Johanna Spyri: Heidi's Lehr- und Wanderjahre 7. Fräulein Rottenmeier hat einen unruhigen Tag. Als Heidi am erſten Morgen in Frankfurt ſeine Augen aufſchlug, konnte es durchaus nicht begreifen, was es erblicke. Es rieb ganz gewaltig ſeine Augen, guckte dann wieder auf und ſah dasſelbe. Es ſaß auf einem hohen, weißen Bett und vor ſich ſah es einen großen, weiten Raum, und wo die Helle herkam, hingen lange, lange weiße Vorhänge, und dabei ſtanden zwei Seſſel mit großen Blumen darauf, und dann kam ein Sopha an der Wand mit denſelben Blumen und ein runder Tiſch davor und in der Ecke ſtand ein Waſchtiſch mit Sachen darauf, wie Heidi ſie noch gar nie geſehen hatte. Aber nun kam ihm auf einmal in den Sinn, daß es in Frankfurt ſei, und der ganze geſtrige Tag kam ihm in Erinnerung und zuletzt noch ganz klar die Unterweiſungen der Dame, ſo weit es ſie gehört hatte. Heidi ſprang nun von ſeinem Bett herunter und machte ſich fertig. Dann ging es an ein Fenſter und dann an das andere, es mußte den Himmel ſehen und die Erde draußen, es fühlte ſich wie im Käfig hinter den großen Vorhängen. Es konnte dieſe nicht wegſchieben; ſo kroch es dahinter, um an ein Fenſter zu kommen. Aber dieſes war ſo hoch, daß Heidi nur gerade mit dem Kopf ſo weit hinaufreichte, daß es durchſehen konnte. Aber Heidi fand nicht, was es ſuchte. Es lief von einem Fenſter zum andern und dann wieder zum erſten zurück; aber immer war dasſelbe vor ſeinen Augen, Mauern und Fenſter und wieder Mauern und dann wieder Fenſter. Es wurde Heidi ganz bange. Noch war es früh am Morgen, denn Heidi war gewöhnt, früh aufzuſtehen auf der Alm und dann ſogleich hinauszulaufen vor die Thüre und zu ſehen, wie's draußen ſei, ob der Himmel blau und die Sonne ſchon droben ſei, ob die Tannen rauſchen und die kleinen Blumen ſchon die Augen offen haben. Wie das Vögelein, das zum erſten Mal in ſeinem ſchön glänzenden Gefängniß ſitzt, hin- und herſchießt und bei allen Stäben probiert, ob es nicht zwiſchen durchſchlüpfen und in die Freiheit hinausfliegen könnte, ſo lief Heidi immer von dem einen Fenſter zum andern, um zu probiren, ob es nicht aufgemacht werden könnte, denn dann mußte man doch etwas Anderes ſehen, als Mauern und Fenſter, da mußte doch unten der Erdboden, das grüne Gras und der letzte, ſchmelzende Schnee an den Abhängen zum Vorſchein kommen, und Heidi ſehnte ſich, das zu ſehen. Aber die Fenſter blieben feſt verſchloſſen, wie ſehr auch das Kind drehte und zog und von unten ſuchte, die kleinen Finger unter die Rahmen einzutreiben, damit es Kraft hätte, ſie aufzudrücken; es blieb Alles eiſenfeſt aufeinander ſitzen. Nach langer Zeit, als Heidi einſah, daß alle Anſtrengungen Nichts halfen, gab es ſeinen Plan auf und überdachte nun, wie es wäre, wenn es vor das Haus hinausginge und hintenherum, bis es auf den Grasboden käme, denn es erinnerte ſich, daß es geſtern Abend vorn am Haus nur über Steine gekommen war. Jetzt klopfte es an ſeiner Thür und unmittelbar darauf ſteckte Tinette den Kopf herein und ſagte kurz: „Frühſtück bereit.“ Heidi verſtand keineswegs eine Einladung unter dieſen Worten; auf dem ſpöttiſchen Geſicht der Tinette ſtand viel mehr eine Warnung, ihr nicht zu nah zu kommen, als eine freundliche Einladung geſchrieben, und das las Heidi deutlich von dem Geſicht und richtete ſich danach. Es nahm den kleinen Schemel unter dem Tiſch hervor, ſtellte ihn in eine Ecke, ſetzte ſich darauf und wartete ſo ganz ſtill ab, was nun kommen würde. Nach einiger Zeit kam Etwas mit ziemlichem Geräuſch, es war Fräulein Rottenmeier, die ſchon wieder in Aufregung gerathen war und in Heidi's Stube hineinrief: „Was iſt mit dir, Adelheid? Begreifſt du nicht, was ein Frühſtück iſt? Komm' herüber!