte alle Hoffnung verloren. Tom tröſtete ſie mit der Bemerkung, ſie müßten ſchon lange vermißt ſein, und es ſei kein Zweifel, daß die Suche ſchon begonnen habe. Er wollte ſchreien, vielleicht würde doch jemand kommen. Er verſuchte es — aber in der Dunkelheit tönte das ferne Echo ſo gräßlich, daß er's nicht zum zweitenmal tun mochte.
Die Stunden floſſen dahin, wieder ſtellte ſich quälender Hunger ein. Ein Stück von Toms Kuchenhälfte war noch da; ſie teilten und aßen ſie. Aber ſie ſchienen nur hungriger zu werden. Die armſeligen Krümel erweckten nur das Verlangen nach mehr.
Plötzlich ſagte Tom: „Pſcht! Hörſt du nichts?“
Beide hielten den Atem an und horchten. Es wurde etwas wie ein ganz entfernter Ruf hörbar. Sofort antwortete Tom, und, Becky an der Hand führend, lief er in der entſprechenden Richtung den Gang entlang. Dann horchte er wieder; wieder war der Ton hörbar, und, wie es ſchien, noch näher.
„Sie ſind's!“ jubelte Tom. „Sie kommen! Komm mit! Becky — jetzt iſt alles gut!“
Die Freude der Gefangenen war nahezu überwältigend. Das Vorwärtskommen war indeſſen ſchwer, weil es hier zahlreiche Spalten gab, man mußte daher äußerſt vorſichtig ſein. Bald kamen ſie an eine und mußten halten. Sie konnte drei Fuß tief ſein, aber auch hundert — es war kein Hinüberkommen. Tom legte ſich platt nieder und reichte ſo tief es ihm möglich war. Kein Boden. Sie mußten bleiben und warten, bis die Retter kommen würden. Sie horchten; augenſcheinlich klangen die Rufe immer entfernter. Ein bis zwei Minuten, dann waren ſie ganz verklungen! Herzbrechende Verzweiflung! Tom brüllte, bis er heiſer war, aber vergebens. Er ſprach Becky hoffnungsvoll zu, aber eine Ewigkeit angſtvollen Wartens verging, kein Ruf ertönte.
Die Kinder taſteten zur Quelle zurück. Endlos ſchleppte ſich die Zeit hin. Sie ſchliefen wieder und erwachten hungrig und troſtlos. Tom glaubte, es müſſe jetzt ſchon Dienſtag ſein.
Jetzt kam ihm ein neuer Gedanke. Es gab dicht dabei ein paar Seitengänge. Es würde beſſer ſein, einige von ihnen zu unterſuchen, als die Laſt der Verzweiflung in Untätigkeit zu tragen. Er nahm eine Drachenleine aus der Taſche, befeſtigte ſie an einer Felskante und er und Becky gingen, Tom voran, indem ſich die Leine allmählich abwickelte, vorwärts. Nach zwanzig Schritt endete der Gang in einen abfallenden Platz. Tom warf ſich auf die Knie, taſtete herum und ſuchte mit der Hand um die Ecke des Felſens herumzukommen; er machte eine heftige Anſtrengung, möglichſt weit zu reichen, und ſah, nicht zwanzig Meter entfernt, eine menſchliche Hand, ein Licht haltend, um eine Ecke erſcheinen! Tom ſtieß ein Triumphgeſchrei aus, und plötzlich folgte der Hand der dazu gehörige Körper — der des Indianer-Joe! Tom erſtarrte; er konnte kein Glied rühren. Dabei war er höchſt überraſcht, den „Spanier“ ſich Hals über Kopf davonmachen zu ſehen. Er wunderte ſich, daß Joe ſeine Stimme nicht erkannt und ihm nicht für ſeine Ausſage vor Gericht den Hals abgeſchnitten habe. Das Echo mußte alſo wohl ſeine Stimme unkenntlich gemacht haben. Zweifellos war es ſo, dachte er. Der Schreck hatte jeden Muskel in ihm erſchlafft. Er beſchloß, wenn er noch Kraft genug habe, zur Quelle zurückzukehren, dort bleiben zu wollen, und nichts ſolle ihn wieder veranlaſſen können, ſich der Gefahr eines Zuſammentreffens mit dem Indianer-Joe auszuſetzen. Er war beſorgt, Becky von dem, was er geſehen habe, nichts merken zu laſſen. Er ſagte, er habe nur auf gut Glück nochmals gerufen.
Aber Hunger und Troſtloſigkeit wurden immer ſchlimmer. Nochmals eine Zeit tödlichen Einerleis an der Quelle und nochmals ein langer Schlaf brachten ihn zu einem anderen Entſchluß. Sie erwachten, von raſendem Hunger gequält. Tom glaubte, es müſſe Mittwoch oder Donnerstag, vielleicht gar Freitag oder Samſtag ſein, und daß die Suche längſt aufgegeben ſei. Er ſchlug vor, einen anderen Gang zu unterſuchen. Er war jetzt bereit, es mit Joe und allen Schrecken aufzunehmen. Aber Becky war ſehr ſchwach. Sie war in tiefe Empfindungsloſigkeit verſunken und wollte nicht geſtört ſein. Sie erklärte, wo ſie jetzt ſei, warten zu wollen — und zu ſterben; es werde ja nicht mehr lange dauern. Tom ſolle nur mit der Drachenleine weiter ſuchen; aber ſie beſchwor ihn, zuweilen wiederzukommen und mit ihr zu ſprechen; und wenn die ſchreckliche Stunde gekommen ſei, ſolle er bei ihr ſein und ihre Hand halten — bis alles vorüber ſein würde. Tom küßte ſie mit erſtickendem Gefühl in der Kehle und zeigte dabei nach Kräften Zuverſicht, die Suchenden zu finden oder aber einen Ausweg aus der Höhle. Dann nahm er die Drachenleine und machte ſich, auf Händen und Füßen kriechend, davon, von Hunger gequält und elend vor trüben Ahnungen des Kommenden.
Dienſtag-Nachmittag kam und wurde von der Dämmerung abgelöſt. Das Dorf St. Petersburg lag wie im Totenſchlaf. Die verlorenen Kinder waren nicht gefunden worden. Öffentliche Gebete waren für ſie abgehalten worden; wieviel ungehörte Gebete mochten außerdem zum Himmel geſtiegen ſein! Aber noch immer kam keine hoffnungsvollere Nachricht aus der Höhle. Die meiſten Suchenden hatten ihre Bemühungen aufgegeben und waren zu ihren täglichen Beſchäftigungen zurückgekehrt, da nach ihrer Meinung die Kinder endgültig aufgegeben werden müßten. Frau Thatcher war ſehr krank und lag meiſtens im Delirium. Man ſagte, es ſei herzbrechend, ihr Rufen nach ihrem Kinde zu hören, ſie den Kopf heben und minutenlang horchen und ſie dann unter Stöhnen ſich mutlos wieder in die Kiſſen werfen zu ſehen. Tante Polly war in vollkommene Schwermut verſunken, ihr graues Haar war faſt weiß geworden. Traurig und mutlos beſchloß das Dorf den Dienſtag-Abend.
