Johanna Spyri: Heidi kann brauchen, was es gelernt hat 8. Es geſchieht, was keiner erwartet hat In aller Frühe trat der Öhi am andern Morgen aus der Hütte und ſchaute ringsum, wie der Tag ſich geſtalten wolle. Auf den hohen Bergspitzen lag ein rötlich-goldener Schein; ein friſcher Wind fing an, die Äſte der Tannen hin und her zu wiegen; die Sonne wollte kommen. Eine Weile noch ſtand der Alte und ſchaute andächtig zu, wie nach den hohen Berggipfeln die grünen Hügel golden zu ſchimmern begannen und dann aus dem Tale leiſe die dunkeln Schatten wichen und ein roſiges Licht hineinfloß und nun Höhen und Tiefen im Morgengolde erglänzten; die Sonne war gekommen. Jetzt holte der Öhi den Rollſtuhl aus dem Schopf heraus, ſtellte ihn, zur Reiſe gerüſtet, vor die Hütte hin und trat dann hinein, um den Kindern zu ſagen, wie ſchön der Morgen erwacht ſei, und ſie herauszuholen. Eben jetzt kam der Peter herangeſtiegen. Seine Geißen kamen nicht zutraulich wie gewohnt an ſeiner Seite und nahe vor und hinter ihm den Berg herauf; ſie ſchoſſen ſcheu umher, dahin und dorthin, denn der Peter hieb alle Augenblicke ohne jede Veranlaſſung um ſich wie ein Wütender, und wo er traf, tat es nicht wohl. Der Peter war auf dem höchſten Punkt des Zornes und der Erbitterung angelangt. Seit Wochen hatte er nie mehr das Heidi für ſich gehabt, ſo wie er's gewohnt war. Kam er am Morgen von unten herauf, ſo wurde ſchon immer das fremde Kind in ſeinem Stuhle herausgetragen, und das Heidi gab ſich mit ihm ab. Kam er am Abend von oben herunter, ſo ſtand noch der Rollſtuhl mit ſeiner Inhaberin unter den Tannen, und das Heidi machte ſich mit ihr zu ſchaffen. Nie war es noch zur Weide hinaufgekommen den ganzen Sommer, und nun heute wollte es kommen, aber mitſamt dem Stuhle und der Fremden darin und wollte die ganze Zeit nur mit dieſer ſich abgeben. Das ſah der Peter voraus, und das hatte ſeinen inneren Grimm auf den höchſten Punkt gebracht. Jetzt erblickte er den Stuhl, der ſo ſtolz da auf ſeinen Rollen ſtand, und ſchaute ihn an wie einen Feind, der ihm alles zuleide getan hatte und heute noch viel mehr tun wollte. Der Peter ſchaute um ſich — alles war ſtill, kein Menſch zu ſehen. Wie ein Wilder ſtürzte er jetzt auf den Stuhl, packte ihn an und ſtieß ihn mit ſo erbitterter Gewalt dem Bergabhange zu, daß der Stuhl förmlich davonflog und augenblicklich verſchwunden war. Jetzt ſtürzte der Peter die Alm hinan, als hätte er ſelber Flügel bekommen, und er ſetzte kein einziges Mal ab, bis er oben zu einem großen Brombeerſtrauch gelangte, hinter dem er verſchwinden konnte, denn er begehrte nicht, daß der Öhi ihn erblickte. Er wollte aber doch gern ſehen, was der Stuhl mache, und der Strauch auf dem Bergvorſprunge war gut gelegen. Der Peter konnte halb verborgen die Alm hinabſchauen und, kam der Öhi zum Vorſchein, hurtig ſich ganz verſtecken. So tat er, und was erſchauten ſeine Blicke! Weit unten ſchon ſtürzte ſein Feind dahin, von immer größerer Gewalt getrieben. Jetzt überſchlug er ſich, wieder und wieder, dann machte er einen hohen Satz, dann ſchlug es ihn wieder auf die Erde nieder, und überſchlagend rollte er ſeinem Verderben entgegen. Schon flogen da und dort die Stücke von ihm weg, Füße, Lehnen, Polſterfetzen, alles hoch in die Luft geworfen. Der Peter empfand eine ſo unbändige Freude an dem Anblick, daß er mit beiden Füßen zugleich in die Luft ſpringen mußte. Er lachte laut auf, er ſtampfte vor Wonne, er ſprang in Sätzen im Kreiſe herum, er kam wieder an denſelben Platz und guckte den Berg hinab. Ein neues Gelächter erſcholl, neue Luftſprünge; der Peter war völlig außer ſich vor Vergnügen über dieſen Untergang ſeines Feindes, denn er ſah lauter gute Dinge vor ſich, die nun kommen würden. Jetzt