Einige Tage nach dieſen Ereigniſſen war im Hauſe Seſemann große Lebendigkeit und ein eifriges Treppauf- und Treppab-Rennen, denn eben war der Hausherr von ſeiner Reiſe zurückgekehrt, und aus dem bepackten Wagen wurde von Sebaſtian und Tinette eine Laſt nach der andern hinaufgetragen, denn Herr Seſemann brachte immer eine Menge ſchöner Sachen mit nach Haus.
Er ſelbſt war vor Allem in das Zimmer ſeiner Tochter eingetreten, um ſie zu begrüßen. Heidi ſaß bei ihr, denn es war die Zeit des ſpätern Nachmittags, da die Beiden immer zuſammen waren. Klara begrüßte ihren Vater mit großer Zärtlichkeit, denn ſie liebte ihn ſehr, und der gute Papa grüßte ſein Klärchen nicht weniger liebevoll. Dann ſtreckte er ſeine Hand dem Heidi entgegen, das ſich leiſe in eine Ecke zurückgezogen hatte, und ſagte freundlich: „Und das iſt unſere kleine Schweizerin; komm' her, gib mir 'mal eine Hand! So iſt's recht! Nun ſag' mir mal, ſeid ihr auch gute Freunde zuſammen, Klara und du? Nicht zanken und böſe werden und dann weinen und dann verſöhnen und dann wieder von vorn anfangen, nun?“
„Nein, Klara iſt immer gut mit mir“, entgegnete Heidi.
„Und Heidi hat auch noch gar nie verſucht, zu zanken, Papa“, warf Klara ſchnell ein.
„So iſt's gut, das hör' ich gern“, ſagte der Papa, indem er aufſtand. „Nun mußt du aber erlauben, Klärchen, daß ich Etwas genieße, heute habe ich noch Nichts bekommen, nachher komm' ich wieder zu dir und du ſollſt ſehen, was ich mitgebracht habe!“
Herr Seſemann trat in's Eßzimmer ein, wo Fräulein Rottenmeier den Tiſch überſchaute, der für ſein Mittagsmahl gerüſtet war. Nachdem Herr Seſemann ſich niedergelaſſen und die Dame ihm gegenüber Platz genommen hatte und ausſah wie ein lebendiges Mißgeſchick, wandte ſich der Hausherr zu ihr: „Aber Fräulein Rottenmeier, was muß ich denken? Sie haben zu meinem Empfang ein wahrhaft erſchreckendes Geſicht aufgeſetzt. Wo fehlt es denn? Klärchen iſt ja ganz munter.“
„Herr Seſemann“, begann die Dame mit gewichtigem Ernſt, „Klara iſt mitbetroffen, wir ſind fürchterlich getäuſcht worden.“
„Wie ſo?“ fragte Herr Seſemann und trank in aller Ruhe einen Schluck Wein.
„Wir hatten ja beſchloſſen, wie Sie wiſſen, Herr Seſemann, eine Geſpielin für Klara in's Haus zu nehmen, und da ich ja weiß, wie ſehr Sie darauf halten, daß nur Gutes und Edles Ihre Tochter umgebe, hatte ich meinen Sinn auf ein junges Schweizermädchen gerichtet, indem ich hoffte, eines jener Weſen bei uns eintreten zu ſehen, von denen ich ſchon ſo oft geleſen, welche, der reinen Bergluft entſproſſen, ſozuſagen ohne die Erde zu berühren, durch das Leben gehen.“
„Ich glaube zwar“, bemerkte hier Herr Seſemann, „daß auch die Schweizerkinder den Erdboden berühren, wenn ſie vorwärts kommen wollen, ſonſt wären ihnen wohl Flügel gewachſen ſtatt der Füße.“
„Ach, Herr Seſemann, Sie verſtehen mich wohl“, fuhr das Fräulein fort, „ich meinte eine jener ſo bekannten, in den hohen, reinen Bergregionen lebenden Geſtalten, die nur wie ein idealer Hauch an uns vorüberziehn.“
„Was ſollte aber meine Klara mit einem idealen Hauch anfangen, Fräulein Rottenmeier?“
„Nein, Herr Seſemann, ich ſcherze nicht, die Sache iſt mir ernſter, als Sie denken, ich bin ſchrecklich, wirklich ganz erſchrecklich getäuſcht worden.“
„Aber worin liegt denn das Schreckliche? So gar erſchrecklich ſieht mir das Kind nicht aus“, bemerkte ruhig Herr Seſemann.
