Seit einigen Tagen wanderte Fräulein Rottenmeier meiſtens ſchweigend und in ſich gekehrt im Haus herum. Wenn ſie um die Zeit der Dämmerung von einem Zimmer in's andere, oder über den langen Corridor ging, ſchaute ſie öfters um ſich, gegen die Ecken hin und auch ſchnell einmal hinter ſich, ſo als denke ſie, es könnte Jemand leiſe hinter ihr herkommen und ſie unverſehens am Rock zupfen. So allein ging ſie aber nur noch in den bewohnten Räumen herum. Hatte ſie auf dem obern Boden, wo die feierlich aufgerüſteten Gaſtzimmer lagen, oder gar in den untern Räumen Etwas zu beſorgen, wo der große geheimnißvolle Saal war, in dem jeder Tritt einen weithin ſchallenden Wiederhall gab und die alten Rathsherren mit den großen, weißen Kragen ſo ernſthaft und unverwandt auf Einen niederſchauten, da rief ſie nun regelmäßig die Tinette herbei und ſagte ihr, ſie habe mitzukommen, im Fall Etwas von dort herauf- oder von oben herunterzutragen wäre. Tinette ihrerſeits machte es pünktlich ebenſo; hatte ſie oben oder unten irgend ein Geſchäft abzuthun, ſo rief ſie den Sebaſtian herbei und ſagte ihm, er habe ſie zu begleiten, es möchte Etwas herbeizubringen ſein, das ſie nicht allein tragen könnte. Wunderbarerweiſe that auch Sebaſtian akurat dasſelbe; wurde er in die abgelegenen Räume geſchickt, ſo holte er den Johann herauf und wies ihn an, ihn zu begleiten, im Fall er nicht herbeiſchaffen könnte, was erforderlich ſei. Und Jedes folgte immer ganz willig dem Ruf, obſchon eigentlich nie Etwas herbeizutragen war, ſo daß Jedes gut hätte allein gehen können, aber es war ſo, als denke der Herbeigerufene immer bei ſich, er könne den Andern auch bald für denſelben Dienſt nöthig haben. Während ſich Solches oben zutrug, ſtand unten die langjährige Köchin tiefſinnig bei ihren Töpfen und ſchüttelte den Kopf und ſeufzte: „Daß ich das noch erleben mußte!“
Es ging im Hauſe Seſemann ſeit einiger Zeit etwas ganz Seltſames und Unheimliches vor. Jeden Morgen, wenn die Dienerſchaft herunter kam, ſtand die Hausthüre weit offen; aber weit und breit war Niemand zu ſehen, der mit dieſer Erſcheinung im Zuſammenhang ſtehen konnte. In den erſten Tagen, da dies geſchehen war, wurden gleich mit Schrecken alle Zimmer und Räume des Hauſes durchſucht, um zu ſehen, was Alles geſtohlen ſei, denn man dachte, ein Dieb habe ſich im Hauſe verſtecken können und ſei in der Nacht mit dem Geſtohlenen entflohen; aber da war gar Nichts fortgekommen, es fehlte im ganzen Hauſe nicht ein einziges Ding. Abends wurde nicht nur die Thüre doppelt zugeriegelt, ſondern es wurde noch der hölzerne Balken vorgeſchoben, — es half Nichts: am Morgen ſtand die Thüre weit offen; und ſo früh nun auch die ganze Dienerſchaft in ihrer Aufregung am Morgen herunterkommen mochte: die Thür ſtand offen, wenn auch ringsum Alles noch im tiefen Schlaf lag und Fenſter und Thüren an allen andern Häuſern noch feſt verrammelt waren. Endlich faßten ſich der Johann und der Sebaſtian ein Herz und machten ſich auf die dringenden Zureden der Dame Rottenmeier bereit, die Nacht unten in dem Zimmer, das an den großen Saal ſtieß, zuzubringen und zu erwarten, was geſchehe. Fräulein Rottenmeier ſuchte mehrere Waffen des Herrn Seſemann hervor und übergab dem Sebaſtian eine große Liqueurflaſche, damit Stärkung vorausgehen und gute Wehr nachfolgen könne, wo ſie nöthig ſei.
