Johanna Spyri: Heidi kann brauchen, was es gelernt hat 4. Der Winter im Dörfli Um die Almhütte lag der Schnee ſo hoch, daß es anzuſehen war, als ſtänden die Fenſter auf dem flachen Boden, denn weiter unten war von der ganzen Hütte gar nichts zu ſehen, auch die Haustür war völlig verſchwunden. Wäre der Almöhi noch oben geweſen, ſo hätte er dasſelbe tun müſſen, was der Peter täglich ausführen mußte, weil es gewöhnlich über Nacht wieder geſchneit hatte. Jeden Morgen mußte dieſer jetzt aus dem Fenſter der Stube hinausſpringen, und war es nicht ſehr kalt, ſo daß über Nacht alles zuſammengefroren war, ſo verſank er dann ſo tief in dem weichen Schnee, daß er mit Händen und Füßen und mit dem Kopf auf alle Seiten ſtoßen und werfen und ausſchlagen mußte, bis er ſich wieder herausgearbeitet hatte. Dann bot ihm die Mutter den großen Beſen aus dem Fenſter, und mit dieſem ſtieß und ſcharrte der Peter nun den Schnee vor ſich weg, bis er zur Tür kam. Dort hatte er dann eine große Arbeit, denn da mußte aller Schnee abgegraben werden, ſonſt fiel entweder, wenn er noch weich war und die Tür aufging, die ganze große Maſſe in die Küche hinein, oder er fror zu, und nun war man ganz vermauert drinnen, denn durch dieſen Eisfelſen konnte man nicht dringen, und durch das kleine Fenſter konnte nur der Peter hinausſchlüpfen. Für dieſen brachte dann die Zeit des Gefrierens viele Bequemlichkeiten mit ſich. Wenn er ins Dörfli hinunter mußte, öffnete er nur das Fenſter, kroch durch und kam draußen zu ebener Erde auf dem feſten Schneefelde an. Dann ſchob ihm die Mutter den kleinen Schlitten durch das Fenſter nach, und der Peter hatte ſich nur daraufzuſetzen und abzufahren, wie und wo er wollte, er kam jedenfalls hinunter, denn die ganze Alm um und um war dann nur ein großer, ununterbrochener Schlittweg. Der Öhi war nicht auf der Alm den Winter; er hatte Wort gehalten. Sobald der erſte Schnee gefallen war, hatte er Hütte und Stall abgeſchloſſen und war mit dem Heidi und den Geißen nach dem Dörfli hinuntergezogen. Dort ſtand in der Nähe der Kirche und des Pfarrhauſes ein weitläufiges Gemäuer, das war in alter Zeit ein großes Herrenhaus geweſen, was man noch an vielen Stellen ſehen konnte, obſchon jetzt das Gebäude überall ganz oder halb zerfallen war. Da hatte einmal ein tapferer Kriegsmann gewohnt; der war in ſpaniſche Dienſte gegangen und hatte da viele tapfere Taten verrichtet und viele Reichtümer erbeutet. Dann war er heimgekommen nach dem Dörfli und hatte aus ſeiner Beute ein prächtiges Haus errichtet; darinnen wollte er nun wohnen. Aber es ging gar nicht lange, ſo konnte er es in dem ſtillen Dörfli nicht mehr aushalten vor Langweile, denn er hatte zu lange draußen in der lärmvollen Welt gelebt. Er zog wieder hinaus und kam gar niemals mehr zurück. Als man nach vielen, vielen Jahren ſicher wußte, daß er tot war, übernahm ein ferner Verwandter unten im Tal das Haus, aber es war ſchon am Verfallen, und der neue Beſitzer wollte es nicht mehr aufbauen. So zogen arme Leute in das Haus, die wenig dafür bezahlen mußten, und wenn ein Stück