mußte die Fremde abreiſen, denn ſie hatte kein Mittel mehr, ſich zu bewegen. Das Heidi war wieder allein und kam mit ihm auf die Weide, und am Abend und Morgen war es für ihn da, wenn er kam, und alles war wieder in der alten Ordnung. Aber der Peter bedachte nicht, wie es geht, wenn man eine böſe Tat begangen hat, und was dann nachher kommt. Jetzt kam das Heidi aus der Hütte geſprungen und rannte dem Schopf zu. Hinter ihm her kam der Großvater mit Klara auf dem Arm. Die Schopftür ſtand weit offen, die beiden Bretter daneben waren weggeſtellt, bis in den hinterſten Winkel war es taghell. Das Heidi guckte hin und her, lief um die Ecke, kam wieder zurück, die ungeheuerſte Verwunderung lag auf ſeinem Geſichte. Nun trat der Großvater heran. „Was iſt das? Haſt du den Stuhl weggerollt, Heidi?“ fragte er. „Ich ſuche ihn ja allenthalben, Großvater, und du haſt geſagt, er ſtehe neben der Schopftür“, ſagte das Kind, immer noch nach allen Seiten mit den Augen herumſuchend. Der Wind war unterdeſſen ſtärker geworden; eben klapperte er an der Schopftür herum und warf ſie auf einmal krachend gegen die Wand zurück. „Großvater, der Wind hat's gemacht“, rief das Heidi, und ſeine Augen blitzten auf bei der Entdeckung. „Oh, wenn er den Stuhl bis ins Dörfli hinabgejagt hätte, dann bekäme man ihn erſt viel zu ſpät wieder, und wir könnten gar nicht gehen.“ „Wenn er dort hinuntergerollt iſt, ſo kommt er gar nicht mehr zurück, dann iſt er in hundert Stücken“, ſagte der Großvater, um die Ecke tretend und den Berg hinabſchauend. „Aber kurios iſt's doch zugegangen“, ſetzte er hinzu, indem er auf das Stück zurückſah, das der Stuhl erſt um die Ecke der Hütte herum zu machen hatte. „Oh, wie ſchade, jetzt können wir gar nicht gehen und vielleicht gar nie“, jammerte Klara. „Nun muß ich gewiß heimgehen, wenn ich keinen Stuhl mehr habe. Oh, wie ſchade! Wie ſchade!“ Aber das Heidi ſchaute ganz vertrauensvoll zu ſeinem Großvater auf und ſagte: „Gelt, Großvater, du kannſt ſchon etwas erfinden, daß es nicht ſo geht, wie die Klara meint, und daß ſie nicht auf einmal heim muß?“ „Jetzt gehen wir für diesmal auf die Weide, wie wir uns vorgenommen haben; dann wollen wir ſehen, was weiter kommt“, ſagte der Großvater. Die Kinder jubelten. Er trat nun wieder in die Hütte zurück, holte einen guten Teil der Tücher heraus, legte ſie auf den ſonnigſten Platz an die Hütte hin und ſetzte Klara darauf. Dann holte er den Kindern ihre Morgenmilch und führte Schwänli und Bärli vor den Stall hinaus. „Warum der nur ſo lange nicht von da unten heraufkommt“, ſagte der Öhi vor ſich hin, denn Peters Morgenpfiff war ja noch gar nicht ertönt. Jetzt nahm der Großvater Klara wieder auf den einen Arm, die Tücher auf den andern. „So, nun vorwärts!“ ſagte er vorangehend; „die Geißen kommen mit uns.“ Das war dem Heidi eben recht. Einen Arm um Schwänlis und einen um Bärlis Hals gelegt, wanderte das Heidi hinter dem Großvater her, und die Geißen hatten ſolche Freude, einmal wieder mit dem Heidi auszuziehen, daß ſie es faſt zuſammendrückten zwiſchen ſich vor lauter Zärtlichkeit. Oben auf dem Weideplatze angelangt, ſahen die Kommenden mit einemmal da und dort an den Abhängen die friedlich graſenden Geißen in Gruppen ſtehen und mittendrin den Peter, der Länge nach auf dem Boden liegend. „Ein andermal will ich dir das Vorbeigehen vertreiben, Schlafpelz, was heißt das?“ rief ihm der Öhi zu. Der Peter war bei dem Ton der bekannten Stimme aufgeſchoſſen. „War noch niemand auf“, gab er zurück. „Haſt du etwas von dem Stuhl geſehen?“ frug der Öhi wieder. „Von welchem?“ rief der Peter ſtörriſch zurück. Der Öhi ſagte nichts mehr. Er breitete ſeine Tücher an den ſonnigen Abhang hin, ſetzte Klara darauf und wollte wiſſen, ob's ihr ſo bequem ſei. „So bequem wie im Stuhl“, ſagte ſie dankend, „und am ſchönſten Platz bin ich da. Da iſt's ſo ſchön, Heidi, ſo ſchön!