Ungefähr um Mitternacht ertönte wildes Glockengeläut, im Augenblick waren die Straßen erfüllt von halbbekleideten, verſchlafenen Menſchen, die ſchrien: „Heraus, heraus — ſie ſind gefunden! Sie ſind gefunden!“ Blechpfannen und Hörner vermehrten noch den Spektakel, das Volk bildete große Trupps, die dem Fluß zuliefen, um die Kinder in Empfang zu nehmen, welche in offenem Wagen, umgeben von ſchreienden Bürgern, herangezogen kamen; Hurra über Hurra brüllend, wälzte ſich der Zug durch die Straßen.
Das Dorf wurde illuminiert, niemand ging wieder zu Bett, es war die größte Nacht, die das kleine Neſt je erlebt hatte. Während der erſten halben Stunde zog eine wahre Prozeſſion von Bürgern nach Richter Thatchers Haus, riß die Geretteten an ſich, um ſie zu küſſen, drückte Frau Thatchers Hand, ſuchte vergebens nach Worten, und ſtrömte wieder hinaus, alles mit Tränen überſchwemmend.
Tante Pollys Seligkeit war vollkommen und Frau Thatchers beinahe. Vollkommen konnte ſie erſt ſein, wenn ein Bote mit der Glücksnachricht bei ihrem noch immer in der Höhle herumirrenden Mann angelangt ſein würde.
Tom lag auf dem Sofa, von begierigen Zuhörern umgeben und erzählte die Geſchichte ſeiner großartigen Abenteuer, hie und da kleine Ausſchmückungen anbringend; er ſchloß mit der Beſchreibung, wie er Becky verließ, um einen neuen Streifzug zu machen; wie er zwei Gänge, ſo weit ſeine Leine reichte, verfolgte; wie er auch eine dritte unterſuchte und eben im Begriff war, umzukehren, als er in weiter Ferne einen ſchwachen Lichtſchimmer entdeckte, der wie Tageslicht erſchien; wie er die Leine fortwarf und darauf zukroch, Kopf und Schultern durch eine enge Öffnung preßte und die Ufer des Miſſiſſippi vor ſich ſah. Und wäre es zufällig Nacht geweſen, hätte er den Lichtſchimmer nicht geſehen und wäre umgekehrt, ohne den Gang weiter zu unterſuchen! Er erzählte, wie er zu Becky zurückkehrte, ihr die Nachricht brachte, und ſie ihn bat, ſie nicht durch ſolchen Unſinn aufzuregen, denn ſie ſei müde, im Begriff zu ſterben und wolle ſterben; welche Mühe er ſich gab, ſie zu überzeugen, und wie es ihm endlich gelang, und wie ſie dann faſt ſtarb vor Freude, als ſie hingekrochen und den Tagesſchein ſelbſt geſehen habe; wie er zuerſt durch das Loch gekrochen ſei und dann auch ihr hindurchgeholfen habe; wie ſie daſaßen und vor Entzücken weinten; wie ein paar Leute in einem Boot vorbeikamen, er ſie anrief und ihnen ihre Lage und ihren verhungerten Zuſtand ſchilderte; wie die Leute die ganze Erzählung erſt nicht glaubten, „denn,“ ſagten ſie, „ihr ſeid fünf Meilen ſtromabwärts vom Eingang der Höhle,“ ſie dann zu ſich nahmen, ſie in ihr Haus brachten, ſie eſſen und dann bis zwei oder drei Stunden nach Dunkelwerden ruhen ließen und ſie dann ſchließlich hierher geleiteten.
Drei Tage und Nächte Aufregung und Hunger in der Höhle ließen ſich nicht auf einmal abſchütteln, wie Tom und Becky bald bemerkten. Mittwoch und Donnerstag mußten ſie das Bett hüten und ſchienen dabei immer ſchwächer und ſchwächer zu werden. Donnerstag konnte Tom ein bißchen herumkriechen; am Freitag war er wieder auf den Beinen und am Samſtag faſt wie ſonſt. Becky aber konnte ihr Zimmer erſt am Sonntag verlaſſen, und dann ſah ſie noch aus, als habe ſie eben eine ſchwere Krankheit durchgemacht.
Tom hörte von Hucks Krankheit und ging am Freitag hin, um ihn zu ſehen, wurde aber nicht zugelaſſen; ebenſowenig Samſtags und Sonntags. Danach durfte er täglich den Kranken beſuchen, doch war ihm verboten, von ſeinen Abenteuern zu erzählen, um keine Aufregung bei dem Freund hervorzurufen. Die Witwe Douglas ſaß dabei und paßte auf, daß er gehorchte. Zu Hauſe erfuhr Tom das Cardiff Hill-Abenteuer; auch daß der Körper des einen Strolches, des „Fremden“, im Fluß nahe der Landungsſtelle des Dampfbootes gefunden worden ſei. Wahrſcheinlich war er auf der Flucht angeſchoſſen worden.
Ungefähr vierzehn Tage nach ſeiner Wiederherſtellung ging Tom zu Huck, der inzwiſchen wieder ſo weit bei Kräften war, um aufregende Neuigkeiten vertragen zu können; und Tom wußte einige, die, dachte er, ihn wohl intereſſieren könnten. Richter Thatchers Haus lag an Toms Weg, und er ging hinein, nach Becky zu ſehen. Der Richter und ein paar Freunde zogen Tom ins Geſpräch, und jemand fragte ihn ironiſch, ob er wohl Luſt habe, nochmals in die Höhle zu gehen. Tom ſagte, ja, er glaube wohl, daß er möchte.
Der Richter lachte: „'s gibt wohl noch mehrere außer dir, Tom, daran zweifle ich nicht im geringſten. Aber dafür iſt geſorgt. Niemand ſoll nochmals in der Höhle verloren gehen.“
„Wieſo?“
„Weil ich ſchon vor zwei Wochen die Eichentür mit eiſernen Bändern und 'nem dreifachen Schloß habe verſichern laſſen; und die Schlüſſel habe ich ſelbſt in Verwahrung.“
Tom wurde weiß wie die Wand.
„Was iſt's mit dem Jungen? Ho — lauf mal jemand nach 'nem Glas Waſſer!“
Das Waſſer wurde gebracht und Tom ins Geſicht geſpritzt.
„Aha — 's hilft ſchon! Na, was war denn Tom?“
„Gott, Herr Richter — in der Höhle drinnen war der Indianer-Joe!“
Wenige Minuten genügten, um die Neuigkeit bekannt zu machen, und ein Dutzend Bootsladungen Männer war unterwegs nach der Douglas-Höhle, denen bald das vollgeſtopfte Dampfboot folgte. Tom Sawyer befand ſich im gleichen Boot mit dem Richter Thatcher. Als die Tür zur Höhle geöffnet wurde, bot ſich in der ungewiſſen Dämmerung des Ortes ein trauriger Anblick. Der Indianer-Joe lag auf der Erde ausgeſtreckt, tot, das Geſicht feſt an eine Lücke in der Tür gepreſſt, als wenn ſeine Augen bis zum letzten Augenblick an den Anblick der hellen, freien Welt dort draußen geheftet geweſen wären. Tom fühlte ſich gerührt, denn aus eigener Erfahrung wußte er, was der Schuft gelitten haben mußte. Sein Mitleid war erregt, aber trotzdem empfand er ein überwältigendes Gefühl der Freiheit und Sicherheit, das ihm deutlich zeigte, was er bisher nur dunkel in ſich getragen hatte; wie groß ſeine Furcht vor einem gewaltſamen Tode bei ihm geweſen ſei, ſeit er vor Gericht gegen den Blutmenſchen Zeugnis abgelegt hatte.