Die Beiden ſetzten ſich an dem feſtgeſetzten Abend hin und fingen gleich an, ſich Stärkung zuzutrinken, was ſie erſt ſehr geſprächig und dann ziemlich ſchläfrig machte, worauf ſie Beide ſich an die Seſſelrücken lehnten und verſtummten. Als die alte Thurmuhr drüben zwölfe ſchlug, ermannte ſich Sebaſtian und rief ſeinen Kameraden an; der war aber nicht leicht zu erwecken: ſo oft ihn Sebaſtian anrief, legte er ſeinen Kopf von einer Seite der Seſſellehne auf die andere und ſchlief weiter. Sebaſtian lauſchte nunmehr geſpannt, er war nun wieder ganz munter geworden. Es war Alles mäuschenſtill, auch von der Straße war kein Laut mehr zu hören. Sebaſtian entſchlief nicht wieder, denn jetzt wurde es ihm ſehr unheimlich in der großen Stille und er rief den Johann nur noch mit gedämpfter Stimme an und rüttelte ihn von Zeit zu Zeit ein wenig. Endlich, als es drüben ſchon ein Uhr geſchlagen hatte, war der Johann wach geworden und wieder zum klaren Bewußtſein gekommen, warum er auf dem Stuhl ſitze und nicht in ſeinem Bett liege. Jetzt fuhr er auf einmal ſehr tapfer empor und rief: „Nu, Sebaſtian, wir müſſen doch einmal hinaus und ſehen, wie's ſteht; du wirſt dich ja nicht fürchten, nur mir nach!“
Johann machte die leicht angelehnte Zimmerthür weit auf und trat hinaus. Im gleichen Augenblick blies von der offenen Hausthüre ein ſcharfer Luftzug her und löſchte das Licht aus, das der Johann in der Hand hielt. Dieſer ſtürzte zurück, warf den hinter ihm ſtehenden Sebaſtian beinah' rücklings in's Zimmer hinein, riß ihn dann mit, ſchlug die Thüre zu und drehte in fieberhafter Eile den Schlüſſel um, ſo lang er nur umging. Dann riß er ſeine Streichhölzer hervor und zündete ſein Licht wieder an. Sebaſtian wußte gar nicht recht, was vorgefallen war, denn hinter dem breiten Johann ſtehend, hatte er den Luftzug nicht ſo deutlich empfunden. Wie er aber Jenen nun bei Licht beſah, that er einen Schreckensruf, denn der Johann war kreideweiß und zitterte wie ein Espenlaub. „Was iſt's denn? Was war denn draußen?“ fragte der Sebaſtian theilnehmend.
„Sperrangelweit offen die Thür“, keuchte Johann, „und auf der Treppe eine weiße Geſtalt, ſiehſt du, Sebaſtian, nur ſo die Treppe hinauf — huſch und verſchwunden.“
Dem Sebaſtian gruſelte es den ganzen Rücken hinauf. Jetzt ſetzten ſich die Beiden ganz nah' zuſammen und regten ſich nicht mehr, bis daß der helle Morgen da war und es auf der Straße anfing, lebendig zu werden. Dann traten ſie zuſammen hinaus, machten die weit offen ſtehende Hausthüre zu und ſtiegen dann hinauf, um Fräulein Rottenmeier Bericht zu erſtatten über das Erlebte. Die Dame war auch ſchon zu ſprechen, denn die Erwartung der zu vernehmenden Dinge hatte ſie nicht mehr ſchlafen laſſen. Sobald ſie nun vernommen hatte, was vorgefallen war, ſetzte ſie ſich hin und ſchrieb einen Brief an Herrn Seſemann, wie er noch keinen erhalten hatte: er möge ſich nur ſogleich, ohne Verzug, aufmachen und nach Hauſe zurückkehren, denn da geſchähen unerhörte Dinge. Dann wurde ihm das Vorgefallene mitgetheilt, ſo wie auch die Nachricht, daß fortgeſetzt die Thüre jeden Morgen offen ſtehe; daß alſo Keiner im Hauſe ſeines Lebens mehr ſicher ſei bei dergeſtalt allnächtlich offen ſtehender Hauspforte und daß man überhaupt nicht abſehen könne, was für dunkle Folgen dieſer unheimliche Vorgang noch nach ſich ziehen könne. Herr Seſemann antwortete umgehend, es ſei ihm unmöglich, ſo