Voltaire: Kandide oder der Optimismus 2. Zweites Kapitel. // Wie’s {Kandiden} unter den Bulgaren geht. Vertrieben aus ſeinem irdiſchen Paradieſe wanderte {Kandide} mit weinendem Auge fort, ohne zu wiſſen wohin. Er blikte oft gen Himmel, noch öfter nach dem Pallaſte, der die ſchönſte aller jungen Baroneſſinnen in ſich ſchlos. Mit leerem Magen legt’ er ſich mitten im Felde hin, zwiſchen zwei Furchen. Es ſchneite die Nacht durch heftig; ganz erſtarrt ſchlich {Kandide} mit dämmerndem Morgen nach einer benachbarten Stadt. Sterbensmatt vor Hunger und Strapaze, nicht einen Heller Geld bei ſich, macht’ er vor der Thür eines Wirthshauſes höchſt betrübt Halte. Zwei Blaurökke wurden ihn gewahr. Ha! ein hübſcher Kerl, Herr Bruder! ſagte der eine. Wie’n Rohr gewachſen! Juſt ſo gros wie wir’n brauchen! Sie gingen auf {Kandiden} los und baten ihn ſehr höflich zu Mittag mit ihnen zu ſpeiſen. Ich finde mich ungemein durch Ihre Einladung beehrt, meine Herren, ſagte {Kandide} mit einem beſcheidnen Ton, der gleich ſeine Nation verriet, allein ich habe kein Geld, kann meine Zeche nicht zahlen. Ach! was Geld! was Zeche zahlen! ſagte einer von den Männern, das haben ſolche wohlgewachsne, artige junge Herrn, wie Sie, nicht nötig. Sie meſſen ſechs Zoll? Die meſſ’ ich, meine Herren, ſagte er mit einer Verbeugung. „Hurtig, mein Herr! zu Tiſche. Wir zahlen nicht allein die Zeche für Sie, wir werden auch ſorgen, daß es einem Manne, wie Sie, nie an Gelde fehlt. Wozu ſind die Menſchen in der Welt, als einander beizuſtehn, unter die Arme zu greifen?“ Wohl wahr! ſagte {Kandide}, ſo hat mich der Herr Magiſter {Panglos} immer gelehrt, und ich ſehe wohl ein, daß alles auf’s Beſte gemacht iſt. Man drang ihm etliche Thaler auf; er wollt’ ihnen dafür Schwarz auf Weis geben; ſie wollten’s nicht. Man ſezt ſich zu Tiſche, iſſ’t, trinkt. Nicht wahr, fängt der Eine an, Sie ſind ihm recht herzlich gut dem …… Dem herzensguten engliſchen {Kunegundchen}? antwortet’ er. Wohl bin ich’s; ich liebe ſie; bete ſie an. „Nicht doch! den König der Bulgaren meinen wir, ob Sie dem recht herzlich gut ſind?“ Was wollt’ ich? Ich kenn’ ihn gar nicht, antwortete jener; hab’ ihn nie geſehn. „Kennen ihn gar nicht! Haben ihn nicht geſehn! Den Mann nicht! Teufel! das iſt der treflichſte Herr auf Gottes Erdboden! ſolchen König giebt’s gar nicht mehr! Allo! Er ſoll leben!“ Das ſoll er! rief {Kandide} aus vollem Herzen, und ſties an. Wie er geleert, hies es: Na, ſo wär’s denn geſchehn! Nun ſind Sie Held! die Säule der Bulgaren! Ihr Schuz und ihr Schirm! Die Schranken der Ehre ſtehn vor Ihnen geöfnet! Lorbeern ohne Zahl erwarten Ihrer! Sogleich legte man ihm Schellen an die Füſſe und führte ihn zum Regimente. Da lernt’ er das Rechts und Links um kehrt euch, Gewehr hoch, Gewehr beim Fus, Feuer, Marſch, und empfing dabei dreiſſig Prügel; den andern Tag exerzirt er ſchon ein wenig beſſer und bekömmt nur zwanzig; den Tag darauf gar nur zehne, und all’ ſeine Kameraden gaften ihn als ein blaues Meerwunder an. {Kandide} war noch ganz beſtürzt, konnte gar nicht recht begreifen, wie er ſo im Hui zum Helden geworden ſei. An einem ſchönen Frühlingsmorgen fällt’s ihm ein, ſpazieren zu gehn. Er ſchlendert grade vor ſich hin, der Meinung: die Menſchen hätten ſo wohl wie die Thiere das Vorrecht, ſich ihrer Beine nach Belieben zu bedienen. Kaum hat er zwei Meilen gemacht, wie ein Bliz ſind ihm vier andre ſechsſchuhige Helden auf den Hals, binden ihn, und werfen ihn in ein Loch, wohin nicht Sonne nicht Mond kam. Ein wohllöbliches Kriegsgericht fragte ihn, was er lieber wollte, ſechsunddreiſſigmal Spiesruten laufen oder ſich drei bleierne Kugeln mit eins in’s Gehirn jagen laſſen. {Kandide} hatte gut ſagen, daß des Menſchen Wille frei ſei und daß er keins von beiden möchte; das half nichts, er mußte wälen. Sonach entſchlos er ſich denn, kraft der lieben Gottesgabe, Willensfreiheit genannt, ſechsunddreiſſigmal Spiesruten zu laufen. Zweimal hatte er die Wandrung gemacht, Gaſſ’ auf, Gaſſ’ ab; und weil das Regiment aus zweitauſend Mann beſtand, hatt’ er ſeine viertauſend Hiebe richtig weg. Alle Mäuslein und Spannadern vom Nakken an bis zum Wirbelbein des Rückens herab, lagen ganz blank und baar da. Wie er den dritten Gang machen ſollte und nicht konnte, erbat er ſich’s zur Gnade, erſchoſſen zu werden. Man geſtand’s ihm zu; verband ihm die Augen, lies ihn niederknien. In eben dem Nu reitet der König der Bulgaren vorbei, frägt, was der arme Sünder begangen und nimmt aus allen Umſtänden ab — denn er war ein groſſes Genie — daß {Kandide} ein junger Metaphyſiker ſei, dabei noch völlig Neuling in der Welt, und begnadigte ihn mit einer Milde, die Welt und Afterwelt in Journälen und Chroniken preiſen wird. Ein braver Kompaniefeldſcheer kurirte Kandiden binnen drei Wochen mit erweichenden Mitteln, nach der Vorſchrift des groſſen {Dioskorides}. Haut hatte {Kandide} bereits ſchon ziemlich, und marſchieren konnt’ er auch ſchon, als der König der Bulgaren dem Könige der Abaren ein Treffen lieferte. 3. Drittes Kapitel. // Wie {Kandide} den Bulgaren entkam und wie’s ihm nachher erging.