“ rief ſie, rings um ſich blickend, aus. Der Großvater ſchickte ſich zur Rückkehr an. Er ſagte, ſie ſollten ſich's nun wohl ſein laſſen miteinander, und wenn die Zeit da ſei, ſollte Heidi das Mittagsmahl herbeiholen, das er, in den Sack verpackt, drüben in den Schatten gelegt hatte. Dann ſollte der Peter ihnen Milch dazu geben, ſoviel ſie trinken wollten, aber das Heidi ſollte gut aufpaſſen, daß er ſie vom Schwänli nehme. Gegen Abend wollte der Großvater wiederkommen; jetzt wollte er vor allem dem Stuhle nachgehen und ſehen, was aus ihm geworden ſei. Der Himmel war dunkelblau, und um und um war nicht ein einziges Wölkchen zu ſehen. Auf dem großen Schneefelde drüben blitzte es wie von tauſend und tauſend Gold- und Silberſternen. Die grauen Felſenhörner ſtanden hoch und feſt an ihrem Platze, wie vor alter Zeit, und ſchauten ernſthaft ins Tal hinab. Der große Vogel wiegte ſich oben im Blau, und über die Höhen ſtrich der Bergwind hin und wehte kühl rings um die ſonnige Alp. Den Kindern war es unbeſchreiblich wohl. Von Zeit zu Zeit kam ein Geißlein heran und ließ ſich ein wenig nieder bei ihnen; am häufigſten kam das zärtliche Schneehöppli und legte ſein Köpfchen an das Heidi heran und wäre da wohl gar nicht mehr weggegangen, hätte es nicht ein anderes von der Herde wieder vertrieben. So lernte Klara jetzt eine um die andere von den Geißen ſo nahe kennen, daß ſie niemals mehr eine mit der andern verwechſelte, denn jede hatte ja auch ein ganz beſonderes Geſicht und ihre eigene Art. Sie wurden jetzt auch ſo zutraulich zu Klara, daß ſie ihr ganz nahe kamen und ihre Köpfe an ihren Schultern rieben; das war immer das Zeichen ihrer nahen Bekanntſchaft und Zuneigung. So waren ſchon einige Stunden vergangen; da kam es dem Heidi in den Sinn, wenn es doch einmal hinübergehen könnte an den Platz, wo die vielen Blumen waren, und ſehen, ob ſie auch alle offenſtehen und ſo ſchön ſeien wie vor dem Jahr. Erſt am Abend, wenn der Großvater wiederkam, konnte man auch mit Klara hinübergehen, und dann machten die Blumen vielleicht ſchon wieder die Augen zu. Das Verlangen ſtieg immer höher im Heidi, es konnte nicht mehr widerſtehen. Ein wenig zaghaft fragte es: „Wirſt du nicht böſe, Klara, wenn ich geſchwind von dir fortlaufe und du allein ſein mußt? Ich möchte ſo gern ſehen, wie die Blumen ſind. Aber warte...“ Dem Heidi war ein Gedanke gekommen. Es ſprang auf die Seite und riß ein paar ſchöne Büſchel von den grünen Kräutern aus. Dann nahm es das Schneehöppli um den Hals, das ihm gleich zugelaufen war, und führte es der Klara zu. „So, jetzt mußt du doch nicht allein ſein“, ſagte das Heidi, indem es auf ſeinen Platz neben Klara das Schneehöppli ein wenig hindrückte, was das Geißlein gleich gut verſtand und ſich niederlegte. Dann warf Heidi ſeine Blätter der Klara in den Schoß, und dieſe ſagte erfreut, das Heidi ſolle jetzt nur gehen und die Blumen recht anſehen, ſie wolle gern allein mit dem Geißlein bleiben; das hatte ſie ja noch gar nie erlebt. Das Heidi rannte fort, und Klara fing nun an, Blättchen für Blättchen dem Schneehöppli hinzuhalten, und dieſes wurde ſo zutraulich, daß es ſich ganz an ſeine neue Freundin anſchmiegte und die Blättchen ihr langſam aus den Fingern fraß. Man konnte auch gut ſehen, wie wohl es ihm war, daß es da ſo ruhig und friedlich in gutem Schutze liegen durfte, denn draußen bei der Herde hatte es immer viele Verfolgungen auszuſtehen von den großen und ſtarken Geißen. Der Klara kam es ſo köſtlich vor, ſo ganz allein auf einem Berge zu ſitzen, nur mit einem zutraulichen Geißlein, das ganz hilfsbedürftig zu ihr aufſah. Ein großer