“ Das verſtand nun Heidi und folgte ſogleich nach. Im Eßzimmer ſaß Klara ſchon lang an ihrem Platz und begrüßte Heidi freundlich, machte auch ein viel vergnügteres Geſicht, als ſonſt gewöhnlich, denn ſie ſah voraus, daß heute wieder allerlei Neues geſchehen würde. Das Frühſtück ging nun ohne Störung vor ſich; Heidi aß ganz anſtändig ſein Butterbrod, und wie Alles zu Ende war, wurde Klara wieder in's Studierzimmer hinübergerollt und Heidi wurde von Fräulein Rottenmeier angewieſen, nachzufolgen und bei Klara zu bleiben, bis der Herr Candidat kommen würde, um die Unterrichtsſtunden zu beginnen. Als die beiden Kinder allein waren, ſagte Heidi ſogleich: „Wie kann man hinausſehen hier und ganz hinunter auf den Boden?“ „Man macht ein Fenſter auf und guckt hinaus“, antwortete Klara beluſtigt. „Man kann dieſe Fenſter nicht aufmachen“, verſetzte Heidi traurig. „Doch, doch“, verſicherte Klara, „nur du noch nicht, und ich kann dir auch nicht helfen, aber wenn du einmal den Sebaſtian ſiehſt, ſo macht er dir ſchon eines auf.“ Das war eine große Erleichterung für Heidi, zu wiſſen, daß man doch die Fenſter öffnen und hinausſchauen könne, denn noch war es ganz unter dem Druck des Gefangenſeins von ſeinem Zimmer her. Klara fing nun an, Heidi zu fragen, wie es bei ihm zu Hauſe ſei, und Heidi erzählte mit Freuden von der Alm und den Gaißen und der Weide und Allem, was ihm lieb war. Unterdeſſen war der Herr Candidat angekommen; aber Fräulein Rottenmeier führte ihn nicht, wie gewöhnlich, in's Studierzimmer, denn ſie mußte ſich erſt ausſprechen und geleitete ihn zu dieſem Zweck in's Eßzimmer, wo ſie ſich vor ihn hinſetzte und ihm in großer Aufregung ihre bedrängte Lage ſchilderte und wie ſie in dieſe hineingekommen war. Sie hatte nämlich vor einiger Zeit Herrn Seſemann nach Paris geſchrieben, wo er eben verweilte, ſeine Tochter habe längſt gewünſcht, es möchte eine Geſpielin für ſie in's Haus aufgenommen werden, und auch ſie ſelbſt glaube, daß eine ſolche in den Unterrichtsſtunden ein Sporn, in der übrigen Zeit eine anregende Geſellſchaft für Klara ſein würde. Eigentlich war die Sache für Fräulein Rottenmeier ſelbſt ſehr wünſchbar, denn ſie wollte gern, daß Jemand da ſei, der ihr die Unterhaltung der kranken Klara abnehme, wenn es ihr zu viel war, was öfters geſchah. Herr Seſemann hatte geantwortet, er erfülle gern den Wunſch ſeiner Tochter, doch mit der Bedingung, daß eine ſolche Geſpielin in Allem ganz gehalten werde wie jene, er wolle keine Kinderquälerei in ſeinem Hauſe, was freilich eine ſehr unnütze Bemerkung von dem Herrn war, ſetzte Fräulein Rottenmeier hinzu, denn wer wollte Kinder quälen! Nun aber erzählte ſie weiter, wie ganz erſchrecklich ſie hineingefallen ſei mit dem Kinde, und führte alle Beiſpiele von ſeinem völlig begriffsloſen Daſein an, die es bis jetzt geliefert hatte, daß nicht nur der Unterricht des Herrn Candidaten buchſtäblich beim ABC anfangen müſſe, ſondern daß auch ſie auf jedem Punkte der menſchlichen Erziehung mit dem Uranfang zu beginnen hätte. Aus dieſer unheilvollen Lage ſehe ſie nur Ein Rettungsmittel, wenn der Herr Candidat erklären werde, zwei ſo verſchiedene Weſen könnten nicht mit einander unterrichtet werden, ohne großen Schaden des vorgerückteren Theiles; das wäre für Herrn Seſemann ein triftiger Grund, die Sache rückgängig zu machen, und