„Sie ſollten nur Eines wiſſen, Herr Seſemann, nur das Eine, mit was für Menſchen und Thieren dieſes Weſen Ihr Haus in Ihrer Abweſenheit bevölkert hat; davon könnte der Herr Candidat erzählen.“
„Mit Thieren? Wie muß ich das verſtehen, Fräulein Rottenmeier?“
„Es iſt eben nicht zu verſtehen; die ganze Aufführung dieſes Weſens wäre nicht zu verſtehen, wenn nicht aus dem Einen Punkte, daß es Anfälle von völliger Verſtandesgeſtörtheit hat.“
Bis hierher hatte Herr Seſemann die Sache nicht für wichtig gehalten; aber Geſtörtheit des Verſtandes? eine ſolche konnte ja für ſeine Tochter die bedenklichſten Folgen haben. Herr Seſemann ſchaute Fräulein Rottenmeier ſehr genau an, ſo als wollte er ſich erſt verſichern, ob nicht etwa bei ihr eine derartige Störung zu bemerken ſei. In dieſem Augenblick wurde die Thüre aufgethan und der Herr Candidat angemeldet.
„Ach da kommt unſer Herr Candidat, der wird uns Aufſchluß geben“, rief ihm Herr Seſemann entgegen. „Kommen Sie, kommen Sie, ſetzen Sie ſich zu mir!“ Herr Seſemann ſtreckte dem Eintretenden die Hand entgegen. „Der Herr Candidat trinkt eine Taſſe ſchwarzen Kaffee mit mir, Fräulein Rottenmeier! Setzen Sie ſich, ſetzen Sie ſich, keine Complimente! Und nun ſagen Sie mir, Herr Candidat, was iſt mit dem Kinde, das als Geſpielin meiner Tochter in's Haus gekommen iſt und das Sie unterrichten. Was hat es für eine Bewandtniß mit den Thieren, die es in's Haus gebracht und wie ſteht es mit ſeinem Verſtand?“
Der Herr Candidat mußte erſt ſeine Freude über Herrn Seſemann's glückliche Rückkehr ausſprechen und ihn willkommen heißen, weßwegen er ja gekommen war; aber Herr Seſemann drängte ihn, daß er ihm Aufſchluß gebe über die fraglichen Punkte. So begann denn der Herr Candidat: „Wenn ich mich über das Weſen dieſes jungen Mädchens ausſprechen ſoll, Herr Seſemann, ſo möchte ich vor Allem darauf aufmerkſam machen, daß, wenn auch auf der einen Seite ſich ein Mangel der Entwicklung, welcher durch eine mehr oder weniger vernachläſſigte Erziehung, oder beſſer geſagt, etwas verſpäteten Unterricht verurſacht und durch die mehr oder weniger, jedoch durchaus nicht in jeder Beziehung zu verurtheilende, im Gegentheil ihre guten Seiten unſtreitig darthuende Abgeſchiedenheit eines längeren Alpenaufenthalts, welcher, wenn er nicht eine gewiſſe Dauer überſchreitet, ja ohne Zweifel ſeine gute Seite —“
„Mein lieber Herr Candidat“, unterbrach hier Herr Seſemann, „Sie geben ſich wirklich zu viel Mühe; ſagen Sie mir, hat auch Ihnen das Kind einen Schrecken beigebracht durch eingeſchleppte Thiere, und was halten Sie überhaupt von dieſem Umgang für mein Töchterchen?“
„Ich möchte dem jungen Mädchen in keiner Art zu nahe treten“, begann der Herr Candidat wieder, „denn wenn es auch auf der einen Seite in einer Art von geſellſchaftlicher Unerfahrenheit, welche mit dem mehr oder weniger uncultivirten Leben, in welchem das junge Mädchen bis zu dem Augenblick ſeiner Verſetzung nach Frankfurt ſich bewegte, welche Verſetzung allerdings in die Entwicklung dieſes, ich möchte ſagen noch völlig, wenigſtens theilweiſe unentwickelten, aber anderſeits mit nicht zu verachtenden Anlagen begabten und wenn allſeitig umſichtig geleitet —“