Wunſch ſtieg auf in ihr, auch einmal ihr eigener Herr zu ſein und einem andern helfen zu können und nicht nur immer ſich von allen anderen helfen laſſen zu müſſen. Und es kamen der Klara jetzt ſo viele Gedanken, die ſie gar nie gehabt hatte, und eine unbekannte Luſt, fortzuleben in dem ſchönen Sonnenſchein und etwas zu tun, mit dem ſie jemand erfreuen konnte, wie ſie jetzt das Schneehöppli erfreute. Eine ganz neue Freude kam ihr ins Herz, ſo als ob alles, was ſie wußte und kannte, auf einmal viel ſchöner und anders ſein könnte, als ſie es bis jetzt geſehen hatte, und es wurde ihr ſo ſchön und wohl zumute, daß ſie das Geißlein um den Hals nehmen und ausrufen mußte: „O Schneehöppli, wie ſchön iſt es hier oben; wenn ich nur immer da bei euch bleiben könnte!“ Das Heidi war unterdeſſen an dem Blumenplatze angekommen. Es ſtieß einen Freudenſchrei aus. Von leuchtendem Golde bedeckt lag die ganze Halde da. Das waren die ſchimmernden Ziſtröschen. Dichte, dunkelblaue Büſche von Glockenblumen wiegten ſich darüber, und ein ſo ſtarker gewürziger Duft wogte um die ſonnige Halde, als wären die köſtlichſten Balſamſchalen da oben ausgeſchüttet worden. Der ganze Wohlgeruch kam aber von den kleinen braunen Kolbenblümchen her, die ihre runden Köpfchen da und dort beſcheiden zwiſchen den Goldkelchen emporſtreckten. Das Heidi ſtand und ſchaute und zog den ſüßen Duft in langen Zügen ein. Auf einmal kehrte es um und kam außer Atem vor Erregung zu Klara zurück. „Oh, du mußt gewiß kommen“, rief es ihr ſchon von weitem zu. „Sie ſind ſo ſchön, und alles iſt ſo ſchön, und am Abend iſt es vielleicht nicht mehr ſo. Ich kann dich vielleicht tragen, meinſt du nicht?“ Klara ſchaute das erregte Heidi mit Verwunderung an; ſie ſchüttelte aber den Kopf. „Nein, nein, was denkſt du, Heidi; du biſt ja viel kleiner als ich. Oh, wenn ich nur gehen könnte!“ Jetzt ſchaute das Heidi ſuchend um ſich, es mußte etwas Neues im Sinne haben. Dort oben, wo der Peter vorher auf dem Boden gelegen hatte, ſaß er jetzt und ſtarrte auf die Kinder herunter. So hatte er ſchon ſeit Stunden geſeſſen und immerzu herabgeſtarrt, ſo als könne er nicht faſſen, was er vor ſich ſah. Er hatte den feindlichen Stuhl zerſtört, damit alles aufhören und die Fremde ſich gar nicht mehr bewegen könne, und eine kurze Weile nachher erſchien ſie da oben und ſaß vor ihm auf dem Boden neben dem Heidi. Das konnte ja nicht ſein, und doch war es immer noch ſo, er konnte hinſehen, wann er wollte. Jetzt ſchaute das Heidi zu ihm auf. „Komm hier herunter, Peter!“ rief es ſehr beſtimmt. „Komme nicht“, rief er zurück. „Doch, du mußt; komm, ich kann es nicht allein machen, du mußt mir helfen; komm ſchnell!“ drängte das Heidi. „Komme nicht“, ertönte es wieder. Jetzt ſprang das Heidi eine kleine Strecke den Berg hinan, dem Angeredeten entgegen. Da ſtand es mit flammenden Augen und rief hinauf: „Peter, wenn du nicht auf der Stelle kommſt, ſo will ich dir auch etwas machen, das du dann gewiß nicht gern haſt; das kannſt du glauben!“ Dieſe Worte gaben dem Peter einen Stich, und eine große Angſt packte ihn an. Er hatte etwas Böſes getan, das kein Menſch wiſſen ſollte. Bis jetzt hatte es ihn gefreut, aber nun redete das Heidi, wie wenn es alles wüßte, und was es wußte, ſagte es alles ſeinem Großvater, und vor dem fürchtete der Peter ſich ja wie vor keinem andern. Wenn er nun vernähme, was mit dem Stuhl vorgegangen war! Den Peter würgte die Angſt immer ärger. Er ſtand auf und kam dem wartenden Heidi entgegen. „Ich komme, aber dann mußt du das nicht machen“, ſagte er, ſo zahm vor Furcht, daß das Heidi ganz mitleidig wurde. „Nein, nein, das tu ich nun ſchon nicht“, verſicherte es. „Komm jetzt nur mit mir, es iſt nichts zum Fürchten, was du tun mußt.