Joes Meſſer lag dicht bei ihm, die Klinge war abgebrochen; mit grenzenloſer Ausdauer hatte er den eichenen, ſtarken Grundbalken der Tür durchſchnitten. Freilich war es vergebliche Ausdauer geweſen, denn der Felſen bildete eine natürliche Schwelle, und an der Härte dieſes Hinderniſſes mußte ſein Meſſer machtlos abgleiten; eine Wirkung zeigte ſich auch nur an dieſem ſelbſt. Aber auch ohne dieſen Steinwall würde alle Mühe umſonſt geweſen ſein, denn hätte der Indianer auch den Balken ganz entfernen können, ſo konnte er ſich doch unmöglich durch dieſen engen Spalt durchzwängen — und er wußte das. So hatte er denn die Arbeit nur verrichtet um etwas zu tun, um die fürchterliche Zeit totzuſchlagen, um ſeinen Geiſt abzulenken. Gewöhnlich konnte man ein halbes Dutzend Kerzenreſte in den Niſchen des Eingangs finden, die von Beſuchern dort zurückgelaſſen waren. Jetzt war nicht eine einzige da. Der Gefangene hatte ſie zuſammengeſucht und ſie gegeſſen. Auch hatte er ein paar Fledermäuſe gefangen und ſie verzehrt, nichts als die Flügel übrig laſſend. Der arme, unglückliche Menſch war Hungers geſtorben. In der Nähe hatte ſich durch undenkliche Zeiten ein Tropfſteingebilde vom Boden herausgebildet — infolge beſtändigen Waſſertropfens von der Decke. Er hatte die Spitze dieſer Säule abgebrochen und einen etwas ausgehöhlten Stein darauf gelegt, worin er die von zwanzig zu zwanzig Minuten regelmäßig wie durch ein Uhrwerk herunterfallenden Tropfen auffing — einen Teelöffel voll in vierundzwanzig Stunden! Dieſer Tropfen fiel ſchon, als die Pyramiden neu waren, als Troja ſank, als Rom gegründet wurde, bei der Kreuzigung Chriſti, als der Eroberer nach England kam, als Columbus ausſegelte, als das Blutbad von Lexington „neu“ war. Er fällt noch; er wird noch fallen, wenn all die jetzigen Dinge durch Vergangenheit Geſchichte geworden, durch die Dämmerung der Sage in die Nacht der Vergeſſenheit verſunken ſein werden. Hat alles einen Zweck und eine Beſtimmung? Mußte dieſer Tropfen durch fünftauſend Jahre fallen, weil er einmal für dieſes menſchliche Inſekt nötig werden ſollte, und hat er vielleicht in zehntauſend Jahren noch einmal einen Zweck zu erfüllen? Aber genug. Es ſind viele, viele Jahre vergangen, ſeitdem dieſer hilfloſe Indianer den Stein aushöhlte, um ein paar unſchätzbare Waſſertropfen aufzufangen; aber bis zum heutigen Tage betrachtet jeder Reiſende, der die Wunder der Douglas-Höhle kennen zu lernen kommt, am längſten von allem dieſen merkwürdigen Stein und den langſam fallenden Tropfen. „Der Becher des Indianer-Joe“ ſteht unter den Sehenswürdigkeiten der Höhle an erſter Stelle; ſelbſt „Aladins Palaſt“ kann nicht mit ihm verglichen werden.
Der Indianer wurde nahe der Mündung der Höhle begraben. Das Volk ſtrömte dahin aus dem Dorfe und aus allen Farmen und Niederlaſſungen ſieben Meilen in der Runde zuſammen; man ſchleppte die Kinder und eine Menge Lebensmittel heran und war ſchließlich von dem Begräbnis ſo befriedigt, als wäre Joe gehängt worden.
Die Beerdigung machte einer äußerſt wichtigen Sache ein Ende — der Petition an den Gouverneur für des Indianer-Joes Begnadigung. Sie trug eine endloſe Menge Namen; mehrere gerührte, redſelige Verſammlungen hatten getagt, ein Komitee weiſer Frauen lag dem Gouverneur mit Murren und Klagen in den Ohren und beſtürmte ihn, eine mächtige Eſelei zu begehen und ſeine Pflicht mit Füßen zu treten. Der Indianer galt als Mörder von fünf Bürgern des Dorfes — aber was tat das? Wäre er der Teufel ſelbſt geweſen, es hätte ſich doch eine Anzahl Schwächlinge gefunden, die ihre Namen unter ein Begnadigungsgeſuch gekritzelt und eine Träne aus ihren beſtändig übervollen Waſſerwerken darauf fallen gelaſſen hätten.
Am Morgen nach dem Begräbnis zog Tom Huck zu einer wichtigen Unterredung an einen geheimen Ort. Huck hatte bereits durch den Walliſer und die Witwe Douglas von Toms Abenteuern gehört, aber Tom meinte, es gäbe wohl noch etwas, wovon jene ihm nichts geſagt haben dürften; darüber eben wollten ſie jetzt ſprechen. Hucks Geſicht verfinſterte ſich.
„Weiß ſchon, was es iſt,“ ſagte er. „Warſt in Nummer Zwei und fandſt nichts als Schnaps. 's hat mir zwar niemand geſagt, daß du's warſt, aber ich wußte wohl, daß du's ſein mußteſt, ſobald ich von dieſer Schnaps-Geſchichte hörte; und wußte, du hättſt das Geld nicht erwiſcht, weil du ſonſt auf irgend 'ne Weiſe zu mir gekommen wärſt und mir's geſagt hätteſt, auch wenn du ſonſt gegen alle ſtumm geweſen wärſt. Tom, ich glaub' faſt, wir kriegen nie was von dem Schatz zu ſehen.“
„Was, Huck, kein Wort red' ich von dem Schnapswirt. Du weißt doch, den Sonntag, als ich zum Picknick ging, war in ſeiner Schenke noch alles in Ordnung. Erinnerſt du dich nicht, daß du in der Nacht wachen ſollteſt?“
„O, ſicher. Zwar, 's kommt mir vor, als wär's ein Jahr her. 's war dieſelbe Nacht, wo ich dem Joe zur Witwe nachſchlich.“
„Du ſchlichſt ihm nach?“
„Freilich — aber reinen Mund halten! Denk' doch, der Joe hat Freunde hinterlaſſen. Möcht' ſie doch nicht auf mich hetzen! Wär' ich nicht geweſen, ſäß' er jetzt in Sicherheit unten in Texas!“
Dann erzählte Huck Tom ſein ganzes Abenteuer im Vertrauen, der bisher nur von des Walliſers Anteil an der Sache wußte.