ſo würde er zugeben, daß das Kind gleich wieder dahin zurückgeſchickt würde, woher es gekommen war; ohne ſeine Zuſtimmung aber dürfte ſie das nicht unternehmen, nun der Hausherr wiſſe, daß das Kind angekommen ſei. Aber der Herr Candidat war behutſam und niemals einſeitig im Urtheilen. Er tröſtete Fräulein Rottenmeier mit vielen Worten und der Anſicht, wenn die junge Tochter auf der einen Seite ſo ſehr zurück ſei, ſo möchte ſie auf der andern um ſo geförderter ſein, was bei einem geregelten Unterricht bald in's Gleichgewicht kommen werde. Als Fräulein Rottenmeier ſah, daß der Herr Candidat ſie nicht unterſtützen, ſondern ſeinen ABC-Unterricht übernehmen wollte, machte ſie ihm die Thüre zum Studierzimmer auf, und nachdem er hineingetreten war, ſchloß ſie ſchnell hinter ihm zu und blieb auf der andern Seite, denn vor dem ABC hatte ſie einen Schrecken. Sie ging jetzt mit großen Schritten im Zimmer auf und nieder, denn ſie hatte zu überlegen, wie die Dienſtboten Adelheid zu benennen hätten. Herr Seſemann hatte ja geſchrieben, ſie müßte wie ſeine Tochter gehalten werden, und dieſes Wort mußte ſich hauptſächlich auf das Verhältniß zu den Dienſtboten beziehen, dachte Fräulein Rottenmeier. Sie konnte aber nicht lange ungeſtört überlegen, denn auf einmal ertönte drinnen im Studierzimmer ein erſchreckliches Gekrache fallender Gegenſtände und dann ein Hülferuf nach Sebaſtian. Sie ſtürzte hinein. Da lag auf dem Boden Alles übereinander, die ſämmtlichen Studien-Hülfsmittel, Bücher, Hefte, Tintenfaß und obendarauf der Tiſchteppich, unter dem ein ſchwarzes Tintenbächlein hervorfloß, die ganze Stube entlang. Heidi war verſchwunden. „Da haben wir's!“ rief Fräulein Rottenmeier händeringend aus. „Teppich, Bücher, Arbeitskorb, Alles in der Tinte! das iſt noch nie geſchehen! das iſt das Unglücksweſen, da iſt kein Zweifel!“ Der Herr Candidat ſtand ſehr erſchrocken da und ſchaute auf die Verwüſtung, die für einmal nur Eine Seite hatte und eine recht beſtürzende. Klara dagegen verfolgte mit vergnügtem Geſicht die ungewöhnlichen Ereigniſſe und deren Wirkungen und ſagte nun erklärend: „Ja, Heidi hat's gemacht, aber nicht mit Abſicht, es muß gewiß nicht geſtraft werden, es war nur ſo ſchrecklich eilig, fortzukommen und riß den Teppich mit und ſo fiel Alles hintereinander auf den Boden. Es fuhren viele Wagen nacheinander vorbei, darum iſt es ſo fortgeſchoſſen; es hat vielleicht noch nie eine Kutſche geſehen.“ „Da, iſt's nicht, wie ich ſagte, Herr Candidat? Nicht Einen Urbegriff hat das Weſen! Keine Ahnung davon, was eine Unterrichtsſtunde iſt, daß man dabei zuzuhören und ſtill zu ſitzen hat. Aber wo iſt das Unheil bringende Ding hin? Wenn es fortgelaufen wäre! Was würde mir Herr Seſemann —“ Fräulein Rottenmeier lief hinaus und die Treppe hinunter. Hier, unter der geöffneten Hausthüre ſtand Heidi und guckte ganz verblüfft die Straße auf und ab. „Was iſt denn? Was fällt dir denn ein? Wie kannſt du ſo davonlaufen?“ fuhr Fräulein Rottenmeier das Kind an. „Ich habe die Tannen rauſchen gehört, aber ich weiß nicht, wo ſie ſtehen, und höre ſie nicht mehr“, antwortete Heidi und ſchaute enttäuſcht nach der Seite hin, wo das Rollen der Wagen verhallt hatte, das in Heidi's Ohren dem Toſen des Föhns in den Tannen ähnlich geklungen hatte, ſo daß es in höchſter Freude dem Ton nachgerannt war. „Tannen! Sind wir im Wald? Was ſind das für Einfälle! Komm' herauf und ſieh', was du angerichtet haſt!