plötzlich Alles liegen zu laſſen und nach Hauſe zu kommen. Die Geſpenſtergeſchichte ſei ihm ſehr befremdend, er hoffe auch, ſie ſei vorübergehend; ſollte es indeſſen keine Ruhe geben, ſo möge Fräulein Rottenmeier an Frau Seſemann ſchreiben und ſie fragen, ob ſie nicht nach Frankfurt zu Hülfe kommen wollte, gewiß würde ſeine Mutter in kürzeſter Zeit mit den Geſpenſtern fertig, und dieſe trauten ſich nachher ſicher ſo bald nicht wieder, ſein Haus zu beunruhigen. Fräulein Rottenmeier war nicht zufrieden mit dem Ton dieſes Briefes; die Sache war ihr zu wenig ernſt aufgefaßt. Sie ſchrieb unverzüglich an Frau Seſemann, aber von dieſer Seite her tönte es nicht eben befriedigender und die Antwort enthielt einige ganz anzügliche Bemerkungen. Frau Seſemann ſchrieb, ſie gedenke nicht extra von Holſtein nach Frankfurt hinunterzureiſen, weil die Rottenmeier Geſpenſter ſehe. Uebrigens ſei niemals ein Geſpenſt geſehen worden im Hauſe Seſemann, und wenn jetzt eines darin herumfahre, ſo könne es nur ein lebendiges ſein, mit dem die Rottenmeier ſich ſollte verſtändigen können; wo nicht, ſo ſolle ſie die Nachtwächter zu Hülfe rufen.
Aber Fräulein Rottenmeier war entſchloſſen, ihre Tage nicht mehr in Schrecken zuzubringen, und ſie wußte ſich zu helfen. Bis dahin hatte ſie den beiden Kindern Nichts von der Geiſtererſcheinung geſagt, denn ſie befürchtete, die Kinder würden vor Furcht Tag und Nacht keinen Augenblick mehr allein bleiben wollen, und das konnte ſehr unbequeme Folgen für ſie haben. Jetzt ging ſie ſtracks in's Studierzimmer hinüber, wo die Beiden zuſammenſaßen, und erzählte mit gedämpfter Stimme von den nächtlichen Erſcheinungen eines Unbekannten. Sofort ſchrie Klara auf, ſie bleibe keinen Augenblick mehr allein, der Papa müſſe nach Hauſe kommen und Fräulein Rottenmeier müſſe zum Schlafen in ihr Zimmer hinüberziehen, und Heidi dürfe auch nicht mehr allein ſein, ſonſt könne das Geſpenſt einmal zu ihm kommen und ihm Etwas thun, ſie wollten Alle in einem Zimmer ſchlafen und die ganze Nacht das Licht brennen laſſen, und Tinette müſſe nebenan ſchlafen und der Sebaſtian und der Johann müſſen auch herunterkommen und auf dem Corridor ſchlafen, daß ſie gleich ſchreien und das Geſpenſt erſchrecken können, wenn es etwa die Treppe heraufkommen wollte. Klara war ſehr aufgeregt und Fräulein Rottenmeier hatte nun die größte Mühe, ſie etwas zu beſchwichtigen. Sie verſprach ihr, ſogleich an den Papa zu ſchreiben und auch ihr Bett in Klara's Zimmer ſtellen und ſie nie mehr allein laſſen zu wollen. Alle konnten ſie nicht in demſelben Raume ſchlafen, aber wenn Adelheid ſich auch fürchten ſollte, ſo müßte Tinette ihr Nachtlager bei ihr aufſchlagen. Aber Heidi fürchtete ſich mehr vor der Tinette, als vor Geſpenſtern, von denen das Kind noch gar nie Etwas gehört hatte, und es erklärte gleich, es fürchte das Geſpenſt nicht und wolle ſchon allein in ſeinem Zimmer bleiben. Hierauf eilte Fräulein Rottenmeier an ihren Schreibtiſch und ſchrieb an Herrn Seſemann, die unheimlichen Vorgänge im Hauſe, die allnächtlich ſich wiederholten, hätten die zarte Conſtitution ſeiner Tochter dergeſtalt erſchüttert, daß die ſchlimmſten Folgen zu beſorgen ſeien, man habe Beiſpiele von plötzlich eintretenden epileptiſchen Zufällen, oder Beitstanz in ſolchen Verhältniſſen, und ſeine Tochter ſei Allem ausgeſetzt, wenn dieſer Zuſtand des Schreckens im Hauſe nicht gehoben werde.
