Voltaire: Kandide oder der Optimismus 4. Viertes Kapitel. // Wie {Kandide} ſeinen alten Lehrmeiſter zu der Philoſophie, den Magiſter {Panglos} wiederfand und was weiter geſchahe. {Kandide}, der mehr Mitleid als Entſezen bei dieſem Anblik empfand, gab dem Scheuſal von Bettler die zwei Gulden, die ihm der biederherzige Wiedertäufer {Jakob} gegeben hatte. Dieſe Jammergeſtalt ſah’ ihn ſtarr an, Thränen rannten von ihren Wangen, und ſie fiel {Kandiden} um den Hals, der vor Schrek zurükbebte. Und Ihr kennt Euren lieben {Panglos} nicht mehr? ſagte der eine Unglükliche zum andern Unglüklichen. „Was hör ich? Sie ſind’s, mein lieber Lehrer? Sind in ſolch gräsliches Elend geſunken? Wodurch das? Und weshalb nicht mehr in dem ſchönſten aller Schlöſſer? Was iſt aus Barones {Kunegunden} geworden, der Perl’ aller Mädchen, dem Meiſterſtükke der Natur?“ Mit mir iſt’s aus, rief {Panglos}, und ſank um. Alsbald ſchleppt’ ihn {Kandide} in des {Wiedertäufer’s} Stall und gab ihm ein Paar Biſſen Brod, und als er ſich wieder ein wenig erquikt hatte, fragt’ er ihn: Nun, und {Kunegunde}? Iſt todt, erwiederte jener. Bei dieſen Worten ſank {Kandide} in Ohnmacht; ſein Freund brachte ihn mit einem Paar Tropfen verdorbnen Weineſſig wieder zu ſich, der ſich von ungefähr im Stalle befand. {Kandide} (die Augen aufſchlagend): Todt! {Kunegunde} todt! O wo biſt’u beſte der Welten? — Aber woran ſtarb ſie? Gab ihr das den Tod, daß ſie mich aus ihres Herrn Vaters ſchönem Schloſſe mit derben Fusſtöſſen hinausjagen ſahe? {Panglos}. Das nicht! Bulgariſche Soldaten ſchlizten ihr den Bauch auf, nachdem ſie ſelbige zuvor auf’s möglichſte genotzüchtigt hatten; den Baron, der ihr beiſtehn wollen, hatten ſie vor’n Kopf geſchoſſen; die Frau Baronin in Stükken zerhauen; meinen armen Untergebnen nicht beſſer mitgeſpielt, als ſeiner Barones Schweſter; und was das Schlos anlangt, da iſt kein Hammel, keine Ente am Leben geblieben; kein Stein auf dem andern, keine Scheune, kein Stall, kein Baum auf ſeinem alten Flek. Wir haben aber Genugthuung bekommen, völlige Genugthuung. Die Abaren haben’s auf einem benachbarten Bulgariſchen Ritterſiz eben ſo gemacht. {Kandide} ſank bei der Erzälung abermals in Ohnmacht; nachdem er aber wieder zu ſich gekommen war, und ein gehöriges Lamento angeſtimmt hatte, erkundigt’ er ſich nach der Urſach und Wirkung und dem zureichenden Grunde, der {Pangloſen} in einen ſo erbärmlichen Zuſtand verſezt habe. {Panglos}. Ach Liebe war’s, Liebe, ſie, die Troſt auf das ganze menſchliche Geſchlecht herabſtrömt, das ganze Univerſum umfaſſt und erhält, ſie, der Lebensquell aller fühlenden Geſchöpfe; Liebe war’s, der zärtlichſte aller Affekte. {Kandide}. Auch ich hab ſie gekannt, dieſe Liebe, ſie, die alle Herzen beherrſcht, Leben und Licht in unſre Seele bringt; und der Lohn, den ſie mir gab, beſtand aus einem Kus und zwanzig Fustritten in den Hintern; ein beſſrer Lohn ward mir nie. Wie konnte aber dieſe ſchöne Urſach ſo abſcheuliche Wirkungen bei Ihnen hervorbringen? {Panglos}. Sie haben doch die {Gertrud} gekannt, lieber {Kandide}, das niedliche Zöfchen von dem königlichen Weibe der alten Baroneſſin? In ihren Armen hab’ ich Paradieſeswonne geſchmekt, und eben die hat das Höllenfeuer in all’ meinen Adern angefacht, das mich jezt ſo wütig verzehrt. Das arme Mädchen war angeſtekt und iſt vielleicht ſchon nicht mehr. {Gertrud} hatte von einem hochgelahrten Franziskanermönch dies Geſchenk, das er aus der erſten Hand bekommen hatte; denn er hatte es von einer alten Reichsgräfin, die Gräfin von einem Dragonerhauptmann, der Hauptmann von