“ Damit ſtieg Fräulein Rottenmeier wieder die Treppe hinan; Heidi folgte ihr und ſtand nun ſehr verwundert vor der großen Verheerung, denn es hatte nicht bemerkt, was es Alles mitriß vor Freude und Eile, die Tannen zu hören. „Das haſt du Ein Mal gethan, ein zweites Mal thuſt du's nicht wieder“, ſagte Fräulein Rottenmeier auf den Boden zeigend; „zum Lernen ſitzt man ſtill auf ſeinem Seſſel und gibt Acht. Kannſt du das nicht ſelbſt fertig bringen, ſo muß ich dich an deinen Stuhl feſtbinden. Kannſt du das verſtehen?“ „Ja“, entgegnete Heidi, „aber ich will ſchon feſtſitzen.“ Denn jetzt hatte es begriffen, daß es eine Regel iſt, in einer Unterrichtsſtunde ſtill zu ſitzen. Jetzt mußten Sebaſtian und Tinette hereinkommen, um die Ordnung wieder herzuſtellen. Der Herr Candidat entfernte ſich, denn der weitere Unterricht mußte nun aufgegeben werden. Zum Gähnen war heute gar keine Zeit geweſen. Am Nachmittag mußte Klara immer eine Zeit lang ruhen und Heidi hatte alsdann ſeine Beſchäftigung ſelbſt zu wählen; ſo hatte Fräulein Rottenmeier ihm am Morgen erklärt. Als nun nach Tiſch Klara ſich in ihrem Seſſel zur Ruhe gelegt hatte, ging Fräulein Rottenmeier nach ihrem Zimmer, und Heidi ſah, daß nun die Zeit da war, da es ſeine Beſchäftigung ſelbſt wählen konnte. Das war dem Heidi ſehr erwünſcht, denn es hatte ſchon immer im Sinn, Etwas zu unternehmen; es mußte aber Hülfe dazu haben und ſtellte ſich darum vor das Eßzimmer mitten auf den Corridor, damit die Perſönlichkeit, die es zu berathen gedachte, ihm nicht entgehen könne. Richtig, nach kurzer Zeit kam Sebaſtian die Treppe herauf mit dem großen Theebrett auf den Armen, denn er brachte das Silberzeug aus der Küche herauf, um es im Schrank des Eßzimmers zu verwahren. Als er auf der letzten Stufe der Treppe angekommen war, trat Heidi vor ihn hin und ſagte mit großer Deutlichkeit: „Sie oder Er!“ Sebaſtian riß die Augen ſo weit auf, als es nur möglich war, und ſagte ziemlich barſch: „Was ſoll das heißen, Mamſell?“ „Ich möchte nur gern Etwas fragen, aber es iſt gewiß nichts Böſes wie heute Morgen“, fügte Heidi beſchwichtigend hinzu, denn es merkte, daß Sebaſtian ein wenig erbittert war, und dachte, es komme noch von der Tinte am Boden her. „So, und warum muß es denn heißen Sie oder Er, das möcht' ich zuerſt wiſſen“, gab Sebaſtian im gleichen barſchen Ton zurück. „Ja, ſo muß ich jetzt immer ſagen“, verſicherte Heidi, „Fräulein Rottenmeier hat es befohlen.“ Jetzt lachte Sebaſtian ſo laut auf, daß Heidi ihn ganz verwundert anſehen mußte, denn es hatte nichts Luſtiges bemerkt; aber Sebaſtian hatte auf einmal begriffen, was Fräulein Rottenmeier befohlen hatte, und ſagte nun ſehr erluſtigt: „Schon recht, ſo fahre die Mamſell nur zu.“ „Ich heiße gar nicht Mamſell“, ſagte nun Heidi ſeinerſeits ein wenig geärgert, „ich heiße Heidi.“ „Iſt ſchon recht; die gleiche Dame hat aber befohlen, daß ich Mamſell ſage“, erklärte Sebaſtian. „Hat ſie? Ja, dann muß ich ſchon ſo heißen“, ſagte Heidi mit Ergebung, denn es hatte wohl gemerkt, daß Alles ſo geſchehen mußte, wie Fräulein Rottenmeier befahl. „Jetzt habe ich ſchon drei Namen“, ſetzte es mit einem Seufzer hinzu. „Was wollte die kleine Mamſell denn fragen?“ fragte Sebaſtian jetzt, indem er, in's Eßzimmer eingetreten, ſein Silberzeug im Schrank zurecht legte. „Wie kann man ein Fenſter aufmachen, Sebaſtian?