abfiel von dem Gebäude, ſo ließ man es liegen. Seit jener Zeit waren nun wieder viele Jahre darübergegangen. Schon als der Öhi mit ſeinem jungen Buben Tobias hergekommen war, hatte er das verfallene Haus bezogen und darin gelebt. Seither hatte es meiſtens leer geſtanden, denn wer nicht verſtand, vorweg dem Verfalle ein wenig zu begegnen und die Löcher und Lücken, wo ſie entſtanden, gleich irgendwie zu ſtopfen und zu flicken, der konnte da nicht bleiben. Der Winter droben im Dörfli war lang und kalt. Dann blies und wehte es von allen Seiten durch die Räume, daß die Lichter auslöſchten und die armen Leute vom Froſt geſchüttelt wurden. Aber der Öhi wußte ſich zu helfen. Gleich nachdem er zu dem Entſchluß gekommen war, den Winter im Dörfli zuzubringen, hatte er das alte Haus wieder übernommen und war den Herbſt durch öfter heruntergekommen, um darin alles ſo herzurichten, wie es ihm gefiel. Um die Mitte des Oktobermonats war er dann mit dem Heidi heruntergezogen. Kam man von hinten an das Haus heran, ſo trat man gleich in einen offenen Raum ein, da war auf einer Seite die ganze Wand und auf der anderen die halbe eingefallen. Über dieſer war noch ein Bogenfenſter zu ſehen, aber das Glas war längſt weg daraus, und dicker Efeu rankte ſich darum und hoch hinauf bis zur Decke, die noch zur Hälfte feſt war. Die war ſchön gewölbt, und man konnte gut ſehen, das war die Kapelle geweſen. Ohne Tür kam man weiter in eine große Halle hinein, da waren hier und da noch ſchöne Steinplatten auf dem Boden, und zwiſchendurch wuchs das Gras dicht empor. Da waren die Mauern auch alle halb weg und große Stücke der Decke dazu, und hätten da nicht ein paar dicke Säulen noch ein feſtes Stück der Decke getragen, ſo hätte man denken müſſen, dieſe könne jeden Augenblick auf die Köpfe derer niederfallen, die darunter ſtanden. Hier hatte der Öhi einen Bretterverſchlag ringsum gemacht und den Boden dick mit Streu belegt, denn hier in der alten Halle ſollten die Geißen logieren. Dann ging es durch allerlei Gänge, immer halb offen, daß einmal der Himmel hereinguckte und einmal wieder die Wieſe und der Weg draußen. Aber zuvörderſt, wo die ſchwere, eichene Tür noch feſt in den Angeln hing, kam man in eine große, weite Stube hinein, die war noch gut. Da waren noch die vier feſten Wände mit dem dunkeln Holzgetäfel ohne Lücken, und in der einen Ecke ſtand ein ungeheurer Ofen, der ging faſt bis an die Decke hinauf, und auf die weißen Kacheln waren große, blaue Bilder hingemalt. Da waren alte Türme darauf, mit hohen Bäumen ringsum, und unter den Bäumen ging ein Jäger dahin mit ſeinen Hunden. Dann war wieder ein ſtiller See unter weitſchattigen Eichen, und ein Fiſcher ſtand daran und hielt ſeine Rute weit in das Waſſer hinaus. Um den ganzen Ofen herum ging eine Bank, ſo daß man da gleich hinſetzen und die Bilder ſtudieren konnte. Hier gefiel es dem Heidi ſogleich. Sowie es mit dem Großvater in die Stube eingetreten war, lief es auf den Ofen zu, ſetzte ſich auf die Bank und fing an die Bilder zu betrachten. Aber wie es, auf der Bank weiter gleitend, bis