Johanna Spyri: Heidi's Lehr- und Wanderjahre 13. Am Sommerabend die Alm hinan. Herr Seſemann ſtieg in großer Erregtheit die Treppe hinauf und wanderte mit feſtem Schritt zum Schlafgemach der Dame Rottenmeier. Hier klopfte er ſo ungewöhnlich kräftig an die Thür, daß die Bewohnerin mit einem Schreckensruf aus dem Schlaf auffuhr. Sie hörte die Stimme des Hausherrn draußen. „Bitte ſich zu beeilen und im Eßzimmer zu erſcheinen, es muß ſofort eine Abreiſe vorbereitet werden.“ Fräulein Rottenmeier ſchaute auf ihre Uhr, es war halb fünf des Morgens; zu ſolcher Stunde war ſie in ihrem Leben noch nie aufgeſtanden. Was konnte nur vorgefallen ſein? Vor Neugierde und angſtvoller Erwartung nahm ſie Alles verkehrt in die Hand und kam durchaus nicht vorwärts, denn was ſie einmal auf den Leib gebracht hatte, ſuchte ſie nachher raſtlos im Zimmer herum. Unterdeſſen ging Herr Seſemann den Corridor entlang und zog mit aller Kraft an jedem Glockenzug, der je für die verſchiedenen Glieder der Dienerſchaft angebracht war, ſo daß in jedem der betreffenden Zimmer eine Schreckensgeſtalt aus dem Bett ſprang und verkehrt in die Kleider fuhr, denn Einer wie der Andere dachte ſogleich, das Geſpenſt habe irgendwie den Hausherrn gepackt und dieß ſei ſein Hülferuf. So kamen ſie nach und nach, Einer ſchauerlicher ausſehend, als der Andere, herunter und ſtellten ſich mit Erſtaunen vor den Hausherrn hin, denn dieſer ging friſch und munter im Eßzimmer auf und ab und ſah keineswegs aus, als habe ihn ein Geſpenſt erſchreckt. Johann wurde ſofort hingeſchickt, Pferde und Wagen in Ordnung zu bringen und ſie nachher vorzuführen. Tinette erhielt den Auftrag, ſogleich Heidi aufzuwecken und es in den Stand zu ſtellen, eine Reiſe anzutreten. Sebaſtian erhielt den Auftrag, nach dem Hauſe zu eilen, wo Heidi's Baſe im Dienſt ſtand, und dieſe herbeizuholen. Fräulein Rottenmeier war unterdeſſen zurechtgekommen mit ihrem Anzug und Alles ſaß, wie es mußte, nur die Haube ſaß verkehrt auf dem Kopf, ſo daß es von Weitem ausſah, als ſitze ihr das Geſicht auf dem Rücken. Herr Seſemann ſchrieb den räthſelhaften Anblick dem frühen Schlafbrechen zu und ging unverweilt an die Geſchäftsverhandlungen. Er erklärte der Dame, ſie habe ohne Zögern einen Koffer zur Stelle zu ſchaffen, die ſämmtliche Habe des Schweizerkindes hineinzupacken — ſo nannte Herr Seſemann gewöhnlich das Heidi, deſſen Name ihm etwas ungewohnt war —, dazu noch einen guten Theil von Klara's Zeug, damit das Kind was Rechtes mitbringe; es müſſe aber alles ſchnell und ohne langes Beſinnen vor ſich gehen. Fräulein Rottenmeier blieb vor Ueberraſchung wie in den Boden eingewurzelt ſtehen und ſtarrte Herrn Seſemann an. Sie hatte erwartet, er wolle ihr im Vertrauen die Mittheilung einer ſchauerlichen Geiſtergeſchichte machen, die er in der Nacht erlebt und die ſie eben jetzt bei dem hellen Morgenlicht nicht ungern gehört hätte; ſtatt deſſen dieſe völlig proſaiſchen und dazu noch ſehr unbequemen Aufträge. So ſchnell konnte ſie das Unerwartete nicht bewältigen. Sprachlos ſtand ſie immer noch da und erwartete ein Weiteres. Aber Herr Seſemann hatte keine Erklärungen im Sinn; er ließ die Dame ſtehen, wo ſie ſtand, und ging nach dem Zimmer ſeiner Tochter. Wie er vermuthet hatte, war dieſe durch die ungewöhnliche Bewegung im Hauſe wach geworden und lauſchte nach allen Seiten hin, was wohl vorgehe. Der Vater ſetzte ſich nun an ihr Bett und erzählte ihr den ganzen Verlauf der Geiſtererſcheinung und daß Heidi nach des Doktors Ausſpruch ſehr angegriffen ſei und wohl nach und nach ſeine nächtlichen Wanderungen ausdehnen, vielleicht gar das Dach beſteigen würde, was dann mit den höchſten Gefahren verbunden wäre. Er habe alſo beſchloſſen, das Kind ſofort heimzuſchicken, denn ſolche Verantwortung könne er nicht auf ſich nehmen, und Klara müſſe ſich darein finden, ſie ſehe ja ein, daß es nicht anders ſein könne. Klara war ſehr ſchmerzlich überraſcht von der Mittheilung und wollte erſt allerlei Auswege finden, aber es half Nichts, der Vater blieb feſt bei ſeinem Entſchluß, verſprach aber, im nächſten Jahre mit Klara nach der Schweiz zu reiſen, wenn ſie nun recht vernünftig ſei und keinen Jammer erhebe. So ergab ſich Klara in das Unvermeidliche, begehrte aber zum Erſatz, daß der Koffer für Heidi in ihr Zimmer gebracht und da verpackt werde, damit