“ „So, gerade ſo“, und er machte den großen Fenſterflügel auf. Heidi trat heran, aber es war zu klein, um Etwas ſehen zu können; es langte nur bis zum Geſims hinauf. „Da, ſo kann das Mamſellchen einmal hinausgucken und ſehen, was unten iſt“, ſagte Sebaſtian, indem er einen hohen hölzernen Schemel herbeigeholt hatte und hinſtellte. Hoch erfreut ſtieg Heidi hinauf und konnte endlich den erſehnten Blick durch das Fenſter thun. Aber mit dem Ausdruck der größten Enttäuſchung zog es ſogleich den Kopf wieder zurück. „Man ſieht nur die ſteinerne Straße hier, ſonſt gar Nichts“, ſagte das Kind bedauerlich; „aber wenn man um das ganze Haus herum geht, was ſieht man dann auf der andern Seite, Sebaſtian?“ „Gerade dasſelbe“, gab dieſer zur Antwort. „Aber wohin kann man denn gehen, daß man weit, weit hinunter ſehen kann über das ganze Thal hinab?“ „Da muß man auf einen hohen Thurm hinaufſteigen, einen Kirchthurm, ſo einen, wie der dort iſt mit der goldnen Kugel oben drauf. Da guckt man von oben herunter und ſieht weit über Alles weg.“ Jetzt ſtieg Heidi eilig von ſeinem Schemel herunter, rannte zur Thüre hinaus, die Treppe hinunter und trat auf die Straße hinaus. Aber die Sache ging nicht, wie Heidi ſich vorgeſtellt hatte. Als es aus dem Fenſter den Thurm geſehen hatte, kam es ihm vor, es könne nur über die Straße gehen, ſo müßte er gleich vor ihm ſtehen. Nun ging Heidi die ganze Straße hinunter, aber es kam nicht an den Thurm, konnte ihn auch nirgends mehr entdecken und kam nun in eine andere Straße hinein und weiter und weiter, aber immer noch ſah es den Thurm nicht. Es gingen viele Leute an ihm vorbei, aber die waren Alle ſo eilig, daß Heidi dachte, ſie haben nicht Zeit, ihm Beſcheid zu geben. Jetzt ſah es an der nächſten Straßenecke einen Jungen ſtehen, der eine kleine Drehorgel auf dem Rücken und ein ganz curioſes Thier auf dem Arme trug. Heidi lief zu ihm hin und fragte: „Wo iſt der Thurm mit der goldnen Kugel zu oberſt?“ „Weiß nicht“, war die Antwort. „Wen kann ich denn fragen, wo er ſei?“ fragte Heidi weiter. „Weiß nicht.“ „Weißt du keine andere Kirche mit einem hohen Thurm?“ „Freilich weiß ich eine.“ „So komm' und zeige mir ſie.“ „Zeig' du zuerſt, was du mir dafür gibſt.“ Der Junge hielt ſeine Hand hin. Heidi ſuchte in ſeiner Taſche herum. Jetzt zog es ein Bildchen hervor, darauf ein ſchönes Kränzchen von rothen Roſen gemalt war; erſt ſah es noch eine kleine Weile darauf hin, denn es reute Heidi ein wenig. Erſt heute Morgen hatte Klara es ihm geſchenkt, aber hinunterſehen in's Thal, über die grünen Abhänge! „Da“, ſagte Heidi und hielt das Bildchen hin, „willſt du das?“ Der Junge zog die Hand zurück und ſchüttelte den Kopf. „Was willſt du denn?“ fragte Heidi und ſteckte vergnügt ſein Bildchen wieder ein. „Geld.“ „Ich habe keins, aber Klara hat, ſie gibt mir dann ſchon, wie viel willſt du?“ „Zwanzig Pfennige.“ „So komm jetzt.“ Nun wanderten die Beiden eine lange Straße hin, und auf dem Wege fragte Heidi den Begleiter, was er auf dem Rücken trage und er erklärte ihm, es ſei eine ſchöne Orgel unter dem Tuch, die mache eine prachtvolle Muſik, wenn er daran drehe. Auf einmal ſtanden ſie vor einer alten Kirche mit hohem Thurm; der Junge ſtand ſtill und ſagte: „Da!“ „Aber wie komm' ich da hinein?“ fragte Heidi, als es die feſtverſchloſſenen Thüren ſah. „Weiß nicht“, war wieder die Antwort. „Glaubſt du, man könne hier klingeln, ſo wie man dem Sebaſtian thut?“ „Weiß nicht.“ Heidi hatte eine Klingel entdeckt an der Mauer und zog jetzt aus allen Kräften daran. „Wenn ich dann hinaufgehe, ſo mußt du warten hier unten, ich weiß jetzt den Weg nicht mehr zurück, du mußt mir ihn dann zeigen.“ „Was gibſt du mir dann?“ „Was muß ich dir dann wieder geben?“ „Wieder zwanzig Pfennige.