“ Bei Klara angelangt, ordnete nun das Heidi an, auf der einen Seite ſollte der Peter, auf der andern wollte es ſelbſt Klara feſt unter den Arm faſſen und aufheben. Das ging nun ziemlich gut, aber jetzt kam das Schwierigere. Klara konnte ja nicht ſtehen, wie ſollte man ſie nun feſthalten und vorwärts bringen? Das Heidi war zu klein, um ihr mit ſeinem Arm eine Stütze zu bieten. „Du mußt mich jetzt um den Hals nehmen, ganz feſt, ſo. Und den Peter mußt du am Arm nehmen und ganz feſt darauf drücken, dann können wir dich tragen.“ Aber der Peter hatte noch nie jemandem den Arm gegeben. Klara umfaßte dieſen wohl, der Peter aber hielt ihn ganz ſteif am Leibe herunter wie einen langen Stecken. „So macht man es nicht, Peter“, ſagte das Heidi ſehr beſtimmt. „Du mußt mit dem Arm einen Ring machen, und dann muß die Klara mit dem ihrigen durchfahren, und dann muß ſie ganz feſt aufdrücken, und du mußt um keinen Preis nachgeben, dann kommen wir ſchon vorwärts.“ Das wurde nun ſo ausgeführt. Man kam aber nicht gut vorwärts. Klara war nicht ſo leicht, und das Geſpann zu ungleich in der Größe. Auf der einen Seite ging es herab und auf der andern hinauf, das gab eine ziemliche Unſicherheit in den Stützen. Klara probierte es abwechſelnd ein wenig mit den eigenen Füßen, zog aber einen nach dem andern immer bald wieder zurück. „Stampf einmal recht herunter“, ſchlug das Heidi vor, „dann tut es dir gewiß nachher weniger weh.“ „Meinſt du?“ ſagte Klara zaghaft. Sie gehorchte aber und wagte einen feſten Schritt auf den Boden und dann mit dem zweiten Fuß; ſie ſchrie aber ein wenig auf dabei. Dann hob ſie den einen wieder und ſetzte ihn leiſer hin. „Oh, das hat ſchon viel weniger weh getan“, ſagte ſie voller Freude. „Mach's noch einmal“, drängte eifrig das Heidi. Klara tat es und dann noch einmal und noch einmal, und auf einmal ſchrie ſie auf: „Ich kann, Heidi! Oh, ich kann! Sieh! Sieh! Ich kann Schritte machen, einen nach dem andern.“ Jetzt jauchzte das Heidi noch viel mehr auf. „Oh! Oh! Kannſt du gewiß ſelbſt Schritte machen? Kannſt du jetzt gehen? Kannſt du gewiß ſelbſt gehen? Oh, wenn nur der Großvater käme! Jetzt kannſt du ſelbſt gehen, Klara, jetzt kannſt du gehen!“ rief es ein Mal ums andere in jubelnder Freude aus. Klara hielt ſich wohl feſt an auf beiden Seiten, aber mit jedem Schritt wurde ſie ein wenig ſicherer, das konnten alle drei empfinden. Das Heidi kam ganz außer ſich vor Freude. „Oh, nun können wir alle Tage miteinander auf die Weide gehen und auf der Alp herum, wo wir wollen“, rief es wieder aus, „und du kannſt dein Lebtag gehen, wie ich, und mußt nie mehr im Stuhl geſtoßen werden und wirſt geſund. Oh, das iſt die größte Freude, die wir haben können!“ Klara ſtimmte mit dem ganzen Herzen ein. Gewiß kannte ſie gar kein größeres Glück auf der Welt, als auch einmal geſund zu ſein und herumgehen zu können wie die anderen Menſchen und nicht mehr elend die ganzen Tage lang in den Krankenſeſſel gebannt zu ſein. Es war nicht weit zu der Blumenhalde hinüber. Dort ſah man ſchon das Glitzern der Goldröschen in der Sonne. Jetzt waren ſie bei den Büſchen der blauen Glockenblumen angekommen, wo zwiſchendurch der ſonnige Boden ſo einladend ausſah. „Können wir nicht hier niederſetzen?