ſie hineinſtecken könne, was ihr Freude mache, was der Papa ſehr gern bewilligte, ja er ermunterte Klara noch, dem Kinde eine ſchöne Ausſteuer zurechtzumachen. Unterdeſſen war die Baſe Dete angelangt und ſtand in großer Erwartung im Vorzimmer, denn daß ſie um dieſe ungewöhnliche Zeit einberufen worden war, mußte etwas Außerordentliches bedeuten. Herr Seſemann trat zu ihr heraus und erklärte ihr, wie es mit Heidi ſtehe, und daß er wünſche, ſie möchte das Kind ſofort, gleich heute noch, nach Hauſe bringen. Die Baſe ſah ſehr enttäuſcht aus, dieſe Nachricht hatte ſie nicht erwartet. Sie erinnerte ſich auch noch recht wohl der Worte, die ihr der Oehi mit auf den Weg gegeben hatte, daß ſie ihm nie mehr vor die Augen kommen ſolle, und ſo das Kind dem Alten einmal bringen und dann nehmen und dann wiederbringen, das ſchien ihr nicht ganz gerathen zu ſein. Sie beſann ſich alſo nicht lange, ſondern ſagte mit großer Beredtſamkeit, heute wäre es ihr leider völlig unmöglich, die Reiſe anzutreten, und morgen könnte ſie noch weniger daran denken, und die Tage darauf wäre es am allerunmöglichſten, um der darauffallenden Geſchäfte willen, und nachher könnte ſie dann gar nicht mehr. Herr Seſemann verſtand die Sprache und entließ die Baſe ohne Weiteres. Nun ließ er den Sebaſtian vortreten und erklärte ihm, er habe ſich unverzüglich zur Reiſe zu rüſten; heute habe er mit dem Kinde bis nach Baſel zu fahren, morgen bringe er es heim. Dann könne er ſogleich wieder umkehren, zu berichten habe er Nichts, ein Brief an den Großvater werde dieſem Alles erklären. „Nun aber noch eine Hauptſache, Sebaſtian“, ſchloß Herr Seſemann, „und daß Er mir das pünktlich beſorgt! Den Gaſthof in Baſel, den ich Ihm hier auf meine Karte geſchrieben, kenne ich. Er weiſt meine Karte vor, dann wird Ihm ein gutes Zimmer angewieſen werden für das Kind; für ſich ſelbſt wird Er ſchon ſorgen. Dann geht Er erſt in des Kindes Zimmer hinein und verrammelt alle Fenſter ſo vollſtändig, daß nur große Gewalt ſie aufzubringen vermöchte. Iſt das Kind zu Bett, ſo geht Er und ſchließt von außen die Thür ab, denn das Kind wandert herum in der Nacht und könnte Gefahr laufen in dem fremden Haus, wenn es etwa hinausginge und die Hausthür aufmachen wollte, verſteht Er das?“ „Ah! ah! ah! das war's? ſo war's?“ ſtieß Sebaſtian jetzt in größter Verwunderung aus, denn es war ihm eben ein großes Licht aufgegangen über die Geiſtererſcheinung. „Ja, ſo war's! das war's! und Er iſt ein Haſenfuß, und dem Johann kann Er ſagen, er ſei desgleichen und Alle miteinander eine lächerliche Mannſchaft.“ Damit ging Herr Seſemann nach ſeiner Stube, ſetzte ſich hin und ſchrieb einen Brief an den Alm-Oehi. Sebaſtian war verdutzt mitten im Zimmer ſtehen geblieben und wiederholte jetzt zu öftern Malen in ſeinem Innern: „Hätt' ich mich doch von dem Feigling von einem Johann nicht in die Wachtſtube hineinreißen laſſen, ſondern wäre dem weißen Figürchen nachgegangen, was ich doch jetzt unzweifelhaft thun würde!“ denn jetzt beleuchtete die helle Sonne jeden Winkel der hellgrauen Stube mit voller Klarheit. Unterdeſſen ſtand Heidi völlig ahnungslos in ſeinem Sonntagsröckchen und wartete ab, was geſchehen ſollte, denn die Tinette hatte es nur aus dem Schlaf gerüttelt, die Kleider aus dem Schrank genommen und das Anziehen befördert, ohne ein Wort zu ſagen. Sie ſprach niemals mit dem ungebildeten Heidi, denn das war ihr zu gering. Herr Seſemann trat mit ſeinem Brief in's Eßzimmer ein, wo das Frühſtück bereit ſtand, und rief: „Wo iſt das Kind?“ Heidi wurde gerufen. Als es zu Herrn Seſemann herantrat, um ihm guten Morgen zu ſagen, ſchaute er ihm fragend in's Geſicht: „Nun, was ſagſt du denn dazu, Kleine?“ Heidi blickte verwundert zu ihm auf. „Du weißt am Ende noch gar nichts“, lachte Herr Seſemann. „Nun, heut' gehſt du heim, jetzt gleich.“ „Heim?“ wiederholte Heidi tonlos, und wurde ſchneeweiß und eine kleine Weile konnte es gar keinen Athem mehr holen, ſo ſtark wurde ſein Herz von dem Eindruck gepackt. „Nun, willſt du etwa Nichts wiſſen davon?“ fragte Herr Seſemann lächelnd. „O ja, ich will ſchon“, kam jetzt heraus, und nun war Heidi dunkelroth geworden. „Gut, gut“, ſagte Herr Seſemann ermunternd, indem er ſich ſetzte und Heidi winkte, dasſelbe zu thun. „Und nun tüchtig frühſtücken und hernach in den Wagen und fort.