Johanna Spyri: Heidi kann brauchen, was es gelernt hat 6. Die fernen Freunde regen ſich Der Mai war gekommen. Von allen Höhen ſtrömten die vollen Frühlingsbäche ins Tal herab. Ein warmer, lichter Sonnenſchein lag auf der Alp. Sie war wieder grün geworden; der letzte Schnee war weggeſchmolzen, und von den lockenden Sonnenſtrahlen geweckt, guckten ſchon die erſten Blümchen mit ihren hellen Augen aus dem friſchen Graſe heraus. Droben rauſchte der fröhliche Frühlingswind durch die Tannen und ſchüttelte ihnen die alten, dunkeln Nadeln fort, daß die jungen, hellgrünen herauskommen und die Bäume herrlich ſchmücken konnten. Hoch oben ſchwang wieder der alte Raubvogel ſeine Flügel in den blauen Lüften, und rings um die Almhütte lag der goldene Sonnenſchein warm am Boden und trocknete die letzten feuchten Stellen auf, daß man wieder hinſetzen konnte, wo man nur wollte. Das Heidi war wieder auf der Alp. Es ſprang dahin und dorthin und wußte gar nicht, wo es am ſchönſten war. Jetzt mußte es dem Winde lauſchen, wie er tief und geheimnisvoll oben von den Felſen herunterſauſte, immer näher und immer mächtiger, und jetzt ſchoß er in die Tannen und rüttelte und ſchüttelte ſie, und es war, als jauchze er vor Vergnügen, und das Heidi mußte auch aufjauchzen und wurde dabei hin und her geblaſen wie ein Blättlein. Dann lief es wieder auf das ſonnige Plätzchen vor der Hütte und ſetzte ſich auf den Boden und guckte in das kurze Gras hinein, zu entdecken, wie viele kleine Blumenkelche ſich öffnen wollten oder ſchon offen waren. Da hüpften und krochen und tanzten auch ſo viele luſtige Mücken und Käferchen in der Sonne herum und freuten ſich, und das Heidi freute ſich mit ihnen und ſog den Frühlingsduft, der aus dem friſch erſchloſſenen Boden emporſtieg, in langen Zügen ein und meinte, ſo ſchön ſei es noch nie auf der Alp geweſen. Den tauſend kleinen Tierlein mußte es ſo wohl ſein wie ihm, denn es war gerade, als ſummten und ſängen ſie in heller Freude alle durcheinander: „Auf der Alp! Auf der Alp! Auf der Alp!“ Vom Schopf hinter der Hütte hervor ertönte es hie und da wie ein eifriges Klopfen und Sägen, und das Heidi lauſchte auch einmal dorthin, denn das waren die alten, heimatlichen Töne, die es ſo gut kannte, die von Anfang an zum Leben auf der Alp gehört hatten. Jetzt mußte es aufſpringen und auch einmal dorthin rennen, denn es mußte doch wiſſen, was beim Großvater vorging. Vor der Schopftür ſtand ſchon fix und fertig ein ſchöner neuer Stuhl, und am zweiten arbeitete der Großvater mit geſchickter Hand. „Oh, ich weiß ſchon, was das gibt“, rief das Heidi in Freuden aus. „Das iſt nötig, wenn ſie von Frankfurt kommen. Der iſt für die Großmama und der, den du jetzt machſt, für die Klara, und dann... dann muß noch einer ſein“, fuhr das Heidi zögernd fort, „oder glaubſt du nicht, Großvater, daß Fräulein Rottenmeier auch mitkommt?“ „Das kann ich nun nicht ſagen“, meinte der Großvater, „aber es iſt ſicherer, einen Stuhl bereit zu haben, daß wir ſie zum Sitzen einladen können, wenn ſie kommt.“ Das Heidi ſchaute nachdenklich auf die hölzernen Stühlchen ohne Lehne hin und machte ſtill ſeine Betrachtungen darüber, wie Fräulein Rottenmeier und ein ſolches Stühlchen zuſammenpaſſen würden. Nach einer Weile ſagte es, bedenklich den Kopf ſchüttelnd: „Großvater, ich glaube nicht, daß ſie darauf ſitzt.“ „Dann laden wir ſie auf das Kanapee mit dem ſchönen grünen Raſenüberzug ein“, entgegnete ruhig der Großvater. Als das Heidi noch nachſann, wo das ſchöne Kanapee mit dem grünen Raſenüberzug ſei, erſcholl plötzlich von oben her ein Pfeifen und Rufen und Rutenſchwingen durch die Luft, daß das Heidi ſofort wußte, woran es war. Es ſchoß hinaus und war augenblicklich von den herabſpringenden Geißen umringt. Denen mußte es wohl ſein, wie es dem Heidi war, wieder auf der Alp zu ſein, denn ſie machten ſo hohe Sprünge und meckerten ſo lebensluſtig wie noch nie, und das Heidi wurde dahin und dorthin gedrängt, denn jede wollte ihm zunächſt kommen und ihre Freude bei ihm auslaſſen. Aber der Peter ſtieß ſie alle weg, eine rechts und die andere links, denn er hatte dem Heidi eine Botſchaft zu überbringen. Als er zu ihm vorgedrungen war, hielt er ihm einen Brief entgegen. „Da!