„Entſchuldigen Sie, Herr Candidat, bitte, laſſen Sie ſich nicht ſtören, ich werde — ich muß ſchnell einmal nach meiner Tochter ſehen.“ Damit lief Herr Seſemann zur Thür hinaus und kam nicht wieder. Drüben im Studierzimmer ſetzte er ſich zu ſeinem Töchterchen hin; Heidi war aufgeſtanden. Herr Seſemann wandte ſich nach dem Kinde um: „Hör' 'mal, Kleine, hol' mir doch ſchnell — wart' einmal — hol' mir mal —“ (Herr Seſemann wußte nicht recht, was er bedurfte, Heidi ſollte aber ein wenig ausgeſchickt werden) — „hol' mir doch 'mal ein Glas Waſſer.“
„Friſches?“ fragte Heidi.
„Ja wohl! Ja wohl! Recht friſches!“ gab Herr Seſemann zurück. Heidi verſchwand.
„Nun, mein liebes Klärchen“, ſagte der Papa, indem er ganz nah an ſein Töchterchen heranrückte und deſſen Hand in die ſeinige legte, „ſag' du mir klar und faßlich: was für Thiere hat dieſe deine Geſpielin in's Haus gebracht und warum muß Fräulein Rottenmeier denken, ſie ſei zeitweiſe nicht ganz recht im Kopf, kannſt du mir das ſagen?“
Das konnte Klara, denn die erſchrockene Dame hatte auch ihr von Heidi's ſie verwirrenden Reden geſprochen, die aber für Klara alle einen Sinn hatten. Sie erzählte erſt dem Vater die Geſchichten von der Schildkröte und den jungen Katzen und erklärte ihm dann Heidi's Reden, welche die Dame ſo erſchreckt hatten. Jetzt lachte Herr Seſemann herzlich: „So willſt du nicht, daß ich das Kind nach Haus ſchicke, Klärchen, du biſt ſeiner nicht müde?“ fragte der Vater.
„Nein, nein, Papa, thu' nur das nicht!“ rief Klara abwehrend aus. „Seit Heidi da iſt, begegnet immer Etwas, jeden Tag und es iſt ſo kurzweilig, ganz anders als vorher, da begegnete nie Etwas, und Heidi erzählt mir auch ſo viel.“
„Schon gut, ſchon gut, Klärchen, da kommt ja auch deine Freundin ſchon wieder. Na, ſchönes, friſches Waſſer geholt?“ fragte Herr Seſemann, da ihm Heidi nun ein Glas Waſſer hinſtreckte.
„Ja, friſch vom Brunnen“, antwortete Heidi.
„Du biſt doch nicht ſelbſt zum Brunnen gelaufen, Heidi?“ ſagte Klara.
„Doch gewiß, es iſt ganz friſch, aber ich mußte weit gehen, denn am erſten Brunnen waren ſo viele Leute. Da ging ich die Straße ganz hinab, aber beim zweiten waren wieder ſo viel Leute; da ging ich in die andere Straße hinein und dort nahm ich Waſſer und der Herr mit den weißen Haaren läßt Herrn Seſemann freundlich grüßen.“
„Na, die Expedition iſt gut“, lachte Herr Seſemann, „und wer iſt denn der Herr?“
„Er kam beim Brunnen vorbei und dann ſtand er ſtill und ſagte: ‚Weil du doch ein Glas haſt, ſo gib mir auch einmal zu trinken; wem bringſt du dein Glas Waſſer?‘ Und ich ſagte: ‚Herrn Seſemann.‘ Da lachte er ſehr ſtark, und dann ſagte er den Gruß und auch noch, Herr Seſemann ſolle ſich's ſchmecken laſſen.“
„So, und wer läßt mir denn wohl den guten Wunſch ſagen? Wie ſah der Herr denn weiter aus?“ fragte Herr Seſemann.