“ fragte Klara. Das war ganz nach Heidis Wunſch, und mitten in die Blumen hinein ſetzten ſich die Kinder, Klara zum erſtenmal, auf den trockenen, warmen Alpenboden hin; das gefiel ihr unbeſchreiblich wohl. Und nun rings um ſie die wiegenden blauen Glockenblumen, die ſchimmernden Goldröschen, das rote Tauſendgüldenkraut und um und um der ſüße Duft der braunen Kolbenblümchen, der würzigen Prünellen. Alles war ſo ſchön! So ſchön! Auch das Heidi neben ihr meinte, ſo ſchön ſei es noch nie geweſen da oben, und es wußte gar nicht, warum es eine ſolche Freude im Herzen hatte, daß es nur immer hätte laut jauchzen mögen. Aber auf einmal kam es ihm dann wieder in den Sinn, daß Klara geſund geworden war; das war zu allem Schönen ringsumher noch die allergrößte Freude. Klara wurde ganz ſtill vor Wonne und Entzücken über alles, was ſie ſah, und über alle die Ausſichten, die ihr aufgegangen waren durch das eben Erlebte. Das große Glück hatte faſt nicht Platz in ihrem Herzen, und der Sonnenglanz und Blumenduft dazu überwältigten ſie mit einem Wonnegefühl, das ſie völlig verſtummen machte. Auch der Peter lag ſtill und regungslos mitten in dem Blumenfelde, denn er war feſt eingeſchlafen. Leiſe und lieblich wehte hier der Wind hinter den ſchützenden Felſen hervor und ſäuſelte oben in den Büſchen. Von Zeit zu Zeit mußte das Heidi wieder aufſtehen und dahin laufen und dorthin, denn es war immer irgendwo noch ſchöner, die Blumen noch dichter, der Wohlgeruch noch ſtärker, weil ihn da der Wind hin und her wehte; überall mußte es wieder hinſetzen. So vergingen die Stunden. Die Sonne war längſt über den Mittag hinaus, als ein Trüppchen der Geißen ganz ernſthaft auf die Blumenhalde zugeſchritten kam. Es war nicht ihr Weideplatz, ſie wurden nie dahin geführt, denn es gefiel ihnen nicht, in den Blumen zu graſen. Sie ſahen aus wie eine Geſandtſchaft, der Diſtelfink voran. Die Geißen waren ſichtlich ausgegangen, ihre Geſellſchafter zu ſuchen, die ſie ſo lange im Stich gelaſſen hatten und über alle Ordnung hinaus fortgeblieben waren, denn die Geißen kannten ihre Zeit wohl. Als der Diſtelfink die drei Vermißten in dem Blumenfelde entdeckte, ſtieß er ein überlautes Meckern aus, und auf der Stelle ſtimmte der ganze Chor ein, und fortmeckernd kamen ſie alle dahergetrabt. Jetzt erwachte der Peter. Er mußte ſich aber ſtark die Augen reiben, denn es hatte ihm geträumt, der Rollſtuhl ſtehe wieder ſchön rot gepolſtert und unverſehrt vor der Hütte, und noch im Erwachen hatte er die goldenen Nägel um das Polſter herum in der Sonne blitzen geſehen, aber jetzt entdeckte er, daß es nur die gelben Glitzerblümchen auf dem Boden geweſen waren. Jetzt kam dem Peter die Angſt zurück, die er beim Anblick des unbeſchädigten Stuhles ganz verloren hatte. Wenn auch das Heidi verſprochen hatte, nichts zu machen, ſo war doch nun die Furcht im Peter lebendig geworden, die Sache könnte auch ſonſt noch auskommen. Er ließ ſich jetzt ganz zahm und willig zum Führer machen und tat alles perfekt ſo, wie das Heidi es haben wollte. Als nun wieder alle drei auf dem Weideplatz angekommen waren, holte das Heidi hurtig ſeinen vollen Speiſeſack herbei und ſchickte ſich an, ſein Verſprechen zu löſen, denn auf den Inhalt des Sackes hatte ſeine Drohung ſich bezogen. Es hatte wohl bemerkt am Morgen, wieviel gute Sachen der Großvater da hineinpackte, und mit Freuden hatte es vorausgeſehen, daß dem Peter davon ein guter Teil zufallen werde. Als er dann aber ſo ſtörrig war, wollte es ihm zu verſtehen geben, daß er nichts bekomme, was der Peter aber anders gedeutet hatte. Nun holte das Heidi Stück für Stück aus ſeinem Sack heraus und machte drei Häufchen davon, die wurden ſo hoch, daß es voller Befriedigung vor ſich hinſagte: „Dann bekommt er noch alles, was wir zuviel haben.