„Aber,“ unterbrach er ſich plötzlich, auf die Hauptfrage zurückkommend, „wer den Schnaps in Nummer Zwei entdeckt hat, hat auch's Geld in die Finger bekommen, denk' ich — auf jeden Fall iſt's für uns verloren, Tom.“
„Huck — das Geld war gar nicht in Nummer Zwei.“
„Was!?“ Huck ſtarrte ſeinen Kameraden verdutzt an. „Tom, haſt du wieder 'ne Spur von dem Geld?“
„Huck — 's iſt in der Höhle!“
Hucks Augen leuchteten. „Sag's noch mal, Tom!“
„Das Geld iſt in der Höhle!“
„Tom — Allmächtiger — jetzt — iſt das Ernſt oder Scherz?“
„Ernſt, Huck, ſo ernſt wie alles bei mir. Willſt du mitgehn und 's rausholen?“
„Denk' doch, daß ich will! — Wenn's wo liegt, wo wir's leicht finden können — ohne den Weg zu verlieren —“
„Huck, wir können's ohne die geringſte Gefahr von der Welt.“
„Iſt mal was! Aber, warum denkſt du, daß das Geld —“
„Huck, du mußt warten, bis wir drin ſind. Wenn wir's nicht finden, geb' ich dir meine Trommel — und alles, was ich ſonſt noch hab'; verlaß dich drauf!“
„'s iſt gut — iſt 'n Wort. Wann wolln wir?“
„Meinetwegen gleich, wenn du magſt. Biſt du ſtark genug?“
„Iſt's weit in der Höhle? Bin zwar ſchon drei bis vier Tage wieder auf den Beinen, aber mehr als 'ne Meile — Tom, ich glaub', mehr kann ich nicht.“
„'s ſind ungefähr fünf Meilen auf dem gewöhnlichen Weg, aber den wolln wir nicht gehn, Huck, ſondern 'nen ganz kurzen, den niemand kennt außer mir. Huck, ich werd' dich in 'nem Boot hinfahren. Werd' das Boot da anlegen und 's wieder zurückrudern, alles ganz allein. Brauchſt dich gar nicht drum zu kümmern.“
„Na, Tom, laß uns ſchnell hin!“
„Schon recht, aber wir brauchen Brot und Fleiſch und unſere Pfeifen, und 'nen kleinen Sack und zwei oder drei Drachenſchnüre, und dann noch 'n paar von den neuartigen Dingern, die ſie Zündhölzer nennen. Sag' dir, ich hätt' welche davon brauchen können, wie ich neulich drin war.“
Kurz nach Mittag liehen ſich die Jungen ein kleines Boot von einem Bürger, der gerade abweſend war und machten ſich auf den Weg. Als ſie ein paar Meilen unterhalb der Höhlenbucht waren, ſagte Tom: „Sieh mal hier, dies ſchroffe Ufer da ſieht genau ſo aus, wie ſonſt an 'ner beliebigen Stelle — kein Haus, kein Garten, nichts als Geſtrüpp. Aber ſiehſt du die weiße Stelle, wo ein Erdrutſch mal geweſen ſein mag? Na, das iſt eins von meinen Kennzeichen. Wollen landen.“
Sie landeten. „Jetzt, Huck — wo wir jetzt ſtehn, kannſt du das Loch berühren, aus dem ich neulich herausgekrochen bin. Schau mal, ob du's finden kannſt.“
Huck ſuchte überall herum, fand aber nichts. Tom ging ſtolz auf ein dickes Gewirr von Sumachbüſchen zu und ſagte: „Hier iſt's! Schau her, Huck. 's iſt die verborgenſte Höhle in dieſem geſegneten Lande. Daß du aber den Mund hältſt! Hab' ja ſchon immer Räuber ſein wollen, aber ich wußt', daß ich erſt ſo 'n Ding haben müßt', wie das da, wohin man ſich mal verſtecken kann. Jetzt haben wir's und müſſen's geheim halten; höchſtens darf's der Joe Harper und Ben Rogers wiſſen, weil's doch 'ne rechte Bande ſein muß, oder 's hat gar keinen Schick. ‚Tom Sawyers Räuberbande‘, 's klingt mächtig großartig, Huck, was?“
„Na, das will ich wohl meinen, Tom! Und wen wollen wir berauben?“
„Na, ſo ziemlich alle Leute. Auf der Straße auflauern — das iſt ſo die rechte Manier.“
„Und töten die Kerls.“
„Nein — nicht immer. Sperren ſie in die Höhle, bis ſie ſich auslöſen.“
„Aus — was iſt ‚auslöſen‘?“
„Na — Geld zahlen. Man zwingt ſie, daß ihre Freunde für ſie alles, was ſie auftreiben können, zuſammenſcharren; und wenn man ſie 'n Jahr feſtgehalten hat, und das Geld iſt noch nicht da — dann tötet man ſie. 's iſt allgemeine Sitte ſo. Bloß die Frauen tötet man nie. Man ſperrt ſie ein, aber man tötet ſie nicht. Sie ſind immer ganz verdammt ſchön und reich und ſchrecklich furchtſam. Man nimmt ihnen die Uhren weg und alles, was ſie ſonſt haben, aber man nimmt bei ihnen immer den Hut ab und iſt furchtbar höflich. Niemand iſt ſo höflich wie Räuber — du kannſt das in allen Büchern leſen. Und dann — dann verlieben ſich die Weiber in uns, und wenn ſie ein oder zwei Wochen in der Höhle geweſen ſind, hören ſie auf, zu heulen, und noch ſpäter kannſt du ſie gar nicht wieder los werden. Schmeißt man ſie 'raus, kehren ſie ſofort um und kommen zurück. 's iſt in allen Büchern ſo.“
„Na, das iſt aber unangenehm, Tom. Glaub' doch, Pirat ſein iſt noch beſſer.“
„Ja, 's iſt beſſer in manchen Dingen, aber Räuber ſind näher bei zu Hauſe, und dann haben ſie 'n Zirkus und all das andere.“
Inzwiſchen waren ſie herangekommen und krochen in die Höhle, Tom voran.
Sie gingen bis ans andere Ende des Ganges, befeſtigten ihre Drachenſchnüre und ſetzten den Weg fort. Wenige Schritte brachten ſie an die Quelle, und Tom fühlte einen kalten Schauder. Er zeigte Huck den noch an der Wand klebenden Reſt des Kerzendochtes und beſchrieb, wie er und Becky das letzte Aufflackern und Erlöſchen der Flamme beobachtet hatten.
Die Jungen verfielen jetzt unwillkürlich in Flüſterton, denn die Stille und Finſternis des Ortes laſteten ſchwer auf ihrem Geiſt. Sie gingen weiter und bogen dann plötzlich in Toms anderen Gang ein, den ſie bis zu dem „Abgrund“ verfolgten, an dem Tom hatte Halt machen müſſen. Die Lichter zeigten ihnen jetzt, daß es ein ſolcher eigentlich nicht ſei, ſondern nur ein ſteiler Lehmabhang, zwanzig oder dreißig Fuß tief.
Tom flüſterte: „Jetzt will ich dir was zeigen, Huck!“ Er hielt die Kerze in die Höhe und ſagte: „Schau' ſo weit um den Felsvorſprung herum, wie du kannſt. Siehſt du? Da — auf dem großen Felsblock über dir —“
„Tom, 's iſt ein Kreuz!“
„Na, und wo iſt deine ‚Nummer Zwei‘? ‚Unter dem Kreuz‘, he? Gerade dort, wo ich den Indianer-Joe ſein Licht hinhalten ſah, Huck!“
Huck ſtarrte eine Weile auf das geheimnisvolle Zeichen und ſagte dann mit zitternder Stimme: „Tom, laß uns machen, daß wir von hier fortkommen!“
„Wa — a — as? Und den Schatz hier laſſen?!“
„Ja — hier laſſen! 's iſt ſicher, Joes Geiſt ſpukt hier herum!“
„Denkt nicht dran, Huck, denkt nicht dran! 's iſt ja nicht der Platz, wo er geſtorben iſt — der iſt weit von hier an der Mündung der Höhle — fünf Meilen von hier.“
„Nein, Tom, 's iſt nicht ſo. Er geht um, wo 's Geld liegt. Ich weiß, wie's bei den Geiſtern iſt, ſo machen ſie's.“
Tom begann zu befürchten, Huck könne recht haben. Mißbehagen beſchlich ihn. Aber plötzlich kam ihm eine Idee.