einer Marquiſe, die Marquiſe von einem Pagen, der Page von einem Jeſuiten, und der Jeſuit noch in ſeinem Probeſtande [recta via] von einem Gefärten des Chriſtoph Kolumbus. Ich meines Orts, werd’s niemanden mittheilen, denn ich ſterbe. {Kandide}. O Panglos! Eine gar ſonderbare Sippſchaft! Der Teufel iſt wohl gar der Stammvater? {Panglos}. Behüte! Die beſte aller möglichen Welten konnte ohne dieſe Krankheit nicht beſtehn; ſie war ein unumgänglich nötiges Ingredienz; denn hätte nicht Kolumbus in einer Amerikaniſchen Inſel dieſe Seuche geholt, die den Zeugungsquell vergiftet, ſeine Wirkungen oft völlig entkräftet und dem großen Zwek der Natur augenſcheinlich entgegenarbeitet, ſo hätten wir weder Schokolate noch Koſchenille. Überdies mus man bemerken, daß ſie lediglich nur uns Europäern anhängt, ſo wie die Sucht zu polemiſiren. Türken und Indier, und die da wohnen in Schina und Siam und Japan, wiſſen davon noch nichts bis auf den heutigen Tag. Indes giebt’s einen zureichenden Grund, daß in den Folgejahrhunderten auch an {dieſe} Völker die Reihe kommen wird, ſie kennen zu lernen. Derweil’ aber macht ſie bei uns ganz erſtaunend ſchnelle Fortſchritte, zumal in den groſſen Armeen, welche aus lauter wakkern, wohlerzogenen Mietlingen beſtehn, die das Schikſal der Staaten entſcheiden. Man kann behaupten, wenn dreiſſigtauſend Mann gegen eine eben ſo ſtarke Armee in Schlachtordnung ſtehn, daß ſich auf jeder Seite ungefähr an die zwanzigtauſend befinden, die die Fr**n haben. {Kandide}. Alles gut, lieber Magiſter, aber jetzt müſſen Sie auf Ihre Kur denken. {Panglos}. Auf meine Kur denken, und habe keinen Heller. Sie müſſen wiſſen, liebes Kind, auf Gottes weitem runden Erdboden giebt’s keine Seele, die einem zur Ader läſſt oder ein Kliſtier ſezt, wenn man’s nicht bezahlen kann, oder nicht einen hat, der’s an unſrer Stelle thut. {Pangloſens} lezte Worte beſtimmten {Kandiden}; er flog zu ſeinem mitleidigen {Wiedertäufer}, warf ſich ihm zu Füſſen und malte ſeines {Freundes} Zuſtand mit ſo warmem, kräftigem Pinſel, daß dieſer Biedermann den {Magiſter} ohn’ alle Schwierigkeit annam und ihn auf ſeine Koſten heilen lies. {Panglos} verlor bey der Kur nur Ein Auge und ein Ohr. Schreiben konnt’ er wie der geſchikteſte Kanzelliſt und rechnen wie {Euler}; darum macht’ ihn Wiedertäufer {Jakob} zu ſeinem Buchhalter. Nach Verlauf von zwei Monaten muſſt’ er in Handlungsangelegenheiten nach Liſſabon gehen, Er nam ſeine beiden Philoſophen mit. {Panglos} bewies ihm deutlich, es ſei alles auf das Beſte eingerichtet. Geweſen wohl, fiel ihm {Jakob Schwezinger} ein, aber jezt nicht mehr. Durch die Menſchen, denk’ ich, iſt die Natur um ein gut Theil verdorben worden. Wolfesſinn ward ihnen nicht angeboren und doch haben ſie ihn. Gott gab ihnen nicht Vierundzwanzigpfünder, nicht Bajonette, ſie goſſen ſie ſich aber, ſchliffen ſie ſich, um einander aufzureiben. Auch die Bankrotte könnt’ ich hier in Anſchlag bringen, und die Obrigkeiten, welche die Gläubiger um des Bankrottiers Habe prellen, und es in ihren Wanſt ſchieben. Alles das iſt unumgänglich notwendig, erwiederte Magiſter {Einauge}. Es trägt zum allgemeinen Wohl bei, wenn Hinz unglüklich iſt und Kunz; je mehr Privatunglüksfälle alſo, deſto beſſer für’s Ganze. Während des Philoſophirens bewölkte ſich der Himmel, die Winde blieſen aus allen vier Enden der Welt, und das ſchreklichſte Ungewitter pakte das Schif im Angeſicht des Liſſabonner Hafens. 5. Fünftes Kapitel. // Seeſturm, Schifbruch, Erdbeben, Schikſal des Magiſter Panglos, Kandiden’s und des Wiedertäufers Jakob Schwezinger.