hinter den Ofen gelangte, nahm eine neue Erſcheinung ſeine ganze Aufmerkſamkeit in Beſchlag: In dem ziemlich großen Raume zwiſchen dem Ofen und der Wand waren vier Bretter aufgeſtellt, ſo wie zu einem Apfelbehälter. Darinnen lagen aber nicht Äpfel, da lag unverkennbar Heidis Bett, ganz ſo, wie es oben auf der Alm geweſen war: ein hohes Heulager mit dem Leintuch und dem Sack als Decke darauf. Das Heidi jauchzte auf: „Oh, Großvater, da iſt meine Kammer, o wie ſchön! Aber wo mußt du ſchlafen?“ „Deine Kammer muß nahe beim Ofen ſein, damit du nicht frierſt“, ſagte der Großvater, „die meine kannſt du auch ſehen.“ Das Heidi hüpfte durch die weite Stube dem Großvater nach, der auf der anderen Seite eine Tür aufmachte, die in einen kleinen Raum hineinführte, da hatte der Großvater ſein Lager errichtet. Dann kam aber wieder eine Tür. Das Heidi machte ſie geſchwind auf und ſtand ganz verwundert ſtill, denn da ſah man in eine Art von Küche hinein, die war ſo ungeheuer groß, wie es noch nie in ſeinem Leben eine geſehen hatte. Da war viel Arbeit für den Großvater geweſen, und es blieb auch noch immer viel zu tun übrig, denn da waren Löcher und weite Spalten in den Mauern auf allen Seiten, wo der Wind hereinpfiff, und doch waren ſchon ſo viele mit Holzbrettern vernagelt worden, daß es ausſah, als wären ringsum kleine Holzſchränke in der Mauer angebracht. Auch die große, uralte Tür hatte der Großvater wieder mit vielen Drähten und Nägeln feſtzumachen verſtanden, ſo daß man ſie ſchließen konnte, und das war gut, denn nachher ging es in lauter verfallenes Gemäuer hinaus, wo dickes Geſtrüpp emporwuchs und Scharen von Käfern und Eidechſen ihre Wohnungen hatten. Dem Heidi gefiel es wohl in der neuen Behauſung, und ſchon am anderen Tage, als der Peter kam, um zu ſehen, wie es in der neuen Wohnung zugehe, hatte es alle Winkel und Ecken ſo genau ausgeguckt, daß es ganz daheim war und den Peter überall herumführen konnte. Es ließ ihm auch durchaus keine Ruhe, bis er ganz gründlich alle die merkwürdigen Dinge betrachtet hatte, die der neue Wohnſitz enthielt. Das Heidi ſchlief vortrefflich in ſeinem Ofenwinkel, aber am Morgen meinte es doch immer, es ſollte auf der Alp erwachen und es müſſe gleich die Hüttentür aufmachen, um zu ſehen, ob die Tannen darum nicht rauſchten, weil der hohe, ſchwere Schnee darauf liege und die Äſte niederdrücke. So mußte es jeden Morgen zuerſt lange hin und her ſchauen, bis es ſich wieder beſinnen konnte, wo es war, und jedesmal fühlte es etwas auf ſeinem Herzen liegen, das es würgte und drückte, wenn es ſah, daß es nicht daheim ſei auf der Alp. Aber wenn es dann den Großvater reden hörte draußen mit dem Schwänli und dem Bärli und dann die Geißen ſo laut und luſtig meckerten, als wollten ſie ihm zurufen: „Mach doch, daß du einmal kommſt, Heidi“, dann merkte es, daß es doch daheim war, und ſprang fröhlich aus ſeinem Bette und dann ſo ſchnell als möglich in den großen Geißenſtall hinaus. Aber am vierten Tage ſagte das Heidi ſorglich: „Heute muß ich gewiß zur Großmutter hinauf, ſie kann nicht ſo lange allein ſein.