“ Jetzt wurde das alte Schloß inwendig umgedreht und die knarrende Thüre geöffnet; ein alter Mann trat heraus und ſchaute erſt verwundert, dann ziemlich erzürnt auf die Kinder und fuhr ſie an: „Was unterſteht ihr euch, mich da herunterzuklingeln? Könnt ihr nicht leſen, was über der Klingel ſteht: ‚Für Solche, die den Thurm beſteigen wollen?‘“ Der Junge wies mit dem Zeigefinger auf Heidi und ſagte kein Wort. Heidi antwortete: „Eben auf den Thurm wollte ich.“ „Was haſt du droben zu thun?“ fragte der Thürmer; „hat dich Jemand geſchickt?“ „Nein“, entgegnete Heidi, „ich möchte nur hinaufgehen, daß ich hinunterſehen kann.“ „Macht, daß ihr heimkommt und probirt den Spaß nicht wieder, oder ihr kommt nicht gut weg zum zweiten Mal!“ Damit kehrte ſich der Thürmer um und wollte die Thüre zumachen. Aber Heidi hielt ihn ein wenig am Rockſchooß und ſagte bittend: „Nur ein einziges Mal!“ Er ſah ſich um und Heidi's Augen ſchauten ſo flehentlich zu ihm auf, daß es ihn ganz umſtimmte; er nahm das Kind bei der Hand und ſagte freundlich: „Wenn dir ſo viel daran gelegen iſt, ſo komm' mit mir!“ Der Junge ſetzte ſich auf die ſteinernen Stufen vor der Thüre nieder und zeigte, daß er nicht mit wollte. Heidi ſtieg an der Hand des Thürmers viele, viele Treppen hinauf; dann wurden dieſe immer ſchmaler, und endlich ging es noch ein ganz enges Treppchen hinauf, und nun waren ſie oben. Der Thürmer hob Heidi vom Boden auf und hielt es an das offene Fenſter. „Da, jetzt guck hinunter“, ſagte er. Heidi ſah auf ein Meer von Dächern, Thürmen und Schornſteinen nieder; es zog bald ſeinen Kopf zurück und ſagte niedergeſchlagen: „Es iſt gar nicht, wie ich gemeint habe.“ „Siehſt du wohl? Was verſteht ſo ein Kleines von Ausſicht! So, komm' nun wieder herunter und läute nie mehr an einem Thurm!“ Der Thürmer ſtellte Heidi wieder auf den Boden und ſtieg ihm voran die ſchmalen Treppchen hinab. Wo dieſe breiter wurden, kam links die Thüre, die in des Thürmers Stübchen führte, und nebenan ging der Boden bis unter das ſchräge Dach hin. Dort hinten ſtand ein großer Korb und davor ſaß eine dicke graue Katze und knurrte, denn in dem Korb wohnte ihre Familie und ſie wollte jeden Vorübergehenden davor warnen, ſich in ihre Familienangelegenheiten zu miſchen. Heidi ſtand ſtill und ſchaute verwundert hinüber, eine ſo mächtige Katze hatte es noch nie geſehen; in dem alten Thurm wohnten aber ganze Heerden von Mäuſen, ſo holte ſich die Katze ohne Mühe jeden Tag ein halbes Dutzend Mäuſebraten. Der Thürmer ſah Heidi's Bewunderung und ſagte: „Komm', ſie thut dir Nichts, wenn ich dabei bin; du kannſt die Jungen anſehen.“ Heidi trat an den Korb heran und brach in ein großes Entzücken aus. „O, die netten Thierlein! die ſchönen Kätzchen!“ rief es ein Mal um's andere und ſprang hin und her um den Korb herum, um auch recht alle komiſchen Geberden und Sprünge zu ſehen, welche die ſieben oder acht jungen Kätzchen vollführten, die in dem Korb raſtlos übereinanderhin krabbelten, ſprangen, fielen. „Willſt du eins haben?“ fragte der Thürmer, der Heidi's Freudenſprüngen vergnügt zuſchaute. „Selbſt für mich? für immer?“ fragte Heidi geſpannt und konnte das große Glück faſt nicht glauben. „Ja, gewiß, du kannſt auch noch mehr haben, du kannſt ſie alle zuſammen haben, wenn du Platz haſt“, ſagte der Mann, dem es gerade recht war, ſeine kleinen Katzen los zu werden, ohne daß er ihnen ein Leid anthun mußte. Heidi war im höchſten Glück. In dem großen Hauſe hatten ja die Kätzchen ſo viel Platz, und wie mußte Klara erſtaunt und erfreut ſein, wenn die niedlichen Thierchen ankamen! „Aber wie kann ich ſie mitnehmen?