“ Aber Heidi konnte keinen Biſſen herunterbringen, wie es ſich auch zwingen wollte aus Gehorſam; es war in einem Zuſtand von Aufregung, daß es gar nicht wußte, ob es wache oder träume, und ob es vielleicht wieder auf einmal erwachen und im Nachthemdchen an der Hausthür ſtehen werde. „Sebaſtian ſoll reichlich Proviant mitnehmen“, rief Herr Seſemann Fräulein Rottenmeier zu, die eben eintrat; „das Kind kann nicht eſſen, begreiflicher Weiſe. Geh' hinüber zu Klara, bis der Wagen vorfährt“, ſetzte er freundlich, zu Heidi gewandt, hinzu. Das war Heidi's Wunſch; es ſprang hinüber. Mitten in Klaras Zimmer war ein ungeheurer Koffer zu ſehen, noch ſtand deſſen Deckel weit offen. „Komm', Heidi, komm'“, rief ihm Klara entgegen, „ſieh', was ich dir habe einpacken laſſen, komm', freut's dich?“ Und ſie nannte ihm eine ganze Menge von Dingen, Kleider und Schürzen, Tücher und Nähgeräth, „und ſieh' hier, Heidi“, und Klara hob triumphirend einen Korb in die Höhe. Heidi guckte hinein und ſprang hoch auf vor Freude, denn drinnen lagen wohl zwölf ſchöne, weiße, runde Brödchen, alle für die Großmutter. Die Kinder vergaßen in ihrem Jubel ganz, daß nun der Augenblick komme, da ſie ſich trennen mußten, und als mit einem Mal der Ruf erſchallte: „Der Wagen iſt bereit!“— da war keine Zeit mehr zum Traurigwerden. Heidi lief in ſein Zimmer, da mußte noch ſein ſchönes Buch von der Großmama liegen, Niemand konnte es eingepackt haben, denn es lag unter dem Kopfkiſſen, weil Heidi Tag und Nacht ſich nicht davon trennen konnte. Das wurde in den Korb auf die Brödchen gelegt. Dann machte es ſeinen Schrank auf; noch ſuchte es nach einem Gute, das man vielleicht auch nicht eingepackt hatte. Richtig — auch das alte rothe Tuch lag noch da, Fräulein Rottenmeier hatte es zu gering erachtet, um noch eingepackt zu werden. Heidi wickelte es um einen andern Gegenſtand und legte es zu oberſt auf den Korb, ſo daß das rothe Packet ſehr ſichtbar zur Erſcheinung kam. Dann ſetzte es ſein ſchönes Hütchen auf und verließ ſein Zimmer. Die beiden Kinder mußten ſich ſchnell Lebewohl ſagen, denn Herr Seſemann ſtand ſchon da, um Heidi nach dem Wagen zu bringen. Fräulein Rottenmeier ſtand oben an der Treppe, um hier Heidi zu verabſchieden. Als ſie das ſeltſame rothe Bündelchen erblickte, nahm ſie es ſchnell aus dem Korb heraus und warf es auf den Boden. „Nein, Adelheid“, ſagte ſie tadelnd, „ſo kannſt du nicht reiſen von dieſem Hauſe aus, ſolches Zeug brauchſt du überhaupt nicht mitzuſchleppen. Nun lebe wohl.“ Auf dieſes Verbot hin durfte Heidi ſein Bündelchen nicht wieder aufnehmen, aber es ſchaute mit einem flehentlichen Blick zu dem Hausherrn auf, ſo, als wollte man ihm ſeinen größten Schatz nehmen. „Nein, nein“, ſagte Herr Seſemann in ſehr beſtimmtem Ton, „das Kind ſoll mit heimtragen, was ihm Freude macht, und ſollte es auch junge Katzen oder Schildkröten mit fortſchleppen, ſo wollen wir uns darüber nicht aufregen, Fräulein Rottenmeier.“ Heidi hob eilig ſein Bündelchen wieder vom Boden auf, und Dank und Freude leuchteten ihm aus den Augen. Unten am Wagen reichte Herr Seſemann dem Kinde die Hand und ſagte ihm mit freundlichen Worten, ſie würden ſeiner gedenken, er und ſeine Tochter Klara; er wünſchte ihm alles Gute auf den Weg, und Heidi dankte recht ſchön für alle Gutthaten, die ihm zu Theil geworden waren, und zum Schluß ſagte es: „Und den Herrn Doktor laſſe ich tauſendmal grüßen und ihm auch vielmals danken.“ Denn es hatte ſich wohl gemerkt, wie er geſtern Abend geſagt hatte: „Und morgen wird Alles gut.“ Nun war es ſo gekommen, und Heidi dachte, er habe dazu geholfen. Jetzt wurde das Kind in den Wagen gehoben und der Korb und die Provianttaſche und der Sebaſtian kamen nach. Herr Seſemann rief noch einmal freundlich: „Glückliche Reiſe!“ und der Wagen rollte davon. Bald nachher ſaß Heidi in der Eiſenbahn und hielt unbeweglich ſeinen Korb auf dem Schooße feſt, denn es wollte ihn nicht einen Augenblick aus den Händen laſſen, ſeine koſtbaren Brödchen für die Großmutter waren ja darin, die mußte es ſorglich hüten und von Zeit zu Zeit einmal wieder anſehen und ſich freuen darüber. Heidi ſaß mäuschenſtille während mehrerer Stunden, denn erſt jetzt kam es recht zum Bewußtſein, daß es auf dem Wege ſei heim zum Großvater, auf die Alm, zur Großmutter, zum Gaißen-Peter, und nun kam ihm Alles vor Augen, Eins nach dem Andern, was es wiederſehen werde, und wie Alles ausſehen werde daheim, und dabei ſtiegen ihm wieder neue Gedanken auf, und auf einmal ſagte es ängſtlich: „Sebaſtian, iſt auch ſicher die Großmutter auf der Alm nicht geſtorben?