„Schau doch, Huck, was für Schafsköpfe wir wieder mal ſind! Indianer-Joes Geiſt kann nirgends umgehn, wo 'n Kreuz iſt!“
Dieſe Beweisführung ſchlug durch. Es ließ ſich nichts dagegen ſagen.
Tom machte ſich als erſter daran, rohe Stufen in die Lehmwand zu hauen. Huck folgte. Vier Gänge öffneten ſich von der kleinen Höhlung aus, in der ſich der bewußte große Felſen befand. Die Jungen unterſuchten drei ohne Erfolg. In dem der Baſis des Felſens am nächſten befindlichen fanden ſie eine kleine Niſche, in der ſich eine Anzahl Wolldecken, ein alter Gürtel, ein paar Schinkenſchwarten und die ſauber abgenagten Knochen von zwei bis drei Hühnern vorfanden. Aber keine Geldkiſte.
Die Jungen durchſuchten alles wieder und immer wieder — aber vergebens.
Dann meinte Tom: „Er ſagte, unter dem Kreuz! Na, dies iſt beinahe unter dem Kreuz. Unterm Felſen ſelbſt kann's nicht ſein, denn der ſitzt zu feſt.“
Sie ſuchten immer wieder und wieder und ſetzten ſich ſchließlich mutlos nieder. Huck wollte nichts einfallen. Aber Tom ſagte plötzlich: „Schau mal her, Huck! Auf der einen Seite des Felſens ſind 'n paar Fußſpuren und Kerzen-Spritzer, auf der anderen Seite ſind keine! Was meinſt du nun? Bitt' dich, das Geld iſt unter dem Felſen! Werd' mal gleich im Lehm nachgraben.“
„Kein übler Gedanke, Tom,“ entgegnete Huck mit Bewunderung.
Toms „echtes Barlow-Meſſer“ war im Nu heraus, und er hatte noch nicht fünf Striche getan, als er auf Holz ſtieß.
„Hoho, Huck, hörſt du das?“ Huck begann ebenfalls zu graben und zu wühlen. Ein paar Bretter waren bald ausgegraben und beiſeite geworfen. Sie hatten eine natürliche Spalte verborgen, die unter den Felſen führte. Tom kroch hinein und leuchtete, ſo tief er konnte, vermochte das Ende der Spalte aber nicht zu ſehen. Er ſchlug vor, noch weiter zu forſchen, kroch hinein und geradeswegs hinunter. Er folgte allen Windungen des Spalts, erſt nach rechts, dann nach links, Huck immer hinterdrein. Plötzlich machte Tom eine kurze Wendung und ſchrie:
„Bei Gott, Huck, ſchau her!“
Es war die Geldkiſte in einem kleinen Loch, daneben ein Pulverbehälter, eine Menge Flinten in verſchiedenen Hüllen, zwei Paar alte Mocaſſins, ein alter Gürtel und ein paar Kleinigkeiten, alles gründlich durchnäßt durch das heruntertropfende Waſſer.
„Gott im Himmel!“ ſchrie Huck, mit den Händen im Gold wühlend, „ſind wir jetzt aber reich, Tom!“
„Huck, ich hab' ja immer drauf gerechnet. 's iſt aber faſt zu ſchön, um dran zu glauben, aber wir haben's mal ſicher — endlich! Wollen's nicht hier liegen laſſen, ſondern mitnehmen; laß mal ſehen, ob ich die Kiſte aufheben kann!“
Die wog aber über 50 Pfund, Tom konnte ſie mit großer Anſtrengung ein bißchen heben, an Fortſchaffen aber war gar nicht zu denken.
„Dacht's mir,“ meinte er. „Damals im Geſpenſterhaus trugen ſie, ſchien's, ſchwer genug daran — merkt's wohl. Denk', 's wird gut ſein, die kleinen Beutel herzunehmen.“
Bald war das Geld verpackt, und ſie ſchleppten's heraus.
„Nun laß uns noch Gewehre und ſonſt ſo 'n Zeug mitnehmen.“ ſchlug Huck vor.
„Nein, Huck, da laſſen! Sind gerad' Sachen, die wir brauchen, wenn wir erſt Räuber ſind. Nehmen's ſeiner Zeit zu unſern Orgien; 's iſt ein verdammt feiner Platz für Orgien.“
„Was ſind Orgien?“
„Weiß nicht. Aber Räuber halten immer Orgien. alſo müſſen wir doch auch welche halten. Nun komm' aber, Huck, wir ſind hier lang genug geweſen. 's iſt ſchon ſpät, denk' ich. Bin außerdem mächtig hungrig. Im Boot wolln wir eſſen und rauchen.“
Sie ſchlüpften alſo hinaus ins Sumachgebüſch, lugten vorſichtig herum, fanden die Luft rein und waren bald im Boot in vollem Schmauſen und Rauchen. Als die Sonne ſank, ſtießen ſie vom Ufer und machten ſich auf den Weg. Tom huſchte im Zwielicht an die Küſte heran, und kurz darauf landeten ſie in voller Dunkelheit.
„Jetzt, Huck,“ ſagte Tom, „wollen wir 's Geld auf dem Boden des Holzſchuppens der Witwe verſtecken, morgen komm' ich dann, wir können's zählen und teilen, und dann ſuchen wir im Wald 'nen Platz, wo wir's ſicher vergraben können. Jetzt halt dich mal ganz ſtill und bewach das Zeug, bis ich hinlauf' und Benny Taylors kleinen Schubkarren leih'. Bin in 'ner Minute wieder da.“
Er verſchwand, kehrte ſogleich mit dem Karren zurück, legte die zwei kleinen Säcke drauf, befeſtigte zwei Drachenleinen dran und zog an, ſeinen Schatz hinter ſich. Als die Jungen das Haus des Walliſers erreichten, ſtanden ſie ſtill, um auszuruhen. Gerade, als ſie ſich wieder auf den Weg machen wollten, kam der Walliſer heraus und rief:
„Hallo, wer da?“
„Huck und Tom Sawyer.“
„'s iſt gut! Kommt nur mit, Jungens, werdet ſchon überall geſucht. Na — vorwärts, ſputet euch mal! Will den Karren für euch ziehen. Alte Ziegelſteine drin oder altes Metall?“
„Altes Metall,“ ſtotterte Tom.
„Dacht' mir's; alle Jungen machen ſich mehr Mühe und brauchen mehr Zeit, um für ſechs Pence altes Eiſen zuſammenzuſcharren, als ſie brauchten, um doppelt ſo viel Geld durch ordentliche Arbeit zu verdienen. Aber iſt mal die menſchliche Natur ſo!“
Die Jungen hätten gern gewußt, wozu die große Eile ſei.