“ Jetzt trug es jedem ſein Häufchen zu, und mit dem ſeinigen ſetzte es ſich neben Klara hin, und die Kinder ließen ſich's wohl ſchmecken nach der großen Anſtrengung. Es ging aber, wie das Heidi vorausgeſehen hatte: Als ſie beide völlig ſatt waren, blieb noch ſo viel übrig, daß dem Peter noch einmal ein Häufchen, ſo groß wie das erſte, zugeſchoben werden konnte. Er aß ſtill und beharrlich alles auf und dann noch die Krumen, aber er vollzog ſein Werk nicht mit der gewohnten Befriedigung. Dem Peter lag etwas auf dem Magen, das nagte und würgte ihn und klemmte ihm jeden Biſſen zuſammen. Die Kinder waren ſo ſpät zu ihrer Mahlzeit gekommen, daß ſchon gleich nachher der Großvater zu ſehen war, der die Alm hinanſtieg, um ſie abzuholen. Das Heidi ſtürzte ihm entgegen; es mußte ihm zuerſt ſagen, was ſich ereignet hatte. Es war indes ſo erregt von ſeiner beglückenden Nachricht, daß es die Worte faſt nicht fand, ſie dem Großvater mitzuteilen. Er verſtand aber ſogleich, was das Kind berichtete, und eine helle Freude kam auf ſein Geſicht. Er beſchleunigte ſeinen Schritt, und bei Klara angekommen, ſagte er fröhlich lächelnd: „So, haben wir's gewagt? Nun haben wir's auch gewonnen!“ Dann hob er Klara vom Boden auf, umfaßte ſie mit dem linken Arm und hielt ihr ſeine Rechte als ſtarke Stütze für ihre Hand hin, und Klara marſchierte, mit der feſten Wand im Rücken, noch viel ſicherer und unerſchrockener dahin, als ſie vorher getan hatte. Das Heidi hüpfte und jauchzte nebenher, und der Großvater ſah aus, als ſei ihm ein großes Glück widerfahren. Jetzt nahm er aber Klara mit einemmal auf ſeinen Arm und ſagte: „Wir wollen's nicht übertreiben, es iſt auch Zeit zur Heimkehr“, und er machte ſich gleich auf den Weg, denn er wußte, daß nun der Anſtrengungen für heute genug waren und Klara der Ruhe bedurfte. Als der Peter ſpät am Abend mit ſeinen Geißen nach dem Dörfli herunter kam, ſtand eine Menge von Leuten an einem Knäuel zuſammen, und eins ſtieß das andere ein wenig weg, um beſſer ſehen zu können, was mittendrin am Boden lag. Das mußte der Peter auch ſehen; er drückte und drängte rechts und links und bohrte ſich hinein. Da, jetzt ſah er's. Auf dem Graſe lag das Mittelſtück vom Rollſtuhl, und noch ein Teil des Rückens hing daran. Das rote Polſter und die glänzenden Nägel zeugten noch davon, wie prächtig der Stuhl in ſeiner Vollkommenheit ausgeſehen hatte. „Ich war dabei, als ſie ihn hinauftrugen“, ſagte der Bäcker, der neben dem Peter ſtand; „wenigſtens 500 Franken war er wert, das wett ich mit jedem. Es nimmt mich nur wunder, wie es zugegangen iſt.“ „Der Wind kann ihn heruntergejagt haben, das hat der Öhi ſelbſt geſagt“, bemerkte die Barbel, die nicht genug das ſchöne rote Zeug bewundern konnte. „Es iſt gut, daß es kein anderer iſt, der's getan hat“, ſagte der Bäcker wieder; „dem ging's ſchön! Wenn es der Herr in Frankfurt vernimmt, wird er ſchon unterſuchen laſſen, wie's zugegangen iſt. Ich für mich bin froh, daß ich ſeit zwei Jahren nie mehr auf der Alm war; der Verdacht kann auf jeden fallen, der um die Zeit dort oben geſehen wurde.“ Es wurden noch viele Meinungen ausgeſprochen, aber der Peter hatte genug gehört. Er kroch ganz zahm und ſachte aus dem Knäuel heraus und lief aus allen Kräften den Berg hinauf, ſo als wäre einer hinter ihm drein, der ihn packen wollte. Die Worte des Bäckers hatten ihm eine furchtbare Angſt eingejagt. Er wußte ja jetzt, daß jeden Augenblick ein Polizeidiener aus Frankfurt ankommen konnte, der die Sache unterſuchen mußte, und dann konnte es doch rauskommen, daß er es getan hatte, und dann würden ſie ihn packen und nach Frankfurt ins Zuchthaus ſchleppen. Das ſah der Peter vor ſich, und ſeine Haare ſträubten ſich vor Schrecken. Ganz verſtört kam er daheim an. Er gab keine Antwort, auf gar nichts, er wollte ſeine Kartoffeln nicht eſſen; eilends kroch er in ſein Bett hinein und ſtöhnte. „Der Peterli hat wieder Sauerampfer gegeſſen, er hat's im Magen, daß er ſo ächzen muß“, meinte die Mutter Brigitte. „Du mußt ihm ein wenig mehr Brot mitgeben, gib ihm morgen noch ein Stücklein von dem meinen“, ſagte die Großmutter mitleidig. Als die Kinder heute von ihren Betten in den Sternenſchein hinausſchauten, ſagte das Heidi: „Haſt du nicht heut den ganzen Tag denken müſſen, wie gut es doch iſt, daß der liebe Gott nicht nachgibt, wenn wir noch ſo furchtbar ſtark beten um etwas, wenn er etwas viel Beſſeres weiß?