“ „Nein, nein“, beruhigte dieſer, „wollen's nicht hoffen, wird ſchon noch am Leben ſein.“ Dann fiel Heidi wieder in ſein Sinnen zurück, nur hie und da guckte es einmal in ſeinen Korb hinein, denn alle die Brödchen der Großmutter auf den Tiſch zu legen, war ſein Hauptgedanke. Nach längerer Zeit ſagte es wieder: „Sebaſtian, wenn man nur auch ganz ſicher wiſſen könnte, daß die Großmutter noch am Leben iſt.“ „Ja wohl! Ja wohl!“ entgegnete der Begleiter halb ſchlafend; „wird ſchon noch leben, wüßte auch gar nicht, warum nicht.“ Nach einiger Zeit drückte der Schlaf auch Heidi's Augen zu, und nach der vergangenen unruhigen Nacht und dem frühen Aufſtehen war es ſo ſchlafbedürftig, daß es erſt wieder erwachte, als Sebaſtian es tüchtig am Arm ſchüttelte und ihm zurief: „Erwachen! Erwachen! Gleich ausſteigen, in Baſel angekommen!“ Am folgenden Morgen ging's weiter, viele Stunden lang. Heidi ſaß wieder mit ſeinem Korb auf dem Schooß, den es um keinen Preis dem Sebaſtian übergeben wollte; aber heute ſagte es gar Nichts mehr, denn nun wurde mit jeder Stunde die Erwartung geſpannter. Dann auf einmal, als Heidi gar nicht daran dachte, ertönte laut der Ruf: „Mayenfeld!“ Es ſprang von ſeinem Sitz auf, und dasſelbe that Sebaſtian, der auch überraſcht worden war. Jetzt ſtanden ſie draußen, der Koffer mit ihnen, und der Bahnzug pfiff weiter in's Thal hinein. Sebaſtian ſah ihm wehmüthig nach, denn er wäre viel lieber ſo ſicher und ohne Mühe weitergereiſt, als daß er nun eine Fußpartie unternehmen ſollte, die dazu noch mit einer Bergbeſteigung enden mußte, die ſehr beſchwerlich und dazu gefahrvoll ſein konnte in dieſem Lande, wo doch Alles noch halb wild war, wie Sebaſtian annahm. Er ſchaute daher ſehr vorſichtig um ſich, wen er etwa berathen könnte über den ſicherſten Weg nach dem „Dörfli“. Unweit des kleinen Stationsgebäudes ſtand ein kleiner Leiterwagen mit einem magern Rößlein davor; auf dieſen wurden von einem breitſchultrigen Manne ein paar große Säcke aufgeladen, die mit der Bahn hergebracht worden waren. Sebaſtian trat zu ihm heran und brachte ſeine Frage nach dem ſicherſten Weg zum Dörfli vor. „Hier ſind alle Wege ſicher“, war die kurze Antwort. Jetzt fragte Sebaſtian nach dem beſten Wege, auf dem man gehen könne, ohne in die Abgründe zu ſtürzen, und auch wie man einen Koffer nach dem betreffenden Dörfli befördern könnte. Der Mann ſchaute nach dem Koffer hin und maß ihn ein wenig mit den Augen; dann erklärte er, wenn das Ding nicht zu ſchwer ſei, ſo wolle er es auf ſeinen Wagen nehmen, da er ſelbſt nach dem Dörfli fahre, und ſo gab noch ein Wort das andere, und endlich kamen die Beiden überein, der Mann ſolle Kind und Koffer mit auf ſeinen Wagen nehmen, und nachher vom Dörfli aus könne das Kind am Abend mit irgend Jemand auf die Alm geſchickt werden. „Ich kann allein gehen, ich weiß ſchon den Weg vom Dörfli auf die Alm“, ſagte hier Heidi, das mit Aufmerkſamkeit der Verhandlung zugehört hatte. Dem Sebaſtian fiel eine ſchwere Laſt vom Herzen, als er ſich ſo auf einmal ſeiner Ausſicht auf das Bergklettern entledigt ſah. Er winkte nun Heidi geheimnißvoll auf die Seite und überreichte ihm hier eine ſchwere Rolle und einen Brief an den Großvater, und erklärte ihm, die Rolle ſei ein Geſchenk von Herrn Seſemann, die müſſe aber zu unterſt in den Korb geſteckt werden, noch unter die Brödchen, und darauf müſſe genau Acht gegeben werden, daß ſie nicht verloren gehe, denn darüber würde Herr Seſemann ganz fürchterlich böſe und ſein Leben lang nie mehr gut werden, das ſollte das Mamſellchen nur ja bedenken. „Ich verliere ſie ſchon nicht“, ſagte Heidi zuverſichtlich und ſteckte die Rolle ſammt dem Brief zu allerunterſt in den Korb hinein. Nun wurde der Koffer aufgeladen, und nachher hob Sebaſtian Heidi ſammt ſeinem Korb auf den hohen Sitz empor, reichte ihm ſeine Hand hinauf zum Abſchied und ermahnte es noch einmal mit allerlei Zeichen, auf den Inhalt des Korbes ein Auge zu haben; denn der Führer war noch in der Nähe, und Sebaſtian war vorſichtig, beſonders jetzt, da er wußte, er hätte eigentlich ſelbſt das Kind an Ort