“ ſagte er, die weitere Erklärung der Sache dem Heidi ſelbſt überlaſſend. Es war ſehr erſtaunt. „Haſt du denn auf der Weide einen Brief für mich bekommen?“ fragte es voller Verwunderung. „Nein“, war die Antwort. „Ja, wo haſt du ihn denn genommen, Peter?“ „Aus dem Brotſack.“ Das war richtig. Geſtern abend hatte der Poſtbeamte im Dörfli ihm den Brief an das Heidi mitgegeben. Den hatte der Peter in den leeren Sack gelegt. Am Morgen hatte er ſeinen Käſe und ſein Stück Brot darauf gepackt und war ausgezogen. Den Öhi und das Heidi hatte er wohl geſehen, als er ihre Geißen abholte, aber erſt als er um Mittag mit Brot und Käſe zu Ende war und noch die Krumen herausholen wollte, war der Brief wieder in ſeine Hand gekommen. Das Heidi las aufmerkſam ſeine Adreſſe ab, dann ſprang es zum Großvater in den Schopf zurück und ſtreckte ihm in hoher Freude den Brief entgegen: „Von Frankfurt! Von der Klara! Willſt du ihn gleich hören, Großvater?“ Das wollte dieſer ſchon gern, und auch der Peter, der dem Heidi gefolgt war, ſchickte ſich zum Zuhören an. Er ſtemmte ſich mit dem Rücken gegen den Türpfoſten an, um einen feſten Halt zu haben, denn ſo war es leichter, dem Heidi nachzukommen, wie es nun ſeinen Brief herunterlas: Liebes Heidi! Wir haben ſchon alles verpackt, und in zwei oder drei Tagen wollen wir abreiſen, ſobald Papa auch abreiſt, aber nicht mit uns, er muß zuerſt noch nach Paris reiſen. Alle Tage kommt der Herr Doktor und ruft ſchon unter der Tür: „Fort! Fort! Auf die Alp!“ Er kann es gar nicht erwarten, daß wir gehen. Du ſollteſt nur wiſſen, wie gern er ſelbſt auf der Alp war! Den ganzen Winter iſt er faſt jeden Tag zu uns gekommen; dann ſagte er immer, er komme zu mir, er müſſe mir wieder erzählen! Dann ſetzte er ſich zu mir hin und erzählte von allen Tagen, die er mit Dir und dem Großvater auf der Alp zugebracht hat, und von den Bergen und den Blumen und von der Stille ſo hoch oben über allen Dörfern und Straßen und von der friſchen, herrlichen Luft; und er ſagte oft: „Dort oben müſſen alle Menſchen wieder geſund werden.“ Er iſt auch ſelbſt wieder ſo anders geworden, als er eine Zeitlang war, ganz jung und fröhlich ſieht er wieder aus. Oh, wie freu ich mich, das alles zu ſehen und bei Dir auf der Alp zu ſein und auch den Peter und die Geißen kennenzulernen! Erſt muß ich in Ragaz etwa ſechs Wochen lang eine Kur machen, das hat der Herr Doktor befohlen, und dann ſollen wir im Dörfli wohnen nachher, und ich ſoll dann an ſchönen Tagen auf die Alp hinaufgefahren werden in meinem Stuhl und den Tag über bei Dir bleiben. Die Großmama kommt mit und bleibt bei mir; ſie freut ſich auch, zu Dir hinaufzukommen. Aber denk, Fräulein Rottenmeier will nicht mit. Faſt jeden Tag ſagt die Großmama einmal: „Wie iſt's mit der Schweizerreiſe, werte Rottenmeier? Genieren Sie ſich nicht, wenn Sie Luſt haben mitzukommen.“ Aber ſie dankt immer furchtbar höflich und ſagt, ſie wolle nicht unbeſcheiden ſein. Aber ich weiß ſchon, woran ſie denkt: Der Sebaſtian hat eine ſo erſchreckliche Beſchreibung von der Alp gemacht, als er von Deinem Begleit nach Hauſe kam, wie furchtbare Felſen dort herunterſtarren und man überall in Klüfte und Abgründe niederſtürzen könne und daß es ſo ſteil hinaufgehe, daß man auf jedem Tritt befürchten müſſe, wieder rücklings herunterzukommen, und daß wohl Ziegen, aber keine Menſchen ohne Lebensgefahr da hinaufklettern können. Sie hat ſehr geſchaudert vor dieſer Beſchreibung, und ſeither ſchwärmt ſie nicht mehr für Schweizerreiſen wie früher. Der Schrecken iſt auch in die Tinette gefahren, ſie will auch nicht mit. So kommen wir allein, Großmama und ich; nur Sebaſtian muß uns bis nach Ragaz begleiten, dann kann er wieder heimkehren. Ich kann es faſt nicht erwarten, bis ich zu Dir kommen kann. Lebe wohl, liebes Heidi, die Großmama läßt Dich tauſendmal grüßen. Deine treue Freundin Klara. Als der Peter dieſe Worte vernommen hatte, ſprang er von dem Türpfoſten weg und hieb mit ſeiner Rute nach rechts und links ſo rückſichtslos und wütend drein, daß die Geißen alle im höchſten Schrecken die Flucht ergriffen und den Berg hinunterrannten in ſo maßloſen Sprüngen, wie ſie noch ſelten gemacht hatten. Hinter ihnen her ſtürmte der Peter und hieb mit ſeiner Rute in die Luft hinein, als habe er an einem unſichtbaren Feinde einen unerhörten Grimm auszulaſſen. Dieſer