“ Aber der Großvater war nicht einverſtanden. „Heute nicht und morgen auch noch nicht“, ſagte er. „Die Alm hinauf liegt der Schnee klaftertief, und immer noch ſchneit es fort; kaum kann der feſte Peter durchkommen. Ein Kleines wie du, Heidi, wäre auf der Stelle eingeſchneit und zugedeckt und nicht mehr zu finden. Wart noch ein wenig, bis es friert, dann kannſt du bequem über die Schneedecke hinaufſpazieren.“ Das Warten machte zuerſt dem Heidi ein wenig Kummer. Aber die Tage waren jetzt ſo angefüllt von Arbeit, daß immer einer unverſehens dahin war und ein anderer kam. Jeden Morgen und jeden Nachmittag ging das Heidi jetzt in die Schule im Dörfli und lernte ganz eifrig, was da zu lernen war. Den Peter ſah es aber faſt nie in der Schule, denn meiſtens kam er nicht. Der Lehrer war ein milder Mann, der nur dann und wann ſagte: „Es ſcheint mir, der Peter ſei wieder nicht da. Die Schule täte ihm doch gut, aber es liegt auch gar viel Schnee dort hinauf, er wird wohl nicht durchkommen.“ Aber gegen Abend, wenn die Schule aus war, kam der Peter meiſtens durch und machte ſeinen Beſuch beim Heidi. Nach einigen Tagen kam die Sonne wieder hervor und warf ihre Strahlen über den weißen Boden hin, aber ſie ging ganz früh wieder hinter die Berge hinab, ſo als gefalle es ihr lange nicht ſo gut herunterzuſchauen wie im Sommer, wenn alles grünte und blühte. Aber am Abend kam der Mond ganz hell und groß herauf und leuchtete die ganze Nacht über die weiten Schneefelder hin, und am anderen Morgen glitzerte und flimmerte die ganze Alp von oben bis unten wie ein Kriſtall. Als der Peter wie die Tage vorher aus ſeinem Fenſter in den tiefen Schnee hinabſpringen wollte, ging es ihm, wie er nicht erwartet hatte. Er nahm einen Satz hinaus, aber anſtatt ins Weiche hinab zu kommen, ſchlug es ihn auf dem unerwartet harten Boden gleich um, und unverſehens fuhr er ein gutes Stück den Berg hinunter wie ein herrenloſer Schlitten. Sehr verwundert kam er ſchließlich wieder auf ſeine Füße, und nun ſtampfte er mit aller Macht auf den Schneeboden, um ſich zu verſichern, daß auch wirklich möglich ſei, was ihm ſoeben begegnet war. Es war richtig: Wie er auch ſtampfte und einſchlug mit den Abſätzen, kaum konnte er ein kleines Eisſplitterchen herausſchlagen. Die ganze Alm war ſteinhart zugefroren. Das war dem Peter eben recht: Er wußte, daß dieſer Zuſtand der Dinge nötig war, damit das Heidi einmal wieder da heraufkommen konnte. Schleunig kehrte er um, ſchluckte ſeine Milch hinunter, welche die Mutter eben auf den Tiſch geſtellt hatte, ſteckte ſein Stücklein Brot in die Taſche und ſagte eilig: „Ich muß in die Schule.