und Stelle bringen ſollen. Der Führer ſchwang ſich jetzt neben Heidi auf den Sitz hinauf, und der Wagen rollte den Bergen zu, während Sebaſtian, froh über ſeine Befreiung von der gefürchteten Bergreiſe, ſich am Stationshäuschen niederſetzte, um den zurückkehrenden Bahnzug abzuwarten. Der Mann auf dem Wagen war der Bäcker vom Dörfli, der ſeine Mehlſäcke nach Hauſe fuhr. Er hatte Heidi nie geſehen, aber wie Jedermann im Dörfli, wußte er von dem Kinde, das man dem Alm-Oehi gebracht hatte; auch hatte er Heidi's Eltern gekannt und ſich gleich vorgeſtellt, er werde es mit dem viel beſprochenen Kinde hier zu thun haben. Es wunderte ihn nun ein wenig, warum das Kind ſchon wieder heimkomme, und während der Fahrt fing er nun mit Heidi ein Geſpräch an: „Du wirſt das Kind ſein, das oben beim Alm-Oehi war, beim Großvater?“ „Ja.“ „So iſt es dir ſchlecht gegangen, daß du ſchon wieder von ſo weit her heimkommſt?“ „Nein, das iſt es mir nicht, kein Menſch kann es ſo gut haben, wie man es in Frankfurt hat.“ „Warum läufſt du denn heim?“ „Nur weil es mir der Herr Seſemann erlaubt hat, ſonſt wär' ich nicht heimgelaufen.“ „Pah, warum biſt du denn aber nicht lieber dort geblieben, wenn man dir's ſchon erlaubt hat, heimzugehen?“ „Weil ich tauſendmal lieber heim will zum Großvater auf die Alm, als ſonſt Alles auf der Welt.“ „Denkſt vielleicht anders, wenn du hinaufkommſt“, brummte der Bäcker; „nimmt mich aber doch wunder“, ſagte er dann zu ſich ſelbſt, „es kann wiſſen, wie's iſt.“ Nun fing er an zu pfeifen und ſagte Nichts mehr, und Heidi ſchaute um ſich und fing an innerlich zu zittern vor Erregung, denn es erkannte die Bäume am Wege, und drüben ſtanden die hohen Zacken des Falkniß-Berges und ſchauten zu ihm herüber, ſo als grüßten ſie es wie gute, alte Freunde und Heidi grüßte wieder und mit jedem Schritt vorwärts wurde Heidi's Erwartung geſpannter und es meinte, es müſſe vom Wagen herunterſpringen und aus allen Kräften laufen, bis es ganz oben wäre. Aber es blieb doch ſtill ſitzen und rührte ſich nicht, aber Alles zitterte an ihm. Jetzt fuhren ſie im Dörfli ein, eben ſchlug die Glocke fünf Uhr. Augenblicklich ſammelte ſich eine Geſellſchaft von Kindern und Frauen um den Wagen herum, und ein paar Nachbarn traten auch noch herzu, denn der Koffer und das Kind auf des Bäckers Wagen hatten die Aufmerkſamkeit aller Umwohnenden auf ſich gezogen, und Jeder wollte wiſſen, woher und wohin und wem Beide zugehören. Als der Bäcker Heidi heruntergehoben hatte, ſagte es eilig: „Danke, der Großvater holt dann ſchon den Koffer“, und wollte davonrennen. Aber von allen Seiten wurde es feſtgehalten, und eine Menge von Stimmen fragten alle auf einmal, jede etwas Eigenes. Heidi drängte ſich mit einer ſolchen Angſt auf dem Geſichte durch die Leute, daß man ihm unwillkührlich Platz machte und es laufen ließ, und Einer ſagte zum Andern: „Du ſiehſt ja, wie es ſich fürchtet, es hat auch alle Urſache.“ Und dann fingen ſie noch an, ſich zu erzählen, wie der Alm-Oehi ſeit einem Jahr noch viel ärger geworden ſei, als vorher, und mit keinem Menſchen mehr ein Wort rede, und ein Geſicht mache, als wollte er am liebſten Jeden umbringen, der ihm in den Weg komme, und wenn das Kind auf der ganzen Welt noch wüßte wohin, ſo liefe es nicht in das alte Drachenneſt hinauf. Aber hier fiel der Bäcker in das Geſpräch ein und ſagte, er werde wohl mehr wiſſen, als ſie Alle, und erzählte dann ſehr geheimnißvoll, wie ein Herr das Kind bis nach Mayenfeld gebracht und es ganz freundlich entlaſſen habe, und auch gleich ohne Markten ihm den geforderten Fahrpreis und dazu noch ein Trinkgeld gegeben habe, und überhaupt könne er ſicher ſagen, daß es dem Kind wohl genug geweſen ſei, wo es war, und es ſelbſt begehrt habe, zum Großvater zurückzugehen. Dieſe Nachricht brachte eine große Verwunderung hervor und wurde nun gleich im ganzen Dörfli ſo verbreitet, daß noch am gleichen Abend kein Haus daſelbſt war, in dem man nicht davon redete, daß das Heidi aus allem Wohlleben zum Großvater zurückbegehrt habe. Heidi lief vom Dörfli bergan, ſo ſchnell es nur konnte; von Zeit zu Zeit mußte es aber plötzlich ſtille ſtehen, denn es hatte ganz den Athem verloren; ſein Korb am Arm war doch ziemlich ſchwer, und dazu ging es nun immer ſteiler, je höher hinauf es ging. Heidi hatte nur noch Einen Gedanken: „Wird auch die Großmutter noch auf ihrem Plätzchen ſitzen am Spinnrad in der Ecke, iſt ſie auch nicht geſtorben unterdeſſen?