“ fragte nun Heidi und wollte ſchnell einige fangen mit ſeinen Händen, aber die dicke Katze ſprang ihm auf den Arm und fauchte es ſo grimmig an, daß es ſehr erſchrocken zurückfuhr. „Ich will ſie dir bringen, ſag' nur wohin“, ſagte der Thürmer, der die alte Katze nun ſtreichelte, um ſie wieder gut zu machen, denn ſie war ſeine Freundin und hatte ſchon viele Jahre mit ihm auf dem Thurm gelebt. „Zum Herrn Seſemann in dem großen Haus, wo an der Hausthüre ein goldener Hundskopf iſt mit einem dicken Ring im Maul“, erklärte Heidi. Es hätte nicht einmal ſo viel gebraucht für den Thürmer, der ſchon ſeit langen Jahren auf dem Thurm ſaß und jedes Haus weithin kannte, und dazu war der Sebaſtian noch ein alter Bekannter von ihm. „Ich weiß ſchon“, bemerkte er; „aber wem muß ich die Dinger bringen, wem muß ich nachfragen, du gehörſt doch nicht Herrn Seſemann?“ „Nein, aber die Klara, ſie hat eine ſo große Freude, wenn die Kätzchen kommen!“ Der Thürmer wollte nun weiter gehen, aber Heidi konnte ſich von dem unterhaltenden Schauſpiel faſt nicht trennen. „Wenn ich nur ſchon eins oder zwei mitnehmen könnte! Eins für mich und eins für Klara, kann ich nicht?“ „So wart' ein wenig“, ſagte der Thürmer, trug dann die alte Katze behutſam in ſein Stübchen hinein und ſtellte ſie an das Eßſchüſſelchen hin, ſchloß die Thüre vor ihr zu und kam zurück: „So, nun nimm zwei!“ Heidi's Augen leuchteten vor Wonne. Er las ein weißes und dann ein gelb- und weißgeſtreiftes aus und ſteckte eins in die rechte und eins in die linke Taſche. Nun ging's die Treppe hinunter. Der Junge ſaß noch auf den Stufen draußen, und als nun der Thürmer hinter Heidi die Thüre zugeſchloſſen hatte, ſagte das Kind: „Welchen Weg müſſen wir nun zu Herrn Seſemann's Haus?“ „Weiß nicht“, war die Antwort. Heidi fing nun an zu beſchreiben, was es wußte, die Hausthür und die Fenſter und die Treppen, aber der Junge ſchüttelte zu Allem den Kopf, es war ihm Alles unbekannt. „Siehſt du“, fuhr dann Heidi im Beſchreiben fort, „aus einem Fenſter ſieht man ein großes, großes, graues Haus und das Dach geht ſo“ — Heidi zeichnete hier mit dem Zeigefinger große Zacken in die Luft hinaus. Jetzt ſprang der Junge auf, er mochte ähnliche Merkmale haben, ſeine Wege zu finden. Er lief nun in Einem Zug drauf los und Heidi hinter ihm drein, und in kurzer Zeit ſtanden ſie richtig vor der Hausthüre mit dem großen Meſſingthierkopf. Heidi zog die Glocke. Bald erſchien Sebaſtian, und wie er Heidi erblickte, rief er drängend: „Schnell! Schnell!“ Heidi ſprang eilig herein, und Sebaſtian ſchlug die Thüre zu; den Jungen, der verblüfft draußen ſtand, hatte er gar nicht bemerkt. „Schnell, Mamſellchen“, drängte Sebaſtian weiter, „gleich in's Eßzimmer hinein, ſie ſitzen ſchon am Tiſch, Fräulein Rottenmeier ſieht aus wie eine geladene Kanone; was ſtellt aber auch die kleine Mamſell an, ſo fortzulaufen?“ Heidi war in's Zimmer getreten. Fräulein Rottenmeier blickte nicht auf; Klara ſagte auch Nichts, es war eine etwas unheimliche Stille. Sebaſtian rückte Heidi den Seſſel zurecht. Jetzt, wie es auf ſeinem Stuhl ſaß, begann Fräulein Rottenmeier mit ſtrengem Geſicht und einem ganz feierlich-ernſten Ton: „Adelheid, ich werde nachher mit dir ſprechen, jetzt nur ſo viel: du haſt dich ſehr ungezogen, wirklich ſtrafbar benommen, daß du das Haus verläſſeſt, ohne zu fragen, ohne daß Jemand ein Wort davon wußte und herumſtreichſt bis zum ſpäten Abend, es iſt eine völlig beiſpielloſe Aufführung.