„Er lacht freundlich und hat eine dicke goldene Kette und ein goldenes Ding hängt daran mit einem großen, rothen Stein und auf ſeinem Stock iſt ein Roßkopf.“
„Das iſt der Herr Doktor“, „Das iſt mein alter Doktor“, ſagten Klara und ihr Vater wie aus Einem Munde und Herr Seſemann lachte noch ein wenig in ſich hinein im Gedanken an ſeinen Freund und deſſen Betrachtungen über dieſe neue Weiſe, ſeinen Waſſerbedarf ſich zuführen zu laſſen.
Noch an demſelben Abend erklärte Herr Seſemann, als er allein mit Fräulein Rottenmeier im Eßzimmer ſaß, um allerlei häusliche Angelegenheiten mit ihr zu beſprechen, die Geſpielin ſeiner Tochter werde im Hauſe bleiben; er finde, das Kind ſei in einem normalen Zuſtand und ſeine Geſellſchaft ſei ſeiner Tochter ſehr lieb und angenehmer, als jede andere. „Ich wünſche daher“, ſetzte Herr Seſemann ſehr beſtimmt hinzu, „daß dieſes Kind jederzeit durchaus freundlich behandelt und ſeine Eigenthümlichkeiten nicht als Vergehen betrachtet werden. Sollten Sie übrigens mit dem Kinde nicht allein fertig werden, Fräulein Rottenmeier, ſo iſt ja eine gute Hülfe für Sie in Ausſicht, da in nächſter Zeit meine Mutter zu ihrem längern Aufenthalt in mein Haus kommt, und meine Mutter wird mit jedem Menſchen fertig, wie er ſich auch anſtelle, das wiſſen Sie ja wohl, Fräulein Rottenmeier?“
„Ja wohl, das weiß ich, Herr Seſemann“, entgegnete die Dame, aber nicht mit dem Ausdruck der Erleichterung im Hinblick auf die angezeigte Hülfe.
Herr Seſemann hatte dieß Mal nur eine kurze Zeit Ruhe zu Hauſe; ſchon nach vierzehn Tagen riefen ihn ſeine Geſchäfte wieder nach Paris, und er tröſtete ſein Töchterchen, das mit der nahen Abreiſe nicht einverſtanden war, mit der Ausſicht auf die baldige Ankunft der Großmama, die ſchon nach einigen Tagen erwartet werden konnte.
Kaum war auch Herr Seſemann abgereiſt, als ſchon der Brief anlangte, der die Abreiſe der Frau Seſemann aus Holſtein, wo ſie auf einem alten Gute wohnte, anzeigte und die beſtimmte Zeit ihrer Ankunft auf den folgenden Tag meldete, damit der Wagen nach dem Bahnhof geſchickt würde, um ſie abzuholen.
Klara war voller Freude über die Nachricht und erzählte noch an demſelben Abend dem Heidi ſo viel und ſo lange von der Großmama, daß Heidi auch anfing, von der „Großmama“ zu reden, worauf Fräulein Rottenmeier Heidi mit Mißbilligung anblickte, was aber das Kind auf nichts Beſonderes bezog, denn es fühlte ſich unter fortdauernder Mißbilligung der Dame. Als es ſich dann ſpäter entfernte, um in ſein Schlafzimmer zu gehen, berief Fräulein Rottenmeier es erſt in das ihrige herein und erklärte ihm hier, es habe niemals den Namen „Großmama“ anzuwenden, ſondern wenn Frau Seſemann nun da ſei, habe es ſie ſtets „gnädige Frau“ anzureden. „Verſtehſt du das?“ fragte die Dame, als Heidi ſie etwas zweifelhaft anſah; ſie gab ihm aber einen ſo abſchließenden Blick zurück, daß Heidi ſich keine Erklärung mehr erbat, obſchon es den Titel nicht verſtanden hatte.