Feind war die Ausſicht auf die Ankunft der Gäſte aus Frankfurt, welche den Peter ſo ſehr erbittert hatte. Das Heidi war ſo voller Glück und Freude, daß es durchaus am andern Tage der Großmutter einen Beſuch machen und ihr alles erzählen mußte, wer nun von Frankfurt kommen und beſonders auch, wer nicht kommen werde. Das mußte für die Großmutter ja von der größten Wichtigkeit ſein, denn ſie kannte die Perſonen alle ſo genau und lebte mit dem Heidi alles, was zu ſeinem Leben gehörte, immerfort mit der tiefſten Teilnahme durch. Es zog auch beizeiten aus am folgenden Nachmittag, denn jetzt konnte es ſeine Beſuche ſchon wieder allein unternehmen: Die Sonne ſchien ja wieder hell und blieb lange am Himmel ſtehen, und über den trockenen Boden hin war es ein herrliches Bergabrennen, während der luſtige Maiwind hinterherſauſte und das Heidi noch ein wenig ſchneller hinunterjagte. Die Großmutter lag nicht mehr zu Bett. Sie ſaß wieder in ihrer Ecke und ſpann. Es lag aber ein Ausdruck auf ihrem Geſicht, als habe ſie es mit ſchweren Gedanken zu tun. Das war ſo ſeit geſtern abend, und die ganze Nacht durch hatten dieſe Gedanken ſie verfolgt und nicht ſchlafen laſſen. Der Peter war in ſeinem großen Grimm heimgekommen, und ſie hatte aus ſeinen abgebrochenen Ausrufungen entnehmen können, daß eine Schar von Leuten aus Frankfurt nach der Almhütte hinaufkommen werde. Was dann weiter geſchehen ſollte, wußte er nicht, aber die Großmutter mußte weiterdenken, und das waren gerade die Gedanken, die ſie ängſtigten und ihr den Schlaf genommen hatten. Jetzt ſprang das Heidi herein und gerade auf die Großmutter zu, ſetzte ſich auf ſein Schemelchen, das immer daſtand, und erzählte ihr mit einem ſolchen Eifer alles, was es wußte, daß es ſelbſt noch immer mehr davon erfüllt wurde. Aber auf einmal hörte es mitten in ſeinem Satze auf und fragte beſorgt: „Was haſt du, Großmutter, freut dich alles gar kein bißchen?“ „Doch, doch, Heidi, es freut mich ſchon für dich, weil du eine ſo große Freude daran haben kannſt“, antwortete ſie und ſuchte ein wenig fröhlich auszuſehen. „Aber Großmutter, ich kann ganz gut ſehen, daß es dir angſt iſt. Meinſt du etwa, Fräulein Rottenmeier komme doch noch mit?“ fragte das Heidi, ſelber etwas ängſtlich. „Nein, nein! Es iſt nichts, es iſt nichts!“ beruhigte die Großmutter. „Gib mir ein wenig deine Hand, Heidi, daß ich recht ſpüren kann, daß du noch da biſt. Es wird ja doch zu deinem Beſten ſein, wenn ich es auch faſt nicht überleben kann.“ „Ich will nichts von dem Beſten, wenn du es faſt nicht überleben kannſt, Großmutter“, ſagte das Heidi ſo beſtimmt, daß dieſer mit einemmal eine neue Befürchtung aufſtieg. Sie mußte ja annehmen, daß die Leute aus Frankfurt kämen, das Heidi wiederzuholen, denn da es nun wieder geſund war, konnte es ja nicht anders ſein, als daß ſie es wiederhaben wollten. Das war die große Angſt der Großmutter. Aber ſie fühlte jetzt, daß ſie es vor dem Heidi nicht merken laſſen ſollte. Es war ja ſo mitleidig mit ihr, und da könnte es ſich vielleicht widerſetzen und nicht gehen wollen, und das durfte nicht ſein. Sie ſuchte nach einer Hilfe, aber nicht lange, denn ſie kannte nur eine. „Ich weiß etwas, Heidi“, ſagte ſie nun, „das macht mir wohl und bringt mir die guten Gedanken wieder. Lies mir das Lied, wo es gleich im Anfang heißt: ‚Gott will's machen.‘“ Das Heidi wußte jetzt ſo gut Beſcheid in dem alten Liederbuch, daß es auf der Stelle fand, was die Großmutter begehrte, und es las mit hellem Ton: „Gott will's machen, // Daß die Sachen // Gehen, wie es heilſam iſt. // Laß die Wellen // Immer ſchwellen, // Denk, wie du ſo ſicher biſt!“ „Ja, ja, das iſt's grad, was ich hören mußte“, ſagte die Großmutter erleichtert, und der Ausdruck der Bekümmernis verſchwand aus ihrem Geſichte. Das Heidi ſchaute ſie nachdenklich an, dann ſagte es: „Gelt, Großmutter, ‚heilſam‘ heißt, wenn alles heilt, daß es einem wieder ganz wohl wird?“ „Ja, ja, ſo wird's ſein“, nickte bejahend die Großmutter, „und weil der liebe Gott es ſo machen will, ſo kann man ja ſicher ſein, wie's auch kommt. Lies es noch einmal, Heidi, daß wir's ſo recht behalten können und nicht wieder vergeſſen.