“ „Miau“, tönte es wie als Antwort zurück. Aber jetzt ſtieg der Zorn der Dame: „Wie, Adelheid“, rief ſie in immer höheren Tönen, „du unterſtehſt dich noch, nach aller Ungezogenheit einen ſchlechten Spaß zu machen? Hüte dich wohl, ſag' ich dir!“ „Ich mache“, fing Heidi an — „Miau! Miau!“ Sebaſtian warf faſt ſeine Schüſſel auf den Tiſch und ſtürzte hinaus. „Es iſt genug“, wollte Fräulein Rottenmeier rufen; aber vor Aufregung tönte ihre Stimme gar nicht mehr. „Steh' auf und verlaß das Zimmer.“ Heidi ſtand erſchrocken von ſeinem Seſſel auf und wollte noch einmal erklären: „Ich mache gewiß“ — „Miau! Miau! Miau!“ „Aber Heidi“, ſagte jetzt Klara, „wenn du doch ſiehſt, daß du Fräulein Rottenmeier ſo böſe machſt; warum machſt du immer wieder miau?“ „Ich mache nicht, die Kätzlein machen“, konnte Heidi endlich ungeſtört hervorbringen. „Wie? Was? Katzen? junge Katzen?“ ſchrie Fräulein Rottenmeier auf. „Sebaſtian! Tinette! Sucht die greulichen Thiere! ſchafft ſie fort!“ damit ſtürzte die Dame in's Studierzimmer hinein und riegelte die Thüren zu, um ſicherer zu ſein, denn junge Katzen waren für Fräulein Rottenmeier das Schrecklichſte in der Schöpfung. Sebaſtian ſtand draußen vor der Thür und mußte erſt fertig lachen, eh' er wieder eintreten konnte. Er hatte, als er Heidi bediente, einen kleinen Katzenkopf aus deſſen Taſche herausgucken geſehen und ſah dem Spektakel entgegen, und wie er nun ausbrach, konnte er ſich nicht mehr halten, kaum noch ſeine Schüſſel auf den Tiſch ſetzen. Endlich trat er denn wieder gefaßt in's Zimmer herein, nachdem die Hülferufe der geängſteten Dame ſchon längere Zeit verklungen waren. Jetzt ſah es ganz ſtill und friedlich aus drinnen; Klara hielt die Kätzchen auf ihrem Schooß, Heidi kniete neben ihr und Beide ſpielten mit großer Wonne mit den zwei winzigen, graziöſen Thierchen. „Sebaſtian“, ſagte Klara zu dem Eintretenden, „Sie müſſen uns helfen; Sie müſſen ein Neſt finden für die Kätzchen, wo Fräulein Rottenmeier ſie nicht ſieht, denn ſie fürchtet ſich vor ihnen und will ſie fort haben; aber wir wollen die niedlichen Thierchen behalten und ſie immer hervorholen, ſobald wir allein ſind. Wo kann man ſie hinthun?“ „Das will ich ſchon beſorgen, Fräulein Klara“, entgegnete Sebaſtian bereitwillig; „ich mache ein ſchönes Bettchen in einem Korb und ſtelle den an einen Ort, wo mir die furchtſame Dame nicht dahinterkommt, verlaſſen Sie ſich auf mich.“ Sebaſtian ging gleich an die Arbeit und kicherte beſtändig vor ſich hin, denn er dachte: „Das wird noch was abſetzen!“ und der Sebaſtian ſah es nicht ungern, wenn Fräulein Rottenmeier ein wenig in Aufregung gerieth. Nach längerer Zeit erſt, als der Augenblick des Schlafengehens nahte, machte Fräulein Rottenmeier ein ganz klein wenig die Thüre auf und rief durch das Spältchen heraus: „Sind die abſcheulichen Thiere fortgeſchafft?“ „Ja wohl! Ja wohl!“ gab Sebaſtian zurück, der ſich im Zimmer zu ſchaffen gemacht hatte in Erwartung dieſer Frage. Schnell und leiſe faßte er die beiden Kätzchen auf Klara's Schooß und verſchwand damit. Die beſondere Strafrede, die Fräulein Rottenmeier Heidi noch zu halten gedachte, verſchob ſie auf den folgenden Tag, denn heute fühlte ſie ſich zu erſchöpft nach all' den vorhergegangenen Gemüthsbewegungen von Aerger, Zorn und Schrecken, die ihr Heidi ganz unwiſſentlich nacheinander verurſacht hatte. Sie zog ſich ſchweigend zurück, und Klara und Heidi folgten vergnügt nach, denn ſie wußten ihre Kätzchen in einem guten Bett. 8. Im Hauſe Seſemann geht's unruhig zu.