“ „Ja, ſo geh und lern auch brav“, ſagte die Mutter beiſtimmend. Der Peter kroch zum Fenſter hinaus — denn nun war man eingeſperrt um des Eisberges willen vor der Türe —, zog ſeinen kleinen Schlitten nach ſich, ſetzte ſich darauf und ſchoß den Berg hinunter. Es ging wie der Blitz, und als er beim Dörfli da ankam, wo es gleich weiter hinab gegen Maienfeld hin ging, fuhr der Peter weiter, denn es kam ihm ſo vor, als müßte er ſich und dem Schlitten Gewalt antun, wenn er auf einmal den Lauf einhalten wollte. So fuhr er zu, bis er ganz unten in der Ebene ankam und es von ſelbſt nicht mehr weiterging. Dann ſtieg er ab und ſchaute ſich um. Die Gewalt der Niederfahrt hatte ihn noch ziemlich über Maienfeld hinausgejagt. Jetzt bedachte er, daß er jedenfalls zu ſpät in die Schule käme, da ſie ſchon lange begonnen hatte, er aber zum Hinaufſteigen faſt eine Stunde brauchte. So konnte er ſich alle Zeit laſſen zur Rückkehr. Das tat er denn auch und kam gerade oben im Dörfli wieder an, als das Heidi aus der Schule zurückgekehrt war und ſich mit dem Großvater an den Mittagstiſch ſetzte. Der Peter trat herein, und da er diesmal einen beſonderen Gedanken mitzuteilen hatte, ſo lag ihm dieſer obenauf, und er mußte ihn gleich beim Eintreten loswerden. „Es hat ihn“, ſagte der Peter, mitten in der Stube ſtillſtehend. „Wen? Wen? General! Das tönt ziemlich kriegeriſch“, ſagte der Öhi. „Den Schnee“, berichtete Peter. „Oh! Oh! jetzt kann ich zur Großmutter hinauf!“ frohlockte das Heidi, das die Ausdrucksweiſe des Peter gleich verſtanden hatte. „Aber warum biſt du denn nicht in die Schule gekommen? Du konnteſt ja gut herunterſchlittern“, ſetzte es auf einmal vorwurfsvoll hinzu, denn dem Heidi kam es vor, das ſei nicht in der Ordnung, ſo draußen zu bleiben, wenn man doch gut in die Schule gehen könnte. „Bin zu weit gekommen mit dem Schlitten, war zu ſpät“, gab der Peter zurück. „Das nennt man deſertieren“, ſagte der Öhi, „und Leute, die das tun, nimmt man bei den Ohren, hörſt du?“ Der Peter riß erſchrocken an ſeiner Kappe herum, denn vor keinem Menſchen auf der Welt hatte er einen ſo großen Reſpekt wie vor dem Almöhi. „Und dazu ein Anführer, wie du einer biſt, der muß ſich doppelt ſchämen, ſo auszureißen“, fuhr der Öhi fort. „Was meinſt, wenn einmal deine Geißen eine da und die andere dort hinausliefen und ſie wollten dir nicht mehr folgen und nicht tun, was gut iſt für ſie, was würdeſt du dann machen?“ „Sie hauen“, entgegnete der Peter kundig. „Und wenn einmal ein Bub ſo täte wie eine ungebärdige Geiß und er würde ein wenig durchgehauen, was würdeſt du dann ſagen?“ „Geſchieht ihm recht“, war die Antwort. „So, jetzt weißt was, Geißenoberſt: Wenn du noch einmal auf deinem Schlitten über die Schule hinausfährſt zu einer Zeit, da du hinein ſollteſt, ſo komm dann nachher zu mir und hol dir, was dir dafür gehört.“ Jetzt verſtand der Peter den Zuſammenhang der Rede und daß er mit dem Buben gemeint ſei, der fortlaufe wie eine ungebärdige Geiß. Er war ganz getroffen von dieſer Ähnlichkeit und ſchaute ein wenig bänglich in die Winkel hinein, ob ſo etwas zu entdecken ſei, wie er es in ſolchen Fällen für die Geißen gebrauchte. Aber ermunternd ſagte nun der Öhi: „Komm an den Tiſch jetzt und halt mit, dann geht das Heidi mit dir. Am Abend bringſt du's wieder heim, dann findeſt du dein Nachteſſen hier.