„Weiß nicht; werdet's ſehn, wenn wir zur Witwe Douglas kommen.“
Huck ſagte ein wenig beunruhigt — denn er war längſt daran gewöhnt, unſchuldig angeklagt zu werden: „Mr. Jones, wir haben's gewiß nicht getan!“
Der Alte lachte. „Na, weiß doch nicht, Huck, mein Junge. Weiß doch nicht, ſeid ihr mit der Witwe gut Freund?“
„J — a! Wenigſtens iſt ſie immer freundlich mit mir geweſen.“
„Na alſo! Warum dann Angſt haben?“
Die Frage war noch nicht ganz von Huck beantwortet, als er ſich mit Tom in der Witwe Beſuchszimmer geſtoßen fühlte. Mr. Jones ließ die Karre draußen und folgte.
Das Zimmer war glänzend erleuchtet und alles, was irgend dazu gehörte, erſchienen. Thatchers waren da, Harpers, Rogerſes, Tante Polly, Sid, Mary, der Pfarrer, der Redakteur und viele andere, und alle mit feierlichen Gewändern angetan. Alle zeigten feierliche Mienen. Tante Polly wurde vor Verlegenheit blutrot und ſchüttelte den Kopf zornig gegen Tom. Niemand konnte indeſſen leiden wie die beiden Buben. Mr. Jones erklärte: „Tom war leider nicht zu Haus, ſo gab ich ihn auf, ſtieß aber gerade bei meiner Tür auf ihn und Huck — ſo bracht' ich ſie denn Hals über Kopf mit hierher.“
„Und 's war recht von Ihnen,“ entgegnete die Witwe. „Kommt mit, Jungen.“ Sie zog ſie in ein Schlafzimmer und ſagte: „Jetzt waſcht euch und zieht euch ordentlich an. Hier ſind zwei neue Anzüge — Hemden, Strümpfe — alles da. Sie ſind für dich, Huck, — nein, keinen Dank, Huck! — einer von Mr. Jones, der andere von mir. Denk', ſie werden euch beiden paſſen. Zieht ſie an. Wir wollen warten — kommt runter, wenn ihr ſchön genug ſeid.“
Damit ging ſie.
„Tom, wenn wir 'n Seil finden, können wir famos durchbrennen,“ ſagte Huck, „die Fenſter ſind nicht hoch!“
„Unſinn — wozu denn durchbrennen?“
„Na, ſo 'ne Menge Menſchen kann ich nicht aushalten. Kann ich nicht! Ich will raus, Tom!“
„Ach was 's iſt ja gar nichts! Fürcht' mich nicht 'n bißchen. Will ſchon für dich mit aufpaſſen.“
Sid erſchien. „Tom,“ ſagte er, „Tante hat den ganzen Nachmittag auf dich gewartet. Mary hatte deine Sonntagskleider zurecht gelegt, alles wartete nur auf dich. — Sag' mal, iſt das da nicht Lehm und Talg auf deinen Kleidern?“
„Na, Mr. Siddy, möcht' dir raten, nach deinen eigenen Sachen zu ſehen! — Wozu iſt die ganze Geſchichte da unten?“
„'s iſt einfach ſo 'ne Geſellſchaft, wie die Witwe Douglas ſie ja immer mal gibt. Diesmal iſt's für den Walliſer und ſeine Söhne, von wegen heut nacht. Und dann — kann auch noch was ſagen, wenn ihr's wiſſen wollt —“
„Na, was denn?“
„Der alte Jones wollt' der Geſellſchaft heut abend 'ne große Sache erzählen, aber ich hört 's ihn heut morgen Tante Polly als großes Geheimnis anvertraun, denk' aber, 's iſt kein großes Geheimnis mehr. Jedermann weiß es — auch die Witwe, obwohl ſie alles tut, um 's nicht merken zu laſſen. Oho, Mr. Jones wollte dafür ſorgen, daß Huck hier wäre — konnt' mit ſeinem großen Geheimnis nicht ohne den Huck fertig werden, wißt ihr!“
„Geheimnis — wovon?“
„Na, daß Huck die Räuber angezeigt hat. Denk', Mr. Jones wird 'ne große Sache aus ſeinem Geheimnis machen, aber, könnt' euch denken, 's wird ins Waſſer fallen.“
„Sid, wer hat's verraten?“
„Na — wer weiß? Irgend jemand hat's geſagt, das iſt doch genug.“
„Sid, 's gibt im ganzen Dorf nur einen, der gemein genug iſt, ſo was zu tun, das biſt du! Wärſt du an Hucks Stelle geweſen, du hätteſt dich ſchleunigſt davongemacht und niemand von den Räubern geſagt. Du kannſt nichts tun, was nicht gemein iſt, und kannſt's nicht vertragen, wenn andere für was Gutes gelobt werden. Da — keinen Dank — wie die Witwe ſagt!“ Und Tom packte Sid an den Ohren und half ihm unter Püffen aus der Tür. „Jetzt geh, ſag's Tante Polly und morgen rechnen wir dann ab!“
Wenige Minuten danach ſaßen die Gäſte an einer langen Speiſetafel; nach guter, alter Sitte waren die Kinder — ein Dutzend — an einem kleinen Seitentiſchchen zuſammengeſteckt. Zur rechten Zeit hielt Mr. Jones ſeine Anſprache, worin er der Witwe für ihre Dankbarkeit dankte, und ſagte dann, es gäbe einen anderen, deſſen Beſcheidenheit —
Und ſo weiter und ſo weiter. Da alles die Geſchichte kannte, ſo war die Überraſchung etwas mäßig, nur die Witwe ſelbſt machte verzweifelte Anſtrengungen, zu tun, als wiſſe ſie noch von nichts. Sie bewies Huck ihre Dankbarkeit auf ſo ſtürmiſche und zärtliche Manier, daß ihm ſein jetziger Zuſtand noch weit entſetzlicher erſchien als der Zwang der neuen Kleider und des geſitteten Benehmens.
Die Witwe erklärte, Huck unter ihrem Dach aufnehmen und ihm eine ſorgfältige Erziehung geben zu wollen; und wenn ſie ſo viel Geld zurücklegen könne, wolle ſie ihm ſpäter ein anſtändiges Geſchäft übergeben.
Toms Zeit war gekommen. „Huck braucht's gar nicht — Huck iſt reich,“ ſagte er.
Nur die gute Lebenſart der Geſellſchaft konnte bei dieſem vermeintlichen Witz ein allgemeines Gelächter hintanhalten. Aber das Schweigen war doch ein wenig drückend.
Tom brach es. „Huck hat Geld! Wenn Sie's nicht glauben — Huck kann's beweiſen. O, Sie brauchen nicht zu lächeln, denk', ich kann's beweiſen. Warten Sie nur 'ne Minute.“
Tom rannte hinaus. Die Geſellſchaft ſchaute ſich überraſcht an und drang in Huck, der ſtumm zu ſein ſchien.
„Sid, was iſt's mit Tom?“ fragte Tante Polly. „Er — na, werd' ein anderer klug aus dem Jungen. Ich kann's nicht —“
Tom erſchien, ſich mit den Säcken abſchleppend, und Tante Polly ließ ihren Satz unbeendet. Tom ſchüttete das Geld auf den Tiſch und meinte trocken: „Da — was hab' ich geſagt? Halb Huck ſeins — halb meins!“
Dieſer Anblick machte alle atemlos. Alles ſchaute nur, niemand konnte ſprechen. Dann folgten unartikulierte Laute des Entzückens. Tom ſagte, er könne es erklären, und tat's. Die Erzählung war lang, aber mächtig ſpannend. Niemand unterbrach ihn, außer durch Ausrufe, wie ſie hier angebracht waren. Als er geendet hatte, meinte Mr. Jones: „Dachte 'ne kleine, beſondere Überraſchung für dieſe Gelegenheit in Hinterhalt zu haben, aber jetzt denk' ich, 's war nichts. Dies da läßt meins furchtbar lumpig erſcheinen — kann's nicht leugnen.“
Das Geld wurde gezählt. Die Summe belief ſich auf etwas über zwölftauſend Dollar. Das war mehr, als irgend einer der Anweſenden jemals beiſammen geſehen hatte, obwohl verſchiedene unter ihnen waren, die über viel mehr als das in Grundbeſitz verfügten.