Das half. Zwei Tage darauf ſtand Herr Seſemann an ſeiner Thür und ſchellte dergeſtalt an ſeiner Hausglocke, daß Alles zuſammenlief und Einer den Andern anſtarrte, denn man glaubte nicht anders, als nun laſſe der Geiſt frecher Weiſe noch vor Nacht ſeine boshaften Stücke aus. Sebaſtian guckte ganz behutſam durch einen halbgeöffneten Laden von oben herunter, in dem Augenblick ſchellte es noch einmal ſo nachdrücklich, daß Jeder unwillkürlich eine Menſchenhand hinter dem tüchtigen Ruck vermuthete. Sebaſtian hatte die Hand erkannt, ſtürzte durch's Zimmer, kopfüber die Treppe hinunter, kam aber unten wieder auf die Füße und riß die Hausthür auf. Herr Seſemann grüßte kurz und ſtieg ohne Weiteres nach dem Zimmer ſeiner Tochter hinauf. Klara empfing den Papa mit einem lauten Freudenruf und als er ſie ſo munter und völlig unverändert ſah, glättete ſich ſeine Stirn, die er vorher ſehr zuſammengezogen hatte, und immer mehr, als er nun von ihr ſelbſt hörte, ſie ſei ſo wohl wie immer und ſie ſei ſo froh, daß er gekommen ſei, daß es ihr jetzt ganz recht ſei, daß ein Geiſt im Haus herumfahre, weil er doch daran ſchuld ſei, daß der Papa heimkommen mußte.
„Und wie führt ſich das Geſpenſt weiter auf, Fräulein Rottenmeier?“ fragte nun Herr Seſemann mit einem luſtigen Ausdruck in den Mundwinkeln.
„Nein, Herr Seſemann“, entgegnete die Dame ernſt, „es iſt kein Scherz; ich zweifle nicht daran, daß morgen Herr Seſemann nicht mehr lachen wird, denn was in dem Hauſe vorgeht, deutet auf Fürchterliches, das hier in vergangener Zeit muß vorgegangen und verheimlicht worden ſein.“
„So, davon weiß ich nichts“, bemerkte Herr Seſemann, „muß aber bitten, meine völlig ehrenvollen Ahnen nicht verdächtigen zu wollen. Und nun rufen Sie mir den Sebaſtian in's Eßzimmer, ich will allein mit ihm reden.“
Herr Seſemann ging hinüber und Sebaſtian erſchien. Es war Herrn Seſemann nicht entgangen, daß Sebaſtian und Fräulein Rottenmeier ſich nicht eben mit Zuneigung betrachteten; ſo hatte er ſeine Gedanken.
„Komm' Er her, Burſche“, winkte er dem Eintretenden entgegen, „und ſag' Er mir nun ganz ehrlich: hat Er nicht etwa ſelbſt ein wenig Geſpenſt geſpielt, ſo um Fräulein Rottenmeier etwas Kurzweil zu machen, nu?“
„Nein, meiner Treu, das muß der gnädige Herr nicht glauben, es iſt mir ſelbſt nicht ganz gemüthlich bei der Sache“, entgegnete Sebaſtian mit unverkennbarer Ehrlichkeit.
„Nun, wenn es ſo ſteht, ſo will ich morgen Ihm und dem tapfern Johann zeigen, wie Geſpenſter beim Licht ausſehen. Schäm' Er ſich, Sebaſtian, ein junger, kräftiger Burſch, wie Er iſt, vor Geſpenſtern davonzulaufen! Nun geh' Er unverzüglich zu meinem alten Freund, Doktor Claſſen: meine Empfehlung und er möchte unfehlbar heut' Abend neun Uhr bei mir erſcheinen, ich ſei extra von Paris hergereiſt, um ihn zu conſultiren. Er müſſe die Nacht bei mir wachen, ſo ſchlimm ſei's; er ſolle ſich richten! Verſtanden, Sebaſtian?“
„Ja wohl, ja wohl! der gnädige Herr kann ſicher ſein, daß ich's gut mache.“ Damit entfernte ſich Sebaſtian, und Herr Seſemann kehrte zu ſeinem Töchterchen zurück, um ihr alle Furcht vor einer Erſcheinung zu benehmen, die er noch heute in's nöthige Licht ſtellen wollte.