“ Jetzt erblickte Heidi die Hütte oben in der Vertiefung an der Alm, ſein Herz fing an zu klopfen, Heidi rannte noch mehr, immer mehr und immer lauter ſchlug ihm das Herz. — Jetzt war es oben — vor Zittern konnte es faſt die Thür nicht aufmachen — doch jetzt — es ſprang hinein bis mitten in die kleine Stube und ſtand da, völlig außer Athem, und brachte keinen Ton hervor. „Ach du mein Gott“, tönte es aus der Ecke hervor, „ſo ſprang unſer Heidi herein, ach, wenn ich es noch Ein Mal im Leben bei mir haben könnte! Wer iſt hereingekommen?“ „Da bin ich ja, Großmutter, da bin ich ja“, rief Heidi jetzt und ſtürzte nach der Ecke und gleich auf ſeine Kniee zu der Großmutter heran, faßte ihren Arm und ihre Hände, und legte ſich an ſie und konnte vor Freude gar Nichts mehr ſagen. Erſt war die Großmutter ſo überraſcht, daß auch ſie kein Wort hervorbringen konnte; dann fuhr ſie mit der Hand ſtreichelnd über Heidi's Kraushaare hin, und nun ſagte ſie ein Mal über das andere: „Ja, ja, das ſind ſeine Haare und es iſt ja ſeine Stimme, ach du lieber Gott, daß du mich das noch erleben läſſeſt“ Und aus den blinden Augen fielen ein paar große Freudenthränen auf Heidi's Hand nieder. „Biſt du's auch, Heidi, biſt du auch ſicher wieder da?“ „Ja, ja, ſicher, Großmutter“, rief Heidi nun mit aller Zuverſicht, „weine nur nicht, ich bin ganz gewiß wieder da und komme alle Tage zu dir und gehe nie wieder fort, und du mußt auch manchen Tag kein hartes Brod mehr eſſen, ſiehſt du, Großmutter, ſiehſt du?“ Und Heidi packte nun aus ſeinem Korb ein Brödchen nach dem andern aus, bis es alle zwölfe auf dem Schooß der Großmutter aufgehäuft hatte. „Ach Kind! Ach Kind! was bringſt du denn für einen Segen mit!“ rief die Großmutter aus, als es nicht enden wollte mit den Brödchen und immer noch eines folgte. „Aber der größte Segen biſt du mir doch ſelber, Kind!“ Dann griff ſie wieder in Heidi's krauſe Haare und ſtrich über ſeine heißen Wangen, und ſagte wieder: „Sag' noch ein Wort, Kind, ſag' noch Etwas, daß ich dich hören kann.“ Heidi erzählte nun der Großmutter, welche große Angſt es habe ausſtehen müſſen, ſie ſei vielleicht geſtorben unterdeſſen und habe nun gar nie die weißen Brödchen bekommen, und es könne nie, nie mehr zu ihr gehen. Jetzt trat Peter's Mutter herein und blieb einen Augenblick unbeweglich ſtehen vor Erſtaunen. Dann rief ſie: „Sicher, es iſt das Heidi, wie kann auch das ſein!“ Heidi ſtand auf und gab ihr die Hand und die Brigitte konnte ſich gar nicht genug verwundern darüber, wie Heidi ausſehe, und ging um das Kind herum und ſagte: „Großmutter, wenn du doch nur ſehen könnteſt, was für ein ſchönes Röcklein das Heidi hat, und wie es ausſieht, man kennt es faſt nicht mehr. Und das Federnhütlein auf dem Tiſch gehört dir auch noch? Setz' es doch einmal auf, ſo kann ich ſehen, wie du drin ausſiehſt.“ „Nein, ich will nicht“, erklärte Heidi, „du kannſt es haben, ich brauche es nicht mehr, ich habe ſchon noch mein eigenes.“ Damit machte Heidi ſein rothes Bündelchen auf und nahm ſein altes Hütchen daraus hervor, das auf der Reiſe zu den Knicken, die es ſchon vorher gehabt, noch einige bekommen hatte. Aber das kümmerte das Heidi wenig; dagegen hatte es nicht vergeſſen, wie der Großvater beim Abſchied nachgerufen hatte, in einem Federnhut wolle er es niemals ſehen, darum hatte Heidi ſein Hütchen ſo ſorgfältig aufgehoben, denn es dachte ja immer an's Heimgehen zum Großvater. Aber die Brigitte ſagte, ſo einfältig müſſe es nicht ſein, es ſei ja ein prächtiges Hütchen, das nehme ſie nicht, man könnte es ja etwa dem Töchterlein vom Lehrer im Dörfli verkaufen und noch viel Geld bekommen, wenn es das Hütlein nicht tragen wolle. Aber Heidi blieb bei ſeinem Vorhaben und legte das Hütchen leiſe hinter die Großmutter in den Winkel, wo es ganz verborgen war. Dann zog Heidi auf einmal ſein ſchönes Röcklein aus, und über das Unterröckchen, in dem es nun mit bloßen Armen daſtand, band es das rothe Halstuch, und nun faßte es die Hand der Großmutter und ſagte: „Jetzt muß ich heim zum Großvater, aber morgen komm' ich wieder zu dir; gute Nacht, Großmutter.“ „Ja, komm' auch wieder, Heidi, komm' auch morgen wieder“, bat die Großmutter, und drückte ſeine Hand zwiſchen den ihrigen und konnte das Kind faſt nicht loslaſſen. „Warum haſt du denn dein ſchönes Röcklein ausgezogen?