“ Dieſe unerwartete Wendung der Dinge war dem Peter höchſt erfreulich. Sein Geſicht verzog ſich nach allen Seiten vor Vergnügen. Er gehorchte unverzüglich und ſetzte ſich neben das Heidi hin. Das Kind aber hatte ſchon genug und konnte gar nicht mehr ſchlucken vor Freude, daß es zur Großmutter gehen ſollte. Es ſchob die große Kartoffel und den Käſebraten, die noch auf ſeinem Teller lagen, dem Peter zu, der von der anderen Seite vom Öhi den Teller voll bekommen hatte, ſo daß ein ganzer Wall vor ihm aufgerichtet ſtand, aber der Mut zum Angriff fehlte ihm nicht. Das Heidi rannte an den Schrank und holte ſein Mäntelchen von der Klara hervor. Jetzt konnte es, ganz warm eingepackt, mit der Kapuze über dem Kopf, ſeine Reiſe machen. Es ſtellte ſich nun neben den Peter hin, und ſobald dieſer ſein letztes Stück eingeſchoben hatte, ſagte es: „Jetzt komm!“ Dann machten ſie ſich auf den Weg. Das Heidi hatte dem Peter ſehr viel zu erzählen vom Schwänli und Bärli, daß ſie beide am erſten Tage in dem neuen Stall gar nicht hatten freſſen wollen und daß ſie die Köpfe hatten hängen laſſen den ganzen Tag und keinen Ton von ſich gegeben hatten. Und es habe den Großvater gefragt, warum ſie ſo tun. Dann habe er geſagt: Sie tun ſo wie es in Frankfurt, denn ſie ſeien noch nie von der Alm heruntergekommen ihr Leben lang. Und das Heidi ſetzte hinzu: „Du ſollteſt nur einmal erfahren, wie das iſt, Peter.“ Die beiden waren ſo faſt oben angekommen, ohne daß der Peter ein einziges Wort geſagt hätte, und es war auch, als ob ihn ein tiefer Gedanke beſchäftigte, daß er nicht einmal recht zuhören konnte wie ſonſt. Als ſie nun bei der Hütte angekommen waren, ſtand der Peter ſtill und ſagte ein wenig ſtörriſch: „Dann will ich noch lieber in die Schule gehen, als beim Öhi holen, was er geſagt hat.“ Das Heidi war derſelben Meinung und beſtärkte den Peter ganz eifrig in ſeinem Vorſatz. Drinnen in der Stube ſaß die Mutter allein beim Flickwerk. Sie ſagte, die Großmutter müſſe die Tage im Bett bleiben, es ſei zu kalt für ſie, und dann ſei ihr auch ſonſt nicht recht. Das war dem Heidi etwas Neues; ſonſt ſaß die Großmutter immer an ihrem Platz in der Ecke. Es rannte gleich zu ihr in die Kammer hinein. Sie lag ganz von dem grauen Tuche umwickelt in ihrem ſchmalen Bett mit der dünnen Decke. „Gott Lob und Dank!“ ſagte die Großmutter gleich, als ſie das Heidi hereinſpringen hörte. Sie hatte ſchon den ganzen Herbſt durch eine geheime Angſt im Herzen gehabt, die ſie noch immer verfolgte, beſonders wenn das Heidi eine Zeitlang nicht kam. Der Peter hatte berichtet, wie ein fremder Herr aus Frankfurt gekommen ſei und immer mit auf die Weide komme und mit dem Heidi reden wolle, und die Großmutter meinte nicht anders, als der Herr ſei gekommen, das Heidi wieder mit fortzunehmen. Wenn er auch nachher ſchon allein abreiſte, ſo ſtieg die Angſt doch immer wieder in ihr auf, es könnte irgendein Abgeſandter von Frankfurt herkommen und das Kind wieder zurückholen. Das Heidi ſprang zu dem Bett der Kranken hin und fragte ſorglich: „Biſt du ſtark krank, Großmutter?“ „Nein, nein, Kind“, beruhigte die Alte, indem ſie das Heidi liebevoll ſtreichelte, „der Froſt iſt mir nur ein wenig in die Glieder gefahren.