Punkt neun Uhr, als die Kinder zur Ruhe gegangen und auch Fräulein Rottenmeier ſich zurückgezogen hatte, erſchien der Doktor, der unter ſeinen grauen Haaren noch ein recht friſches Geſicht und zwei lebhaft und freundlich blickende Augen zeigte. Er ſah etwas ängſtlich aus, brach aber gleich nach ſeiner Begrüßung in ein helles Lachen aus und ſagte, ſeinem Freunde auf die Schulter klopfend: „Nu, nu, für Einen, bei dem man wachen ſoll, ſiehſt du noch leidlich aus, Alter.“
„Nur Geduld, Alter“, gab Herr Seſemann zurück; „derjenige, für den du wachen mußt, wird ſchon ſchlimmer ausſehen, wenn wir ihn erſt abgefangen haben.“
„Alſo doch ein Kranker im Haus und dazu einer, der eingefangen werden muß?“
„Weit ſchlimmer, Doktor, weit ſchlimmer. Ein Geſpenſt im Hauſe, bei mir ſpukt's!“
Der Doktor lachte laut auf.
„Schöne Theilnahme, das, Doktor!“ fuhr Herr Seſemann fort; „ſchade, daß meine Freundin Rottenmeier ſie nicht genießen kann. Sie iſt feſt überzeugt, daß ein alter Seſemann hier herumrumort und Schauerthaten abbüßt.“
„Wie hat ſie ihn aber nur kennen gelernt?“ fragte der Doktor immer noch ſehr erheitert.
Herr Seſemann erzählte nun ſeinem Freunde den ganzen Vorgang und wie noch jetzt allnächtlich die Hausthür geöffnet werde, nach der Angabe der ſämmtlichen Hausbewohner, und fügte hinzu, um für alle Fälle vorbereitet zu ſein, habe er zwei gutgeladene Revolver in das Wachtlokal legen laſſen; denn entweder die Sache ſei ein ſehr unerwünſchter Scherz, den ſich vielleicht irgend ein Bekannter der Dienerſchaft mache, um die Leute des Hauſes in Abweſenheit des Hausherrn zu erſchrecken — dann könnte ein kleiner Schrecken, wie ein guter Schuß in's Leere, ihm nicht unheilſam ſein —; oder auch es handle ſich um Diebe, die auf dieſe Weiſe erſt den Gedanken an Geſpenſter aufkommen laſſen wollten, um nachher um ſo ſicherer zu ſein, daß Niemand ſich herauswagte, — in dieſem Falle könnte eine gute Waffe auch nicht ſchaden.
Während dieſer Erklärungen waren die Herren die Treppe hinuntergeſtiegen und traten in dasſelbe Zimmer ein, wo Johann und Sebaſtian auch gewacht hatten. Auf dem Tiſche ſtanden einige Flaſchen ſchönen Weines, denn eine kleine Stärkung von Zeit zu Zeit konnte nicht unerwünſcht ſein, wenn die Nacht da zugebracht werden mußte. Daneben lagen die beiden Revolver, und zwei, ein helles Licht verbreitende Armleuchter ſtanden mitten auf dem Tiſch, denn ſo im Halbdunkel wollte Herr Seſemann das Geſpenſt denn doch nicht erwarten.
Nun wurde die Thür an's Schloß gelehnt, denn zu viel Licht durfte nicht in den Corridor hinausfließen, es konnte das Geſpenſt verſcheuchen. Jetzt ſetzten ſich die Herren gemüthlich in ihre Lehnſtühle und fingen an, ſich Allerlei zu erzählen, nahmen auch hie und da dazwiſchen einen guten Schluck, und ſo ſchlug es zwölf Uhr, eh' ſie ſich's verſahen.
„Das Geſpenſt hat uns gewittert und kommt wohl heut' gar nicht“, ſagte der Doktor jetzt.
„Nur Geduld, es ſoll erſt um ein Uhr kommen“, entgegnete der Freund.
Das Geſpräch wurde wieder aufgenommen. Es ſchlug ein Uhr. Ringsum war es völlig ſtill, auch auf den Straßen war aller Lärm verklungen. Auf einmal hob der Doktor den Finger empor.
„Bſt, Seſemann, hörſt du Nichts?“
Sie lauſchten Beide. Leiſe, aber ganz deutlich hörten ſie, wie der Balken zurückgeſchoben, dann der Schlüſſel zwei Mal im Schloß umgedreht, jetzt die Thür geöffnet wurde. Herr Seſemann fuhr mit der Hand nach ſeinem Revolver.