“ fragte die Brigitte. „Weil ich lieber ſo zum Großvater will, ſonſt kennt er mich vielleicht nicht mehr, du haſt mich ja auch faſt nicht gekannt darin.“ Die Brigitte ging noch mit Heidi vor die Thür hinaus, und hier ſagte ſie ein wenig geheimnißvoll zu ihm: „Den Rock hätteſt du ſchon anbehalten können, er hätte dich doch gekannt; aber ſonſt mußt du dich in Acht nehmen, der Peterli ſagt, der Alm-Oehi ſei jetzt immer bös und rede kein Wort mehr.“ Heidi ſagte gute Nacht und ſtieg die Alm hinan mit ſeinem Korb am Arm. Die Abendſonne leuchtete ringsum auf die grüne Alm, und jetzt war auch drüben das große Schneefeld am Cäſaplana ſichtbar geworden und ſtrahlte herüber. Heidi mußte alle paar Schritte wieder ſtille ſtehen und ſich umkehren, denn die hohen Berge hatte es im Rücken beim Hinaufſteigen. Jetzt fiel ein rother Schimmer vor ſeinen Füßen auf das Gras, es kehrte ſich um, da — ſo hatte es die Herrlichkeit nicht mehr im Sinn gehabt und auch nie ſo im Traum geſehen — die Felshörner am Falkniß flammten zum Himmel auf, das weite Schneefeld glühte und roſenrothe Wolken zogen darüber hin; das Gras rings auf der Alm war golden, von allen Felſen flimmerte und leuchtete es nieder und unten ſchwamm weithin das ganze Thal in Duft und Gold. Heidi ſtand mitten in der Herrlichkeit, und vor Freude und Wonne liefen ihm die hellen Thränen die Wangen herunter, und es mußte die Hände falten und in den Himmel hinaufſchauen und ganz laut dem lieben Gott danken, daß er es wieder heimgebracht hatte, und daß Alles, Alles noch ſo ſchön ſei und noch viel ſchöner, als es gewußt hatte, und daß Alles wieder ihm gehöre, und Heidi war ſo glücklich und ſo reich in all' der großen Herrlichkeit, daß es gar nicht Worte fand, dem lieben Gott genug zu danken. Erſt als das Licht ringsum verglühte, konnte Heidi wieder von der Stelle weg; nun rannte es aber ſo den Berg hinan, daß es gar nicht lange dauerte, ſo erblickte es oben die Tannenwipfel über dem Dache und jetzt das Dach und die ganze Hütte, und auf der Bank an der Hütte ſaß der Großvater und rauchte ſein Pfeifchen, und über die Hütte her wogten die alten Tannenwipfel und rauſchten im Abendwind. Jetzt rannte das Heidi noch mehr, und bevor der Alm-Oehi nur recht ſehen konnte, was da herankam, ſtürzte das Kind ſchon auf ihn hin, warf ſeinen Korb auf den Boden und umklammerte den Alten, und vor Aufregung des Wiederſehens konnte es Nichts ſagen, als nur immer ausrufen: „Großvater! Großvater! Großvater!“ Der Großvater ſagte auch Nichts. Seit vielen Jahren waren ihm zum erſten Mal wieder die Augen naß geworden, und er mußte mit der Hand darüber fahren. Dann löſte er Heidi's Arme von ſeinem Hals, ſetzte das Kind auf ſeine Kniee und betrachtete es einen Augenblick: „So biſt du wieder heimgekommen, Heidi“, ſagte er dann; „wie iſt das? Beſonders hoffärtig ſiehſt du nicht aus, haben ſie dich fortgeſchickt?“ „O nein, Großvater“, fing Heidi nun mit Eifer an, „das mußt du nicht glauben, ſie waren ja Alle ſo gut, die Klara und die Großmama und der Herr Seſemann; aber ſiehſt du, Großvater, ich konnte es faſt gar nicht mehr aushalten, bis ich wieder bei dir daheim ſein könnte, und ich habe manchmal gemeint, ich müſſe ganz erſticken, ſo hat es mich gewürgt; aber ich habe gewiß Nichts geſagt, weil es undankbar war. Aber dann auf einmal an einem Morgen rief mich der Herr Seſemann ganz früh — aber ich glaube, der Herr Doktor war ſchuld daran — aber es ſteht vielleicht Alles in dem Brief“ — damit ſprang Heidi auf den Boden und holte ſeinen Brief und ſeine Rolle aus dem Korb herbei und legte Beide in die Hand des Großvaters. „Das gehört dir“, ſagte dieſer und legte die Rolle neben ſich auf die Bank. Dann nahm er den Brief und las ihn durch; ohne ein Wort zu ſagen, ſteckte er dann das Blatt in die Taſche. „Meinſt, du könneſt auch noch Milch trinken mit mir, Heidi?“ fragte er nun, indem er das Kind bei der Hand nahm, um in die Hütte einzutreten. „Aber nimm dort dein Geld mit dir, da kannſt du ein ganzes Bett daraus kaufen und Kleider für ein paar Jahre.“ „Ich brauch' es gewiß nicht, Großvater“, verſicherte Heidi; „ein Bett hab' ich ſchon, und Kleider hat mir Klara ſo viele eingepackt, daß ich gewiß nie mehr andere brauche.