Der Leſer kann ſich vorſtellen, was für ein koloſſales Aufſehen Tom und Huck in dem armen, kleinen Dörfchen St. Petersburg gemacht hatten. Eine ſolche Summe, auf einem Fleck, ſchien nahezu unglaublich. Es wurde darüber geſchwatzt, disputiert, phantaſiert, bis der Verſtand mancher Bürger unter dem Einfluß dieſer ungeſunden Erregung zu wanken begann. Jedes „verhexte“ Haus in St. Petersburg und der Nachbarſchaft wurde durchſtöbert, Balken für Balken, die Grundmauern bloßgelegt und auf verborgene Schätze hin unterſucht, — und nicht durch Kinder — nein, durch Männer, verflucht ernſte, ganz unromantiſche Männer meiſtens. Wo Tom und Huck erſchienen, wurden ſie gefeiert, bewundert, angeſtarrt. Sie konnten ſich nicht erinnern, daß ihren Bemerkungen bisher Wert beigelegt worden war; jetzt aber waren ſie geſucht und geſchätzt; alles, was ſie taten, erſchien bemerkenswert; augenſcheinlich hatten ſie die Fähigkeit verloren, etwas Gewöhnliches zu tun oder zu ſagen; noch mehr — ihre Vergangenheit wurde unter die Lupe genommen, und man erklärte, es ſprächen ganz wunderbare Begabungen aus allem, was ſie bisher getan hatten. Sogar das Käſeblättchen brachte biographiſche Skizzen über die beiden Buben.
Die Witwe Douglas legte Hucks Geld zu ſechs Prozent an, der Richter Thatcher tat auf Pollys Wunſch dasſelbe mit Toms Anteil. Jeder von ihnen hatte jetzt ein Einkommen, das einfach märchenhaft erſchien — einen Dollar für jeden Wochentag des Jahres und die Hälfte der Sonntage. Es war ſo viel wie der Geiſtliche erhielt, — nein, es war das, was er hätte erhalten ſollen, denn er bekam nicht alles. Für gewöhnlich genügten in dieſen einfachen Zeiten ein und ein viertel Dollar wöchentlich, um einen Jungen zu ernähren, zu kleiden, zu waſchen, ihm Wohnung zu ſchaffen und den Schulbeſuch zu ermöglichen. Richter Thatcher hatte eine hohe Meinung von Tom gefaßt. Er ſagte, kein gewöhnlicher Junge würde ſeine Tochter jemals aus der Höhle herausgebracht haben. Als Becky ihrem Vater im ſtrengſten Vertrauen erzählte, wie ſie Tom in der Schule vor Prügel bewahrt habe, war er ſichtlich bewegt; und als ſie gar die heldenhafte Lüge, durch die Tom ihre Schuld auf die eigenen Schultern geladen hatte, berichtete, ſagte er im Tone der Überzeugung, es wäre eine edle, großmütige, glänzende Lüge — eine Lüge, die wert ſei, von Geſchlecht zu Geſchlecht in Ehren gehalten zu werden, unmittelbar nach George Washingtons berühmter Wahrheitsliebe.
Becky dachte, ihr Vater habe niemals ſo ſtolz und großartig ausgeſehen, als während er auf und nieder lief, mit dem Fuß aufſtampfte und dies ſagte. Sie ging ſofort davon und erzählte Tom davon. Der Richter hoffte, Tom einmal als großen Geſetzgeber oder großen Soldaten oder ſo zu ſehen. Er verſicherte, dafür ſorgen zu wollen, daß Tom auf die Nationale Militärſchule und nachher auf die beſte Geſetzesſchule des Landes komme, damit er ſich dort für eine dieſer Karrieren ausbilden ſolle — oder auch für beide.
Huck Finn wurde durch ſeinen Reichtum und durch den Umſtand, daß er ſich unter dem Schutze der Witwe Douglas befand, in die Geſellſchaft eingeführt — nein, hineingeſtoßen, hineingezerrt — und ſeine Leiden wurden bald ſo ſchlimm, daß er ſie nicht mehr tragen konnte. Die Dienerſchaft der Witwe ſtriegelte ihn rein und ſauber, bürſtete ihn und packte ihn nachts in ein gräßliches Bett, in dem ſich nicht ein einziger Fleck fand, den er hätte ans Herz preſſen und Freund nennen können. Er ſollte mit Meſſer und Gabel eſſen. Schüſſeln, Becher und Teller ſollte er benützen; aus Büchern lernen; in die Kirche gehen; ſich ſo manierlich ausdrücken, daß ihm die eigene Sprache fremd erſchien. So daß es ihm ſchließlich vorkam, als werde er durch dieſe „Kultivierung“ an Händen und Füßen gebunden.
Drei Wochen trug er ſein Mißgeſchick tapfer, dann ſchüttelte er es eines Tages gewaltſam ab. Achtundvierzig Stunden hindurch ſuchte die Witwe in höchſter Beſtürzung nach ihm. Das ganze Dorf war tief ergriffen; man ſuchte überall herum und ließ den Fluß ab nach ſeiner Leiche. Früh am dritten Tage ſchlenderte Tom zu ein paar alten, leeren Fäſſern, die hinter dem jetzt unbenutzten Schlachthauſe vergeſſen ihr Daſein friſteten; in einem derſelben fand er den Flüchtling. Huck hatte da geſchlafen; eben hatte er mit einigen geſtohlenen Kleinigkeiten ſein Frühſtück gehalten und lag jetzt gemütlich da, die Pfeife im Munde. Er war ungekämmt, ungewaſchen und in dieſelben Ruinen von Kleidern gehüllt, die ihm in den goldenen Tagen der Freiheit und vollen Glückſeligkeit ein ſo pittoreskes Ausſehen gegeben hatten. Tom ſchalt ihn, erzählte ihm von der durch ihn verurſachten, Beſtürzung und drängte ihn, nach Haus zurückzukommen. Hucks Geſicht verlor ſeinen ruhig-zufriedenen Ausdruck und wurde immer melancholiſcher.