“ „Wirſt du dann auf der Stelle geſund, wenn es wieder warm iſt?“ fragte eindringlich das Heidi weiter. „Ja, ja, will's Gott, noch vorher, daß ich wieder an mein Spinnrad kann. Ich meinte ſchon heute, ich wolle es probieren, morgen wird's dann ſchon wieder gehen“, ſagte die Großmutter in zuverſichtlicher Weiſe, denn ſie hatte ſchon gemerkt, daß das Kind erſchrocken war. Ihre Worte beruhigten das Heidi, dem es ſehr angſt geweſen war, denn krank im Bett hatte es die Großmutter noch nie getroffen. Es betrachtete ſie jetzt ein wenig verwundert, dann ſagte es: „In Frankfurt legen ſie einen Schal an zum Spazierengehen. Haſt du etwa gemeint, man müſſe ihn anlegen, wenn man ins Bett geht, Großmutter?“ „Weißt du, Heidi“, entgegnete ſie, „ich nehme den Schal ſo um im Bett, daß ich nicht friere. Ich bin ſo froh darüber, die Decke iſt ein wenig dünn.“ „Aber Großmutter“, fing das Heidi wieder an, „bei deinem Kopf geht es bergab, wo es ganz bergauf gehen ſollte; ſo muß ein Bett nicht ſein.“ „Ich weiß ſchon, Kind, ich ſpüre es auch wohl“, und die Großmutter ſuchte auf dem Kiſſen, das wie ein dünnes Brett unter ihrem Kopfe lag, einen beſſeren Platz zu gewinnen. „Siehſt du, das Kiſſen war nie beſonders dick, und jetzt habe ich ſo viele Jahre darauf geſchlafen, daß ich es ein wenig flachgelegen habe.“ „O hätt ich nur in Frankfurt die Klara gefragt, ob ich nicht mein Bett mitnehmen könne“, ſagte jetzt das Heidi. „Da hatte es drei große, dicke Kiſſen aufeinander, daß ich gar nicht ſchlafen konnte und immer weiter herunterrutſchte, bis wo es flach war, und dann mußte ich wieder hinauf, weil man dort ſo ſchlafen muß. Könnteſt du ſo ſchlafen, Großmutter?“ „Ja freilich, das macht warm, und man bekommt den Atem ſo gut, wenn man ſo hoch liegen kann mit dem Kopf“, ſagte die Großmutter, ein wenig mühſam ihren Kopf aufrichtend, ſo wie um eine höhere Stelle zu finden. „Aber wir wollen jetzt nicht von dem reden, ich habe ja dem lieben Gott für ſo vieles zu danken, was andere Alte und Kranke nicht haben. Schon das gute Brötchen, das ich immer bekomme, und das ſchöne, warme Tuch hier und daß du ſo zu mir kommſt, Heidi. Willſt du mir auch wieder etwas leſen heute?“ Das Heidi lief hinaus und holte das alte Liederbuch herbei. Nun ſuchte es ein ſchönes Lied nach dem andern, denn es kannte ſie jetzt wohl, und es freute ſich ſelbſt, das alles wieder zu hören, es hatte ja ſeit vielen Tagen die Verſe alle, die ihm lieb waren, nicht mehr gehört. Die Großmutter lag mit gefalteten Händen da, und auf ihrem Geſichte, das erſt ſo bekümmert ausgeſehen hatte, lag jetzt ein ſo freudiges Lächeln, als wäre ihr eben ein großes Glück zuteil geworden. Das Heidi hielt auf einmal inne. „Großmutter, biſt du ſchon geſund geworden?“ fragte es. „Es iſt mir wohl, Heidi, es iſt mir wohl geworden darüber. Lies es noch fertig, willſt du?