“ „Warum ſagſt du das jetzt auf einmal, Heidi?“ fragte Klara. „Weißt du, weil ich in Frankfurt ſo ſtark gebetet habe, daß ich doch auf der Stelle heimgehen könne, und weil ich das immer nicht konnte, habe ich gedacht, der liebe Gott habe nicht zugehört. Aber weißt du, wenn ich ſo bald fortgelaufen wäre, ſo wäreſt du nie gekommen, und du wäreſt nicht geſund geworden auf der Alp.“ Klara war ganz nachdenklich geworden. „Aber, Heidi“, fing ſie nun wieder an, „dann müßten wir ja um gar nichts beten, weil der liebe Gott ja ſchon immer etwas viel Beſſeres im Sinn hat, als wir wiſſen und wir von ihm erbitten wollen.“ „Ja, ja, Klara, meinſt du, es gehe dann nur ſo?“ eiferte jetzt das Heidi. „Alle Tage muß man zum lieben Gott beten und um alles, alles, denn er muß doch hören, daß wir es nicht vergeſſen, daß wir alles von ihm bekommen. Und wenn wir den lieben Gott vergeſſen wollen, ſo vergißt er uns auch, das hat die Großmama geſagt. Aber weißt du, wenn wir dann nicht bekommen, was wir gern hätten, dann müſſen wir nicht denken, der liebe Gott hat nicht zugehört, und ganz aufhören zu beten, ſondern dann müſſen wir ſo beten: Jetzt weiß ich ſchon, lieber Gott, daß du etwas Beſſeres im Sinn haſt, und jetzt will ich nur froh ſein, daß du es ſo gut machen willſt.“ „Wie iſt dir das alles ſo in den Sinn gekommen, Heidi?“ fragte Klara. „Die Großmama hat mir's zuerſt erklärt, und dann iſt es auch ſo gekommen, und dann hab ich's gewußt. Aber ich meine auch, Klara“, fuhr das Heidi fort, indem es ſich aufſetzte, „heute müſſen wir gewiß dem lieben Gott noch recht danken, daß er das große Glück geſchickt hat, daß du jetzt gehen kannſt.“ „Ja gewiß, Heidi, du haſt recht, und ich bin froh, daß du mich noch erinnerſt; vor lauter Freude hätte ich es faſt vergeſſen.“ Jetzt beteten die Kinder noch und dankten dem lieben Gott jedes in ſeiner Weiſe für das herrliche Gut, das er der ſo lange krank geweſenen Klara geſchenkt hatte. Am andern Morgen meinte der Großvater, nun könnte man einmal an die Frau Großmama ſchreiben, ob ſie nicht jetzt nach der Alp kommen wolle, es wäre da etwas Neues zu ſehen. Aber die Kinder hatten einen andern Plan gemacht. Sie wollten der Großmama eine große Überraſchung bereiten. Erſt ſollte Klara das Gehen noch beſſer lernen, ſo daß ſie, allein auf das Heidi geſtützt, einen kleinen Gang machen könnte; von allem aber müßte die Großmama keine Ahnung haben. Nun wurde der Großvater beraten, wie lange das noch währen könnte, und da er meinte, kaum acht Tage, ſo wurde im nächſten Briefe die Großmama dringend eingeladen, um dieſe Zeit auf die Alp zu kommen; von etwas Neuem wurde ihr aber kein Wort berichtet. Die Tage, die nun folgten, waren noch von den allerſchönſten, welche Klara auf der Alp verlebt hatte. Jeden Morgen erwachte ſie mit der lauten Freudenſtimme in ihrem Herzen: „Ich bin geſund! Ich bin geſund! Ich muß nicht mehr im Rollſtuhl ſitzen, ich kann ſelbſt umhergehen wie die anderen Menſchen!“ Dann folgte das Umhergehen, und jeden Tag ging es leichter und beſſer, und immer längere Gänge konnten gemacht werden. Die Bewegung brachte dann einen ſolchen Appetit mit ſich, daß der Großvater ſeine dicken Butterſchnitten täglich ein wenig größer machte und mit Wohlgefallen ſah, wie ſie verſchwanden. Er brachte jetzt auch immer einen großen Topf voll von der ſchäumenden Milch herbei und füllte Schüſſelchen um Schüſſelchen. So kam das Ende der Woche heran und damit der Tag, der die Großmama bringen ſollte! 9. Es wird Abſchied genommen, aber auf Wiederſehen