“ Das Heidi las ſeinen Vers gleich noch einmal und dann noch ein paarmal, denn die Sicherheit gefiel ihm auch ſo gut. Als ſo der Abend herangekommen war und das Heidi wieder den Berg hinaufwanderte, da kam über ihm ein Sternlein nach dem andern heraus und funkelte und leuchtete zu ihm herunter, und es war gerade, als wollte jedes wieder neu ihm eine große Freude ins Herz hineinſtrahlen, und alle Augenblicke mußte das Heidi wieder ſtille ſtehen und hinaufſchauen, und wie ſie alle ringsum am Himmel in immer hellerer Freude herunterblickten, da mußte es ganz laut hinaufrufen: „Ja, ich weiß ſchon, weil der liebe Gott alles ſo gut weiß, wie es heilſam iſt, kann man eine ſolche Freude haben und ganz ſicher ſein!“ Und die Sternlein alle ſchimmerten und glänzten und winkten dem Heidi zu mit ihren Augen fort und fort, bis es oben bei der Hütte angekommen war, wo der Großvater ſtand und auch zu den Sternen hinaufſchaute, denn ſo ſchön hatten ſie lange nicht mehr heruntergeſtrahlt. Nicht nur die Nächte, auch die Tage dieſes Maimonats waren ſo hell und klar wie ſeit vielen Jahren nicht mehr, und öfters ſchaute der Großvater am Morgen mit Erſtaunen zu, wie die Sonne mit derſelben Pracht am wolkenloſen Himmel wieder aufſtieg, wie ſie niedergegangen war, und er mußte wiederholt ſagen: „Das iſt ein apartes Sonnenjahr; das gibt beſondere Kraft in die Kräuter. Paß auf, Anführer, daß deine Springer nicht zu übermütig werden vom guten Futter!“ Dann ſchwang der Peter ganz kühn ſeine Rute in der Luft, und auf ſeinem Geſicht ſtand deutlich die Antwort geſchrieben: „Mit denen will ich's ſchon aufnehmen.“ So verfloß der grünende Mai, und es kam der Juni mit ſeiner noch wärmeren Sonne und den langen, langen lichten Tagen, die alle Blümlein auf der ganzen Alp herauslockten, daß ſie glänzten und glühten ringsum und die ganze Luft weit umher mit ihrem ſüßen Duft erfüllten. Schon ging auch dieſer Monat ſeinem Ende entgegen, als das Heidi eines Morgens aus der Hütte herausgeſprungen kam, wo es ſeine Morgengeſchäfte ſchon vollendet hatte. Es wollte ſchnell einmal unter die Tannen hinaus und dann ein wenig weiter hinauf, um zu ſehen, ob der ganze große Buſch von dem Tauſendgüldenkraut offenſtehe, denn die Blümchen waren ſo entzückend ſchön in der durchſcheinenden Sonne. Aber als das Heidi um die Hütte herumrennen wollte, ſchrie es auf einmal aus allen Kräften ſo gewaltig auf, daß der Öhi aus dem Schopf heraustrat, denn das war etwas Ungewöhnliches. „Großvater! Großvater!“ rief das Kind wie außer ſich. „Komm hierher! Komm hierher! Sieh! Sieh!“ Der Großvater erſchien auf den Ruf, und ſein Blick folgte dem ausgeſtreckten Arm des aufgeregten Kindes. Die Alm herauf ſchlängelte ſich ein ſeltſamer Zug, wie noch nie einer hier geſehen worden war. Zuerſt kamen zwei Männer mit einem offenen Tragſeſſel, darauf ſaß ein junges Mädchen, in viele Tücher eingehüllt. Dann kam ein Pferd, darauf ſaß eine ſtattliche Dame, die ſehr lebhaft nach allen Seiten blickte und ſich eifrig mit dem jungen Führer unterhielt, der ihr zur Seite ging. Dann kam ein leerer Rollſtuhl, von einem andern jungen Burſchen geſtoßen, denn die Kranke, die hineingehörte, wurde den ſteilen Berg hinan auf dem Tragſeſſel ſicherer transportiert. Zuletzt kam ein Träger, der hatte auf ſein Reff ſo viele Decken, Tücher und Pelze übereinandergehäuft, daß ſie oben noch hoch über ſeinen Kopf hinausragten. „Sie ſind's! Sie ſind's!“ ſchrie das Heidi und hüpfte hoch auf vor Freude. Sie waren es wirklich. Nun kamen ſie näher und näher, und nun waren ſie da. Die Träger ſetzten ihren Seſſel auf die Erde, das Heidi ſprang herzu, und die beiden Kinder begrüßten ſich mit ungeheurer Freude. Jetzt war auch die Großmama oben und ſtieg von ihrem Pferde herunter. Das Heidi rannte zu ihr hin und wurde mit großer Zärtlichkeit begrüßt. Dann wandte ſich die Großmama zum Almöhi um, der ſich genaht hatte, um ſie zu bewillkommnen. Da war gar keine Steifheit in der Begrüßung, denn ſie kannte ihn und er ſie ſo gut, als hätten ſie ſchon lange Zeit miteinander verkehrt. Gleich nach den erſten Worten der Begrüßung ſagte auch die Großmama mit großer Lebhaftigkeit: „Mein lieber Öhi, was haben Sie für einen Herrenſitz! Wer hätte das gedacht! Mancher König könnte Sie darum beneiden! Wie ſieht auch mein Heidi aus! Wie ein Monatsröschen!