“ Das Kind las ſein Lied zu Ende, und als die letzten Worte kamen: „Wird mein Auge dunkler, trüber, // Dann erleuchte meinen Geiſt, // Daß ich fröhlich zieh' hinüber, // Wie man nach der Heimat reiſt“, da wiederholte ſie die Großmutter und dann noch einmal und noch einmal, und auf ihrem Geſicht lag jetzt eine große freudige Erwartung. Dem Heidi wurde ſo wohl dabei. Der ganze ſonnige Tag ſeiner Heimkehr ſtieg vor ihm auf, und voller Freude rief es aus: „Großmutter, ich weiß ſchon, wie es iſt, wenn man nach der Heimat reiſt.“ Sie antwortete nichts, aber ſie hatte die Worte wohl vernommen, und der Ausdruck, der dem Heidi ſo wohl getan hatte, blieb auf ihrem Geſicht. Nach einer Weile ſagte das Kind wieder: „Jetzt wird's dunkel, Großmutter, ich muß heim; aber ich bin ſo froh, daß es dir jetzt wieder wohl iſt.“ Die Großmutter nahm die Hand des Kindes in die ihrige und hielt ſie feſt; dann ſagte ſie: „Ja, ich bin auch wieder ſo froh; wenn ich auch noch liegen bleiben muß, ſo iſt es mir doch wohl. Siehſt du, das weiß niemand, der es nicht erfahren hat, wie das iſt, wenn man viele, viele Tage ſo ganz allein daliegt und hört kein Wort von einem andern Menſchen und kann nichts ſehen, nicht einen einzigen Sonnenſtrahl. Dann kommen ſo ſchwere Gedanken über einen, daß man manchmal meint, es könne nie mehr Tag werden und man könne nicht mehr weiter. Aber wenn man dann einmal wieder die Worte hört, die du mir vorgeleſen haſt, ſo iſt es, wie wenn einem ein Licht davon aufgehen würde im Herzen, an dem man ſich wieder freuen kann.“ Jetzt ließ die Großmutter die Hand des Kindes los, und nachdem es ihr gute Nacht geſagt, lief es in die Stube zurück und zog den Peter eilig hinaus, denn es war unterdeſſen Nacht geworden. Aber draußen ſtand der Mond am Himmel und ſchien hell auf den weißen Schnee, daß es war, als wolle der Tag ſchon wieder angehen. Der Peter zog ſeinen Schlitten zurecht, ſetzte ſich vorn darauf, das Heidi hinter ihn, und fort ſchoſſen ſie die Alm hinunter, nicht anders, als wären ſie zwei Vögel, die durch die Lüfte ſauſen. Als ſpäter das Heidi auf ſeinem ſchönen, hohen Heubette hinter dem Ofen lag, da kam ihm die Großmutter wieder in den Sinn, wie ſie ſo ſchlecht lag mit dem Kopfe, und dann mußte es an alles denken, was ſie geſagt hatte, und an das Licht, das ihr die Worte im Herzen anzünden. Und es dachte: Wenn die Großmutter nur alle Tage die Worte hören könnte, dann würde es ihr jeden Tag einmal wohl. Aber es wußte, nun konnte eine ganze Woche, oder vielleicht auch zwei, vergehen, ehe es wieder zu ihr hinauf durfte. Das kam dem Heidi ſo traurig vor, daß es immer ſtärker nachſinnen mußte, was es nur machen könnte, daß die Großmutter die Worte jeden Tag zu hören bekäme. Auf einmal fiel ihm die Hilfe ein, und es war ſo froh darüber, daß es meinte, es könne gar nicht erwarten, daß der Morgen wiederkomme und es ſeinen Plan ausführen könne. Auf einmal ſetzte das Heidi ſich wieder ganz gerade auf in ſeinem Bett, denn vor lauter Nachdenken hatte es ja ſein Nachtgebet noch nicht zum lieben Gott hinaufgeſchickt, und das wollte es doch nie mehr vergeſſen. Als es nun ſo recht von Herzen für ſich und den Großvater und die Großmutter gebetet hatte, fiel es auf einmal in ſein weiches Heu zurück und ſchlief ganz feſt und friedlich bis zum hellen Morgen. 5. Der Winter dauert fort