„Sag' nichts davon, Tom,“ bat er. „Hab's verſucht, aber 's geht nicht, Tom! 's iſt nichts für mich, paſs' nicht dafür! Die Witwe iſt gut und freundlich gegen mich; aber ich kann's nicht aushalten. Jeden Tag weckt ſie mich zur ſelben Zeit, läßt mich waſchen — ſie ſchrubben mich noch zu Tode! läßt mich im Bett ſchlafen; dann ſoll ich dieſe verdammten Kleider tragen, die mich erſticken, Tom; ſie ſcheinen gar keine Luft durchzulaſſen und ſind ſo verteufelt fein, daß ich nicht drin ſitzen, liegen, mich nirgends hinwerfen kann. Auf 'ner Kellertreppe bin ich nicht mehr hinuntergerutſcht ſeit — na, 's iſt wohl ſchon Jahre her! In die Kirche gehn ſoll ich und ſchwitzen und ſchwitzen — wie ich dieſe langweiligen Predigten haſſe! Nicht mal 'ne Fliege fangen darf man, nicht rauchen; dafür ſoll man alle Sonntage Schuhe tragen! Wenn die Witwe ißt, läutet's, wenn ſie zu Bett geht, läutet's, wenn ſie aufſteht, läutet's — 's iſt alles ſo gräßlich regelmäßig — das halt der Teufel aus!“
„Na, Huck, das muß aber doch jeder.“
„Tom, ich will 'ne Ausnahme machen; ich bin nicht jeder, ich kann's nicht aushalten! 's iſt ſchrecklich, ſo gezogen zu werden. Und 's Eſſen wird einem ſo bequem gemacht — ſo macht's mir gar keinen Spaß. Soll fragen, wenn ich fiſchen will, fragen, wenn ich baden will — Herrgott, um jedes und jedes fragen! Na, und dann nicht ſprechen dürfen, wie man's gewohnt iſt. Könnt' ich nicht jeden Tag auf den Heuboden und dort 'n bißchen ſchwatzen in meiner Manier, ich müßt' krepieren, Tom! Die Alte läßt mich auch nicht rauchen und nicht 'n bißchen brüllen, nicht gähnen — nicht mal kratzen, wenn jemand dabei iſt!“ Dann mit einem Ausbruch ganz beſonderen Ingrimms: „Und das weiß der Henker — beten tut ſie den ganzen Tag! Nie hab' ich ſo 'n Weib geſehen! Mußte fort, Tom, mußte! — Tom, in all das Elend wär' ich nicht gekommen, wär' nicht das Geld geweſen! Jetzt ſei ſo gut, Tom, nimm du's und gib mir zuweilen zehn Cent — nicht zu oft, denn ich geb' nichts um 'ne Sache, wenn ſie nicht ſchwer zu kriegen iſt; und dann — geh' hin, bitt' mich von der Witwe frei!“
„Ach, Huck, du weißt doch, daß ich das nicht tun kann! 's wär' unanſtändig; und dann, wenn du's noch 'ne Weile verſuchſt, wirſt du dich ſchon dran gewöhnen!“
„Dran gewöhnen! Könnt' mich auch wohl an 'nen heißen Ofen gewöhnen, wenn ich lang' genug drauf ſitzen müßte! Nein, Tom, ich mag nicht reich ſein, und ich will nicht in dem verdammten ſchläfrigen Hauſe wohnen. Hab' den Wald zu lieb und den Fluß und die Berge — und zu denen will ich zurück! Verdammt! Jetzt, wo wir Geld haben und 'ne Höhle und alles, was wir als Räuber brauchen, wirft einem ſo 'ne verrückte Tollheit alles übern Haufen!“
Tom erſah ſeinen Vorteil. „Na, weißt du, Huck, das Reichſein hat mich gar nicht davon abgebracht, Räuber zu werden.“
„Nicht! All ihr guten Geiſter, ſprichſt du in wirklichem, todſicherem Ernſt, Tom?“
„So todſicher, wie ich hier ſitze! Aber, Huck, weißt du, wir können dich nicht unter uns aufnehmen, wenn du nicht gut erzogen biſt.“
Hucks Freude war ſchon wieder zu Ende. „Könnt's nicht, Tom? Würd's nicht als Pirat gehn?“
„Ja, aber das iſt 'n Unterſchied. Ein Räuber iſt viel was Nobleres, als was ſo 'n Pirat iſt — für gewöhnlich. In den meiſten Ländern ſind ſie furchtbar nobel! 's ſind Herzöge dabei und ſo was!“
„Ach, Tom, du biſt doch ſonſt immer ſo'n guter Kamerad geweſen! Du wirſt mich doch nicht ausſchließen, Tom, nicht wahr? Du wirſt doch das nicht tun, Tom —?“
„Huck, ich möcht's ja nicht tun — und ich tät's auch nicht, aber was würden die Leute ſagen? Pah! würden ſie ſagen — Tom Sawyers Bande! Schön' lump'ge Kerle darunter! Sie würden dabei dich meinen, Huck! Das möchtſt du doch nicht, Huck, oder —?“
Huck ſchwieg eine Weile, in tiefes Nachdenken verſunken. Schließlich ſagte er:
„Na, dann will ich zur Witwe zurück — auf 'nen Monat oder ſo, und ſehn, ob ich durchkomm' — wenn ich dann eintreten kann, Tom.“
„'s iſt recht, Huck, iſt recht! Komm' mit, alter Dummkopf, und ich will ſehen, ob ich die Witwe bereden kann, dir 'n bißchen nachzulaſſen, Huck.“
„Willſt du, Tom? Nein, willſt du?! 's iſt wundervoll! Wenn ſie mir nur die ſchlimmſten Sachen nachläßt, will ich heimlich rauchen und fluchen und ſehen, daß ich durchkomm' — oder krepieren. — Wann willſt du denn dran gehen und 'ne Bande gründen?“
„O, recht bald, Huck. Meinetwegen können wir noch dieſe Woche die Jungen zuſammentrommeln und die Einſchwörung vornehmen.“
„Vornehmen — was?“
„Die Einſchwörung.“
„Was iſt das?“
„Na, halt ſchwören, zuſammenhalten, nie 'n Geheimnis zu verraten, wenn man auch drum gevierteilt werden ſollte — und jeden zu töten, und ſeine ganze Familie, der was ſchwatzt.“
„Großartig, Tom — ſag' dir's, einfach großartig!“
„Na, ich glaub', 's iſt's! Und das muß natürlich um Mitternacht ſein, am einſamſten, ſchrecklichſten Ort, den man finden kann. Ein Geſpenſterhaus iſt das beſte, aber ſo was gibt's ja kaum noch.“
„Mitternacht iſt gut, Tom!“
„Ja — 's iſt gut. Und aufs Schwert ſchwören mußt du und mit Blut unterzeichnen.“
„Na, das laß ich mir gefallen! 's iſt ja tauſendmal beſſer, als Pirat ſein. Na, Tom, will mich jetzt an die Witwe halten und alles tun, bis ich verfaul'! Und wenn ich dann mal ſo 'n richtiger Räuber bin und alle Welt von mir ſpricht, denk' ich, wird ſie noch ſtolz ſein, daß ſie mich aus dem Schmutz gezogen hat.“
So endet dieſe Geſchichte. Da es nur die Geſchichte eines Jungen ſein ſoll, muß ſie hier enden; ſie könnte nicht weiter gehen, ohne die eines Mannes zu werden. Wenn jemand eine Erzählung über erwachſene Leute ſchreibt, weiß er genau, wo er aufzuhören hat — bei der Heirat; ſchreibt er aber über ein unreifes Kind, ſo muß er aufhören, wo er's für paſſend hält.
Die meiſten der in dieſem Buch vorkommenden Perſonen leben noch, ſind glücklich und mehren ſich.
Vielleicht erſcheint es eines Tages als angebracht, die Geſchichte der Jugend wieder aufzunehmen und zu ſehen, was für Männer und Frauen aus ihnen geworden ſind; darum wird's am beſten ſein, von ihrem jetzigen Leben hier nichts mehr zu verraten.