„Du fürchteſt dich doch nicht?“ ſagte der Doktor und ſtand auf.
„Behutſam iſt beſſer“, flüſterte Herr Seſemann, erfaßte mit der Linken den Armleuchter mit drei Kerzen, mit der Rechten den Revolver und folgte dem Doktor, der, gleichermaßen mit Leuchter und Schießgewehr bewaffnet, voranging. Sie traten auf den Corridor hinaus.
Durch die weitgeöffnete Thür floß ein bleicher Mondſchein herein und beleuchtete eine weiße Geſtalt, die regungslos auf der Schwelle ſtand.
„Wer da?“ donnerte jetzt der Doktor heraus, daß es durch den ganzen Corridor hallte und beide Herren traten nun mit Lichtern und Waffen auf die Geſtalt heran. Sie kehrte ſich um und that einen leiſen Schrei. Mit bloßen Füßen im weißen Nachtkleidchen ſtand Heidi da, ſchaute mit verwirrten Blicken in die hellen Flammen und auf die Waffen und zitterte und bebte wie ein Blättlein im Winde von oben bis unten. Die Herren ſchauten einander in großem Erſtaunen an.
„Ich glaube wahrhaftig, Seſemann, es iſt deine kleine Waſſerträgerin“, ſagte der Doktor.
„Kind, was ſoll das heißen?“ fragte nun Herr Seſemann. „Was wollteſt du thun? Warum biſt du hier heruntergekommen?“
Schneeweiß vor Schrecken ſtand Heidi vor ihm und ſagte faſt tonlos: „Ich weiß nicht.“
Jetzt trat der Doktor vor: „Seſemann, der Fall gehört in mein Gebiet, geh', ſetz' dich für einmal in deinen Lehnſtuhl drinnen, ich will vor Allem das Kind hinbringen, wo es hin gehört.“
Damit legte er ſeinen Revolver auf den Boden, nahm das zitternde Kind ganz väterlich bei der Hand und ging mit ihm der Treppe zu.
„Nicht fürchten, nicht fürchten“, ſagte er freundlich im Hinaufſteigen, „nur ganz ruhig ſein, da iſt gar nichts Schlimmes dabei, nur getroſt ſein.“
In Heidi's Zimmer eingetreten, ſtellte der Doktor ſeinen Leuchter auf den Tiſch, nahm Heidi auf den Arm, legte es in ſein Bett hinein und deckte es ſorgfältig zu. Dann ſetzte er ſich auf den Seſſel am Bett und wartete, bis Heidi ein wenig beruhigt war und nicht mehr an allen Gliedern bebte. Dann nahm er das Kind bei der Hand und ſagte begütigend: „So, nun iſt Alles in Ordnung, nun ſag' mir auch noch, wo wollteſt du denn hin?“
„Ich wollte gewiß nirgends hin“, verſicherte Heidi, „ich bin auch gar nicht ſelbſt hinuntergegangen, ich war nur auf einmal da.“
„So, ſo, und haſt du etwa geträumt in der Nacht, weißt du, ſo, daß du deutlich Etwas ſahſt und hörteſt?“
„Ja, jede Nacht träumt es mir und immer gleich. Dann mein' ich, ich ſei beim Großvater und draußen hör' ich's in den Tannen ſauſen und denke, jetzt glitzern ſo ſchön die Sterne am Himmel und ich laufe geſchwind und mache die Thür auf an der Hütte und da iſt's ſo ſchön! Aber wenn ich erwache, bin ich immer noch in Frankfurt.“ Heidi fing ſchon an zu kämpfen und zu ſchlucken an dem Gewicht, das den Hals hinaufſtieg.
„Hm, und thut dir denn auch Nichts weh, nirgends? Nicht im Kopf oder im Rücken?“
„O nein, nur hier drückt es ſo wie ein großer Stein immerfort.“
„So, etwa ſo, wie wenn man Etwas gegeſſen hat und wollte es nachher lieber wieder zurückgeben?“
„Nein, ſo nicht, aber ſo ſchwer, wie wenn man ſtark weinen ſollte.“
„So, ſo, und weinſt du denn ſo recht heraus?“
„O nein, das darf man nicht, Fräulein Rottenmeier hat es verboten.“
„Dann ſchluckſt du's herunter zum Andern, nicht wahr, ſo? Richtig! Na, du biſt doch recht gern in Frankfurt, nicht?“
„O ja“, war die leiſe Antwort; ſie klang aber ſo, als bedeute ſie eher das Gegentheil.