“ fuhr ſie fort, indem ſie das Kind an ſich zog und ihm die friſchen Backen ſtreichelte. „Was iſt das für eine Herrlichkeit um und um! Was ſagſt du, Klärchen, mein Kind, was ſagſt du!“ Klara ſchaute in völligem Entzücken um ſich. So etwas hatte ſie ja in ihrem ganzen Leben nicht gekannt, nicht geahnt. „Oh, wie ſchön iſt's da! Oh, wie ſchön iſt's da!“ rief ſie einmal ums andere aus. „So hab ich mir's nicht gedacht. O Großmama, hier möcht ich bleiben!“ Der Öhi hatte derweilen den Rollſtuhl herbeigerückt und einige der Tücher vom Reff heruntergenommen und hineingebettet. Jetzt trat er an den Tragſeſſel heran. „Wenn wir das Töchterchen nun in den gewohnten Stuhl ſetzten, ſo wäre es beſſer daran, der Reiſeſeſſel iſt ein wenig hart“, ſagte er, wartete aber nicht darauf, ob da jemand Hand anlegen werde, ſondern hob ſofort die kranke Klara mit ſeinen ſtarken Armen ſachte aus dem Strohſeſſel und ſetzte ſie mit der größten Sorgfalt auf den weichen Sitz hin. Dann legte er die Tücher über die Knie zurecht und bettete ihr die Füße ſo bequem auf die Polſter, als hätte der Öhi ſein Leben lang nichts getan, als Menſchen mit kranken Gliedern gepflegt. Die Großmama hatte im höchſten Erſtaunen zugeſchaut. „Mein lieber Öhi“, brach ſie jetzt aus, „wenn ich wüßte, wo Sie die Krankenpflege erlernt haben, noch heute ſchickte ich alle Wärterinnen, die ich kenne, dahin, daß ſie dasſelbe tun. Wie iſt denn ſo etwas möglich?“ Der Öhi lächelte ein wenig. „Es kommt mehr vom Probieren als vom Studieren“, entgegnete er, aber auf ſeinem Geſichte lag trotz des Lächelns ein Zug der Traurigkeit. Vor ſeinen Augen war aus längſt vergangener Zeit das leidende Antlitz eines Mannes aufgeſtiegen, der ſo in einen Stuhl gebettet daſaß und ſo verſtümmelt war, daß er kaum ein Glied mehr gebrauchen konnte. Das war ſein Hauptmann, den er in Sizilien nach dem heißen Gefechte ſo an der Erde gefunden und weggetragen hatte und der ihn nachher als einzigen Pfleger um ſich litt und nicht mehr von ſich gelaſſen hatte, bis ſeine ſchweren Leiden zu Ende waren. Der Öhi ſah ſeinen Kranken wieder vor ſich; es war ihm nicht anders, als ob es jetzt ſeine Sache ſei, die kranke Klara zu pflegen und ihr alle die erleichternden Dienſtleiſtungen zu erweiſen, die er ſo wohl kannte. Der Himmel lag dunkelblau und wolkenlos über der Hütte und über den Tannen und weit über die hohen Felſen weg, die grau ſchimmernd hineinragten. Klara konnte ſich gar nicht genug umſchauen, ſie war ganz voller Entzücken über alles, was ſie ſah. „O Heidi, wenn ich nur mit dir herumgehen könnte, hier rund um die Hütte und unter die Tannen!“ rief ſie ſehnſüchtig aus. „Wenn ich doch alles mit dir anſehen könnte, was ich ſchon ſo lange kenne und doch noch nie geſehen habe!“ Jetzt machte das Heidi eine große Anſtrengung, und richtig, es gelang, der Stuhl rollte ganz ſchön über den trockenen Grasboden hin bis unter die Tannen. Hier wurde haltgemacht. So etwas hatte ja Klara wieder in ihrem Leben nie geſehen, wie die hohen, alten Tannen waren, deren lange, breite Äſte bis auf den Boden herabwuchſen und da immer größer und dicker wurden. Auch die Großmama, die den Kindern gefolgt war, ſtand in hoher Bewunderung da. Sie wußte nicht, was das ſchönſte an den uralten Bäumen war, ob die vollen, rauſchenden Wipfel hoch oben im Blau oder die geraden, feſten Säulenſtämme, die mit ihren gewaltigen Äſten von ſo vielen, vielen Jahren erzählten, die ſie ſchon da oben geſtanden und auf das Tal niedergeſchaut hatten, wo die Menſchen kamen und gingen und immer wieder alles anders wurde, und ſie waren immer dieſelben geblieben. Unterdeſſen hatte das Heidi den Rollſtuhl vor den Geißenſtall hingeſchoben und hatte da die kleine Tür weit aufgeriſſen, damit Klara auch alles recht ſehen könne. Da war nun freilich für diesmal nicht ſehr viel zu ſehen, da die Bewohner nicht daheim waren. Ganz bedauerlich rief Klara zurück: „O Großmama, wenn ich doch nur Schwänli und Bärli noch erwarten könnte und alle die anderen Geißen und den Peter! Die kann ich ja alle gar nicht ſehen, wenn wir dann immer ſo früh fort müſſen, wie du geſagt haſt; das iſt ſo ſchade!“ „Liebes Kind, jetzt erfreuen wir uns an all dem Schönen, das da iſt, und denken nicht daran, was noch fehlen könnte“, berichtigte die Großmama, dem Stuhle folgend, der nun wieder weitergeſchoben wurde. „Oh, die Blumen!