“ „Nimm's, nimm's, und leg's in den Schrank, du wirſt's ſchon einmal brauchen können.“ Heidi gehorchte und hüpfte nun dem Großvater nach in die Hütte hinein, wo es vor Freude über das Wiederſehen in alle Winkel ſprang und die Leiter hinauf — aber da ſtand es plötzlich ſtill und rief in Betroffenheit von oben herunter: „O Großvater, ich habe kein Bett mehr!“ „Kommt ſchon wieder“, tönte es von unten herauf, „wußte ja nicht, daß du wieder heimkommſt, jetzt komm' zur Milch!“ Heidi kam herunter und ſetzte ſich auf ſeinen hohen Stuhl am alten Platze und nun erfaßte es ſein Schüſſelchen und trank mit einer Begierde, als wäre etwas ſo Köſtliches noch nie in ſein Bereich gekommen, und als es mit einem tiefen Athemzug das Schüſſelchen hinſtellte, ſagte es: „So gut wie unſere Milch iſt doch gar Nichts auf der Welt, Großvater.“ Jetzt ertönte draußen ein ſchriller Pfiff; wie der Blitz ſchoß Heidi zur Thür hinaus. Da kam die ganze Schaar der Gaißen hüpfend, ſpringend, Sätze machend von der Höhe herunter, mitten drin der Peter. Als er Heidi's anſichtig wurde, blieb er auf der Stelle völlig wie angewurzelt ſtehen und ſtarrte es ſprachlos an. Heidi rief: „Guten Abend, Peter!“ und ſtürzte mitten in die Gaißen hinein: „Schwänli! Bärli! kennt ihr mich noch?“ und die Gaißlein mußten ſeine Stimme gleich erkannt haben, denn ſie rieben ihre Köpfe an Heidi und fingen leidenſchaftlich zu meckern an vor Freude, und Heidi rief alle nach einander beim Namen und alle rannten wie wild durcheinander und drängten ſich zu ihm heran; der ungeduldige Diſtelfink ſprang hoch auf und über zwei Gaißen weg, um gleich in die Nähe zu kommen, und ſogar das ſchüchterne Schneehöppli drängte mit einem ziemlich eigenſinnigen Bohren den großen Türk auf die Seite, der nun ganz verwundert über die Frechheit daſtand und ſeinen Bart in die Luft hob, um zu zeigen, daß er es ſei. Heidi war außer ſich vor Freude, alle die alten Gefährten wieder zu haben, es umarmte das kleine, zärtliche Schneehöppli wieder und wieder und ſtreichelte den ſtürmiſchen Diſtelfink und wurde vor großer Liebe und Zutraulichkeit der Gaißen hin- und hergedrängt und geſchoben, bis es nun ganz in Peter's Nähe kam, der noch immer auf demſelben Platze ſtand. „Komm' herunter, Peter, und ſag' mir einmal guten Abend!“ rief ihm Heidi jetzt zu. „Biſt denn wieder da?“ brachte er nun endlich in ſeinem Erſtaunen heraus, und nun kam er herzu und nahm Heidi's Hand, die dieſes ihm ſchon lange hingehalten hatte, und nun fragte er, ſo wie er immer gethan hatte bei der Heimkehr am Abend: „Kommſt morgen wieder mit?“ „Nein, morgen nicht, aber übermorgen vielleicht, denn morgen muß ich zur Großmutter.“ „Es iſt recht, daß du wieder da biſt“, ſagte der Peter, und verzog ſein Geſicht auf alle Seiten vor ungeheuerem Vergnügen, dann ſchickte er ſich zur Heimfahrt an; aber heute wurde es ihm ſo ſchwer wie noch nie mit ſeinen Gaißen, denn als er ſie endlich mit Locken und Drohen ſo weit gebracht hatte, daß ſie ſich um ihn ſammelten, und Heidi, den einen Arm um Schwänli's, und den andern um Bärli's Kopf gelegt, davonſpazierte, da kehrten mit einem Mal alle wieder um und liefen den dreien nach. Heidi mußte mit ſeinen zwei Gaißen in den Stall eintreten und die Thüre zumachen, ſonſt wäre der Peter niemals mit ſeiner Heerde fortgekommen. Als das Kind dann in die Hütte zurückkam, da ſah es ſein Bett ſchon wieder aufgerichtet, prächtig hoch und duftend, denn das Heu war noch nicht lange hereingeholt, und drüber hatte der Großvater ganz ſorgfältig die ſauberen Leintücher gebreitet. Heidi legte ſich mit großer Luſt hinein und ſchlief ſo herrlich, wie es ein ganzes Jahr lang nicht geſchlafen hatte. Während der Nacht verließ der Großvater wohl zehn Mal ſein Lager und ſtieg die Leiter hinauf und lauſchte ſorgſam, ob Heidi auch ſchlafe und nicht unruhig werde, und ſuchte am Loch nach, wo ſonſt der Mond hereinkam auf Heidi's Lager, ob auch das Heu noch feſt drinnen ſitze, das er hineingeſtopft hatte, denn von nun an durfte der Mondſchein nicht mehr hereinkommen. Aber Heidi ſchlief in Einem Zuge fort und wanderte keinen Schritt herum, denn ſein großes, brennendes Verlangen war geſtillt worden: es hatte alle Berge und Felſen wieder im Abendglühen geſehen, es hatte die Tannen rauſchen gehört, es war wieder daheim auf der Alm. 14. Am Sonntag, wenn's läutet.