„Hm, und wo haſt du mit deinem Großvater gelebt?“
„Immer auf der Alm.“
„So, da iſt's doch nicht ſo beſonders kurzweilig, eher ein wenig langweilig, nicht?“
„O nein, da iſt's ſo ſchön! ſo ſchön!“ Heidi konnte nicht weiter; die Erinnerung, die eben durchgemachte Aufregung, das lang verhaltene Weinen überwältigten die Kräfte des Kindes; gewaltſam ſtürzten ihm die Thränen aus den Augen und es brach in ein lautes, heftiges Schluchzen aus.
Der Doktor ſtand auf; er legte freundlich Heidi's Kopf auf das Kiſſen nieder und ſagte: „So, noch ein klein wenig weinen, das kann Nichts ſchaden, und dann ſchlafen, ganz fröhlich einſchlafen, morgen wird Alles gut.“ Dann verließ er das Zimmer.
Wieder unten in die Wachtſtube eingetreten, ließ er ſich dem harrenden Freunde gegenüber in den Lehnſtuhl nieder und erklärte dem mit geſpannter Erwartung Lauſchenden: „Seſemann, dein kleiner Schützling iſt erſtens mondſüchtig, völlig unbewußt hat er dir allnächtlich als Geſpenſt die Hausthür aufgemacht und deiner ganzen Mannſchaft die Fieber des Schreckens in's Gebein gejagt. Zweitens wird das Kind vom Heimweh verzehrt, ſo daß es ſchon jetzt faſt zum Geripplein abgemagert iſt und es noch völlig werden würde; alſo ſchnelle Hülfe. Für das erſte Uebel und die in hohem Grade ſtattfindende Nervenaufregung gibt es nur Ein Heilmittel, nämlich, daß du ſofort das Kind in die heimatliche Bergluft zurückverſetzeſt; für das zweite gibt's ebenfalls nur Eine Medizin, nämlich ganz dieſelbe, demnach reiſt das Kind morgen ab, das iſt mein Rezept.“
Herr Seſemann war aufgeſtanden. In größter Aufregung lief er das Zimmer auf und ab; jetzt brach er aus: „Mondſüchtig! Krank! Heimweh! Abgemagert in meinem Hauſe! das Alles in meinem Hauſe! und Niemand ſieht zu und weiß Etwas davon! Und du, Doktor, du meinſt, das Kind, das friſch und geſund in mein Haus gekommen iſt, ſchicke ich elend und abgemagert ſeinem Großvater zurück? Nein, Doktor, das kannſt du nicht verlangen, das thu' ich nicht, das werde ich nie thun. Jetzt nimm das Kind in die Hand, mach' Kuren mit ihm, mach' was du willſt, aber mach' es mir heil und geſund, dann will ich es heimſchicken, wenn es will, aber erſt hilf du!“
„Seſemann“, entgegnete der Doktor ernſthaft, „bedenke, was du thuſt! Dieſer Zuſtand iſt keine Krankheit, die man mit Pulvern und Pillen heilt. Das Kind hat keine zähe Natur, indeſſen, wenn du es jetzt gleich wieder in die kräftige Bergluft hinaufſchickſt, an die es gewöhnt iſt, ſo kann es wieder völlig geſunden; wenn nicht — du willſt nicht, daß das Kind dem Großvater unheilbar, oder gar nicht mehr zurückkomme?“
Herr Seſemann war erſchrocken ſtehen geblieben: „Ja, wenn du ſo redeſt, Doktor, dann iſt nur Ein Weg, dann muß ſofort gehandelt werden.“ Mit dieſen Worten nahm Herr Seſemann den Arm ſeines Freundes und wanderte mit ihm hin und her, um die Sache noch weiter zu beſprechen. Dann brach der Doktor auf, um nach Haus zu gehen, denn es war unterdeſſen viel Zeit vergangen, und durch die Hausthür, die diesmal vom Herrn des Hauſes aufgeſchloſſen wurde, drang ſchon der helle Morgenſchimmer herein.