“ ſchrie Klara wieder auf. „Ganze Büſche ſo feine, rote Blümchen und alle die nickenden Blauglöckchen! Oh, wenn ich doch heraus könnte und ſie holen!“ Das Heidi rannte augenblicklich hin und brachte einen großen Strauß zurück. „Aber das iſt noch gar nichts, Klara“, ſagte es, die Blumen auf ihren Schoß legend. „Wenn du einmal mit uns auf die Weide hinaufkommſt, dann wirſt du erſt etwas ſehen! Auf einem Platz zuſammen ſo viele, viele Büſche von dem roten Tauſendgüldenkraut und noch viel, viel mehr blaue Glockenblümchen als hier und ſo viele tauſend von den hellen, gelben Weideröschen, daß es iſt wie lauter Gold, das am Boden glänzt. Und dann ſind erſt noch die mit den großen Blättern, der Großvater ſagt, ſie heißen Sonnenaugen, und dann ſind noch die braunen, weißt du, mit den runden Köpfchen, die riechen ſo gut, und da iſt es ſo ſchön! Wenn man da ſitzt, dann kann man gar nicht mehr aufſtehen, ſo ſchön iſt es!“ Heidis Augen funkelten vor Verlangen wiederzuſehen, was es beſchrieb, und Klara war wie angezündet davon, und aus ihren ſanften blauen Augen leuchtete ein völliger Widerſchein von Heidis feurigem Verlangen auf. „O Großmama, kann ich wohl dahin kommen? Glaubſt du, ich kann ſo hoch hinauf?“ fragte ſie ſehnſüchtig. „Oh, wenn ich nur gehen könnte, Heidi, und ſo mit dir auf der Alp herumſteigen, überallhin!“ „Ich will dich ſchon ſtoßen“, beruhigte ſie das Heidi und nahm nun zum Zeichen, wie leicht das gehe, einen ſolchen Anlauf um die Ecke herum, daß der Stuhl faſt den Berg hinuntergeflogen wäre. Da ſtand aber der Großvater in der Nähe und hielt ihn eben noch rechtzeitig auf in ſeinem Lauf. Während der Beſuch unter den Tannen ſtattgefunden hatte, war der Großvater nicht müßig geweſen. Bei der Bank vor der Hütte ſtand jetzt der Tiſch und die nötigen Stühle, und alles lag ſchon bereit, damit hier das ſchöne Mittagsmahl eingenommen werden konnte, das noch in der Hütte drinnen im Keſſel dampfte und an der großen Gabel über den Gluten ſchmorte. Es währte aber gar nicht lange, ſo hatte der Großvater alles auf den Tiſch geſetzt, und fröhlich ſaß nun die ganze Geſellſchaft beim Mahle. Die Großmama war in hellem Entzücken über dieſen Speiſeſaal, von dem aus man weit, weit hinab ins Tal und über alle Berge weg in den blauen Himmel hinein ſchauen konnte. Ein milder Wind fächelte den Tiſchgenoſſen liebliche Kühlung zu und ſäuſelte drüben in den Tannen ſo anmutig, als wäre er eine eigens zum Feſte beſtellte Tafelmuſik. „So etwas iſt mir noch nicht vorgekommen. Es iſt eine wahre Herrlichkeit!“ rief die Großmama wieder und wieder aus. „Aber was ſeh ich“, ſetzte ſie jetzt in höchſter Bewunderung hinzu, „ich glaube gar, du biſt an einem zweiten Stück Käſebraten angekommen, Klärchen?“ Wirklich lag das zweite golden glänzende Stück auf Klaras Brotſchnitte. „Oh, das ſchmeckt ſo gut, Großmama, beſſer als die ganze Tafel in Ragaz“, verſicherte Klara und biß mit großem Appetit in die gewürzige Speiſe hinein. „Nur zu! Nur zu!“ ſagte der Almöhi wohlgefällig. „Das iſt unſer Bergwind, der hilft nach, wo die Küche zurückbleibt.“ So nahm das fröhliche Mahl ſeinen Verlauf. Die Großmama und der Almöhi verſtanden ſich ausnehmend wohl, und ihr Geſpräch war immer lebhafter geworden. Sie ſtimmten in allerhand Meinungen über Menſchen und Dinge und den Verlauf der Welt ſo gut überein, daß es war, als hätten die beiden ſchon jahrelang in einem freundſchaftlichen Verkehr geſtanden. So ging eine gute Zeit dahin, und auf einmal ſchaute die Großmama gegen Abend hin und ſagte: „Wir müſſen uns bald rüſten, Klärchen, die Sonne iſt ſchon weit vorgerückt; die Leute müſſen bald wiederkommen mit Pferd und Seſſel.“ Aber auf das eben noch ſo fröhliche Geſicht der Klara kam ein ganz trauriger Ausdruck, und ſie bat eindringlich: „Oh, nur noch eine Stunde, Großmama, oder zwei! Wir haben ja die Hütte noch gar nicht geſehen und Heidis Bett und die ganze Einrichtung. Oh, wenn der Tag nur noch zehn Stunden hätte!“ „Das iſt nun nicht gut möglich“, meinte die Großmama, aber die Hütte wollte ſie auch gern noch anſehen. Man brach alſo gleich vom Tiſche auf, und der Öhi lenkte den Stuhl mit feſter Hand der Türe zu. Aber hier ging es nicht weiter, der Stuhl war viel zu breit, um durch die Öffnung eingehen zu können. Der Öhi beſann ſich nicht lange. Er hob Klara heraus und trug ſie auf ſeinem ſicheren Arm in die Hütte hinein. Hier lief die Großmama hin und her und beſah ſich genau die ganze Einrichtung und hatte ihren großen Spaß an der ganzen Häuslichkeit, die ſo hübſch aufgeräumt und wohlgeordnet ausſah. „Das iſt ja wohl dein Bett dort auf der Höhe, Heidi, nicht wahr?“ fragte ſie jetzt und ſtieg gleich unerſchrocken das Leiterchen hinauf zum Heuboden. „Oh, wie das hübſch duftet, das muß ein geſundes Schlafgemach ſein!“ Und die Großmama ging zu dem Loche hin und guckte durch, und ſchon ſtieg auch der Großvater mit der Klara auf dem Arm nach, und hinterdrein hüpfte das Heidi herauf. Jetzt ſtanden ſie alle um Heidis ſchön aufgerüſtetes Heubett herum, und ganz nachdenklich ſchaute die Großmama darauf hin und zog von Zeit zu Zeit in langen Atemzügen den würzigen Duft des friſchen Heues mit Behagen ein. Klara war von Heidis Schlafſtätte völlig hingeriſſen. „O Heidi, wie luſtig haſt du's doch! Vom Bett aus ſiehſt du gerade in den Himmel hinein und haſt einen ſo ſchönen Geruch um dich und hörſt die Tannen rauſchen draußen. Oh, ſo luſtig und kurzweilig hab ich noch gar kein Schlafzimmer geſehen!“ Der Öhi ſchaute jetzt zu der Großmama hinüber. „Ich hätte ſo meine Gedanken“, ſagte er, „wenn die Frau Großmama mir glauben wollte und ihr die Sache nicht widerſtrebte. Ich meine, wenn wir das Töchterchen ein wenig hier oben behielten, ſo könnte es zu neuen Kräften kommen. Es ſind da ſo allerhand Tücher und Decken mitgekommen, aus denen bereiten wir hier ein ganz apart weiches Bett, und um die Pflege des Töchterchens müßte die Frau Großmama keine Sorge haben, die übernehme ich.“ Klara und Heidi jauchzten miteinander auf wie zwei freigelaſſene Vögel, und über das Geſicht der Großmama kam ein ganzer Sonnenſchein. „Mein lieber Öhi, Sie ſind ein prächtiger Mann!“ brach ſie aus. „Was meinen Sie, was ich eben jetzt dachte? Ich ſagte im ſtillen: Müßte nicht ein Aufenthalt hier oben das Kind ganz beſonders ſtärken? Aber die Pflege! Die Sorge! Die Unbequemlichkeit für den Wirt! Und Sie kommen und ſprechen es aus, ſo als wäre da gar nichts dabei. Ich muß Ihnen danken, mein lieber Öhi, ich muß Ihnen von ganzem Herzen danken!“ Und die Großmama ſchüttelte dem Öhi die Hand ein Mal ums andere und immer wieder, und der Öhi ſchüttelte auch die ihrige mit einem ganz erfreuten Geſicht. Sofort ging der Öhi zur Tat über. Er trug Klara in ihren Seſſel vor die Hütte zurück, vom Heidi gefolgt, das nicht wußte, wie hoch es vor Freude ſpringen wollte. Dann lud er gleich die ſämtlichen Tücher und Pelzdecken auf ſeine Arme und ſagte wohlgefällig lächelnd: „Es iſt gut, daß die Frau Großmama ſo wie zu einem Winterfeldzug gerüſtet hatte: Das können wir brauchen.“ „Mein lieber Öhi“, antwortete die Herzutretende lebhaft, „Vorſicht iſt eine ſchöne Tugend und ſchützt vor manchem Ungemach. Wenn man auf den Reiſen über Ihre Gebirge ohne Sturm und Wind und Wolkenbrüche davonkommt, ſo kann man nur danken, und das wollen wir tun, und meine Schutzmittelchen ſind auch ſo noch gut zu gebrauchen; darin ſind wir einig.“ Während dieſes kleinen Geſpräches waren die beiden nach dem Heuboden hinaufgeſtiegen und begannen nun die Tücher über das Bett hinzubreiten, eins nach dem andern. Da waren ihrer ſo viele, daß das Bett zuletzt ausſah wie eine kleine Feſtung. „Jetzt ſoll mir noch ein einziger Heuhalm durchſtechen, wenn er kann“, ſagte die Großmama, indem ſie noch einmal mit der Hand auf allen Seiten eindrückte, aber die weiche Mauer war ſo undurchdringlich, daß wirklich keiner mehr durchſtach. Nun ſtieg ſie befriedigt die Leiter hinunter und trat zu den Kindern heraus, die mit ſtrahlenden Angeſichtern nahe zuſammenſaßen und ausmachten, was ſie nun tun wollten vom Morgen bis zum Abend, ſolange Klara auf der Alp bleiben durfte. Aber wie lange würde das ſein? Das war nun die große Frage, welche augenblicklich der Großmama vorgelegt wurde. Die ſagte, das wiſſe der Großvater am beſten, ihn müßten ſie fragen, und als dieſer eben herzutrat und nun die Frage an ihn gerichtet wurde, meinte er, vier Wochen ſeien gerade recht, um beurteilen zu können, ob die Alpluft ihre Schuldigkeit an dem Töchterchen tue oder nicht. Jetzt jubelten die Kinder erſt recht auf, denn die Ausſicht auf ſolches Zuſammenbleiben übertraf alle ihre Erwartungen. Nun ſah man von unten herauf wieder die Seſſelträger und den Pferdeführer mit ſeinem Tier heranrücken. Die erſteren konnten gleich wieder umkehren. Als die Großmama ſich anſchickte, ihr Pferd zu beſteigen, rief Klara fröhlich aus: „O Großmama, das iſt nun gar kein Abſchied, wenn du ſchon fortreiteſt, denn nun kommſt du von Zeit zu Zeit zu uns zum Beſuch auf die Alp, um zu ſehen, was wir machen, und das iſt dann ſo luſtig, nicht, Heidi?“ Heidi, das heute von einem Vergnügen ins andere fiel, konnte ſeine zuſtimmende Antwort nur durch einen hohen Freudenſprung ausdrücken. Nun beſtieg die Großmama das feſte Saumtier, und der Öhi ergriff den Zügel und führte das Pferd mit ſicherer Hand den ſteilen Berg hinunter. Wie auch die Großmama eiferte, er möchte doch nicht ſo weit mitgehen, es half nichts: Der Öhi erklärte, er werde ihr ſein Geleit bis zum Dörfli hinunter geben, da die Alp ſo ſteil und der Ritt nicht ohne Gefahr ſei. In dem einſamen Dörfli gedachte die Großmama, nun ſie allein war, nicht zu bleiben. Sie wollte nach Ragaz zurückkehren und von dort aus dann von Zeit zu Zeit ihre Alpenreiſe wiederholen. Noch bevor der Öhi wieder zurückgekehrt war, kam der Peter mit ſeinen Geißen dahergerannt. Als dieſe merkten, wo das Heidi war, ſtürzten ſie alle der Stelle zu. Im Augenblick war die Klara in ihrem Stuhle ſamt dem Heidi mitten in dem Rudel drinnen, und drängend und ſtoßend guckte immer eine der Geißen über die andere her, und jede wurde gleich vom Heidi der Klara genannt und vorgeſtellt. So kam es, daß dieſe in der kürzeſten Zeit die langerwünſchte Bekanntſchaft mit dem kleinen Schneehöppli, dem luſtigen Diſtelfink, den ſauberen Geißen des Großvaters, mit allen, allen bis hinauf zum großen Türk gemacht hatte. Der Peter aber ſtand derweilen abſeits und warf ſeltſam drohende Blicke auf die vergnügte Klara hin. Als nun die Kinder beide freundlich zu ihm hinüberriefen: „Gute Nacht, Peter!“, gab er durchaus keine Antwort, ſondern hieb mit ſeiner Rute ſo grimmig in die Luft hinein, als wollte er dieſe völlig entzweiſchlagen. Dann lief er davon und ſein Gefolge hinter ihm her. Zu allem Schönen, das Klara heute auf der Alp ſchon geſehen hatte, kam nun noch der Schluß. Als ſie oben auf dem Heuboden auf dem großen, weichen Bette lag, zu dem nun auch das Heidi emporkletterte, da ſchaute ſie durch das offene runde Loch gerade mitten in die ſchimmernden Sterne hinein, und voller Entzücken rief ſie aus: „O Heidi, ſieh, es iſt gerade, wie wenn wir auf einem hohen Wagen in den Himmel hineinfahren würden!“ „Ja, und weißt du, warum die Sterne ſo voller Freude ſind und uns ſo mit den Augen winken?“ fragte das Heidi. „Nein, das weiß ich nicht; was meinſt du denn?“ fragte Klara zurück. „Weil ſie droben im Himmel ſehen, wie der liebe Gott alles ſo gut einrichtet für die Menſchen, daß ſie gar keine Angſt haben müſſen und ganz ſicher ſein können, weil alles ſo kommt, wie es heilſam iſt. Das freut ſie ſo; ſieh, wie ſie winken, daß wir auch ſo fröhlich ſein ſollen! Aber weißt du, Klara, wir müſſen auch nicht vergeſſen zu beten, wir müſſen recht den lieben Gott bitten, daß er auch an uns denke, wenn er alles ſo ſchön einrichtet, daß wir auch immer ſo ſicher ſein können und uns vor gar nichts fürchten müſſen.“ Jetzt richteten ſich die Kinder noch einmal auf und ſagten jedes ſein Nachtgebet. Dann legte ſich das Heidi auf ſeinen runden Arm und ſchlief augenblicklich ein. Aber Klara blieb noch lange wach, denn etwas ſo Wunderbares wie dieſe Schlafſtätte im Sternenſchein hatte ſie noch in ihrem Leben nicht geſehen. Sie hatte ja überhaupt kaum je die Sterne geſehen, denn außer dem Hauſe war ſie des Nachts nie geweſen, und drinnen wurden die dichten Vorhänge längſt niedergelaſſen, bevor die Sterne kamen. Wenn ſie nun jetzt die Augen zumachen wollte, mußte ſie ſie gleich noch einmal aufſchlagen, um zu ſehen, ob denn die beiden großen, hellen Sterne immer noch hereinfunkelten und ſo merkwürdig winkten, wie das Heidi geſagt hatte. Und immer noch war es ſo, und Klara konnte es nicht genug bekommen, in das Flimmern und Leuchten hineinzuſchauen, bis endlich ihre Augen von ſelbſt zufielen und ſie nur im Traume noch die zwei großen, ſchimmernden Sterne ſah. 7. Wie es auf der Alp weitergeht